Krise der Wissenschaft? – Auswirkungen eines undifferenzierten Krisendiskurses

Wahrscheinlich hat es nie eine Zeit gegeben, zu der das Bewusstsein der Krise nicht allgegenwärtig gewesen ist (und wenn nur aus dem Grund, dass die eigene Zeit als die „goldene“ empfunden wurde und daher umso stärker ihre Krise gefürchtet werden musste). Die Zeiten (in) der Wissenschaft sind von dieser Vermutung nicht ausgenommen: Probleme und Lösungswege nehmen die jeweils andere Stelle ein – aus Problemen werden Lösungen, aus Lösungen werden Probleme -, je nachdem, von welcher Seite des Kontinuums, auf der beide angesiedelt sind, ich sie betrachte. Was sich nunmehr aufdrängt, ist die Frage nach diesem Kontinuum. Ich werde sie auf den folgenden Seiten nicht beantworten – „lösen“ -, da ich mit einer Antwort wohl weniger dieses Kontinuum zu fassen bekomme als schlichtweg einen weiteren Kippspiegel auf ihm abstelle.
Auf den folgenden Seiten wird es mir daher einzig und allein darum gehen, die Stelle zu markieren, an der die Rede von der „Krise der Wissenschaft“ selbst in eine Krise gerät – ihr Spiegel kippt -, zu ihrem und zu unserem Glück, wie mir scheint. Dieses Glück besteht jedoch nicht darin, dass an der Stelle, die ich zu markieren beabsichtige, die „Krise der Wissenschaft“ enden könnte. Im Gegenteil: Sie vervielfacht sich, so jedoch auch ihre „Enden“. Die singuläre Rede von der „Krise der Wissenschaft“ gerät in ihre eigene Krise, da ein Blick auf wissenschaftliche Krisen zeigt, dass sie nur im Plural möglich ist. Wie sieht dieser Plural aus?

Wissenschaften und ihre Krisen
Wenn ich nunmehr Formen der Krise in der wissenschaftlichen Welt der jüngeren Vergangenheit nachzuspüren versuche, werde ich dabei zwei Heuristiken des Umgangs mit wissenschaftlichen Krisen zu unterscheiden lernen: nicht-kontradiktorische und kontradiktorische Heuristiken. Der nun folgende disziplinäre Vergleich zwischen 1.) der Finanzökonomie, 2.) der Chaostheorie und 3.) der Philosophie wird den Unterschied beider Heuristiken aufzeigen.

1.) Die Bestimmung der Werthaftigkeit von Handelswaren hat seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ihren zentralen Ausgangspunkt verloren: die Unterscheidung zwischen einem eigentlichen Wert von Waren im Gegensatz zu ihrem bloßen Umlaufswert. Die forschungsleitende Frage von ökonomischer Theorie – was ist der korrekte Wert einer Arbeitsstunde, eines Hektars Boden etc. im Gegensatz zu dem, was für sie momentan bezahlt wird? – hat damit den Maßstab verloren, der ihre Klärung geleitet hat. Dieser Verlust leitet den Übergang von der klassischen Ökonomie hin zur Neoklassik innerhalb der Volkswirtschaftslehre ein.[1] Die Volkswirtschaftslehre und die Frage der Bestimmbarkeit von Wertveränderungen verfällt zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht in ein existentielles Schweigen, im Gegenteil. Dieses Gegenteil findet sich exemplarisch in der Finanztheorie.
In einem im Jahr 1952 veröffentlichten Artikel kreierte der spätere Wirtschaftsnobelpreisträger Harry Markowitz als damals 25-Jähriger Postgraduatestudent eine Theorie über das risikolose Erstellen von Wertpapierportfolios. Seine Theorie „hat eigentlich für alle späteren finanztheoretischen Arbeiten den Grundstein gelegt und mit der Zeit ebenfalls eine ganze Reihe von Techniken für die Praxis ermöglicht […]”.[2] Der Witz von Markowitz´ Theorie liegt darin, dass sie die Spannbreite der möglichen zukünftigen Preisveränderungen der einzelnen Wertpapiere als normalverteilt annimmt. Dadurch macht er sie statistisch handhabbar, ohne dass er auf das Konzept eines „eigentlichen Wertes“ zurückgreifen müsste, um von diesem her Preisveränderungen abzuleiten.[3] „Ihre besondere Bedeutung hat die Normalverteilung deshalb erlangt, weil viele Zufallsvariablen, die bei Experimenten und Beobachtungen in der Praxis auftreten, exakt oder zumindest annähernd normalverteilt sind“.[4]
Wie genau diese Verteilung aussieht, ist im Rahmen meines Essays vernachlässigbar. Hervorzuheben ist dagegen, dass über das vermeintliche Wissen über die Art der Verteilung von Zufallsvariablen deren Zufälligkeit gebannt werden kann. Die genauen Veränderungen der einzelnen Zufallsvariable lassen sich zwar noch immer nicht vorhersagen, dagegen jedoch lässt sich der Bereich eingrenzen, in dem diese Veränderungen liegen müssen. Auf diesem Modell aufbauend, plädiert Markowitz nun für die Diversifikation des gesamten Portfolios als Heuristik des Umgangs mit den Risiken der einzelnen Wertpapiere. Diese Diversifikation muss aufgrund des Modells der Normalverteilung der einzelnen Wertpapiere dazu führen, dass sich die Risiken einzelner Wertpapiere gegenseitig aufheben.
Markowitz´ Strategie, mit dem Scheitern des Konzeptes eines „eigentlichen Wertes“ umzugehen, das die Preisveränderungen einzelner Wertpapiere vorhersagbar machen sollte, ist eine Heuristik des Identifikationsgewinns durch Diffusion. Was heißt das? Die Preisschwankungsbreite einzelner Wertpapiere ist zwar durch seine Heuristik weiterhin nicht genau identifizierbar; identifizierbar ist dagegen jedoch – dank Annahme der Normalverteilung der möglichen Preisveränderungen – die mögliche Schwankungsbreite der Wertpapiere. Sie wird nunmehr wieder mathematisch in Form von wahrscheinlichkeitstheoretischen Risikomodellen identifizierbar, berechenbar und somit kalkulierbar.[5] Die Finanztheorie kann aufgrund dieses konservativen Schachzugs dort eine Ordnung erkennen, wo ungeübte Börsenbeobachter nur Zufälle sehen.
2.) Einsteins spezielle Relativitätstheorie lässt auf makrokosmischer Ebene, Heisenbergs Unschärferelation auf mikrokosmischer Ebene das von Newton standardisierte Paradigma physikalischer Prozesse empiriefremd zurück. „Ihre Aussagen stellten Grundpfeiler des klassischen Weltbildes radikal in Frage, nämlich den absoluten Raum Newtons und die Euklidische Geometrie“, sowie die Annahme der Stetigkeit physikalischer Prozesse.[6] Diese Verunsicherung gegenüber den altehrwürdigen Prinzipien ist ebenfalls der Effekt eines 1963 vom Meteorologen Edward Lorenz veröffentlichten Artikels. Lorenz und seine Mitarbeiter stoßen dort zufälligerweise auf die exponentielle Bedeutung marginaler Nachkommastellenveränderungen bei der Vorhersage von Wetterprozessen.[7]
Die Eigenheit dieses Artikels liegt im Gegensatz zu Einsteins spezieller Relativitätstheorie jedoch nicht darin, dass er grundsätzliche Gleichungen der newtonschen Physik verändert. Sie liegt dagegen darin, dass der Artikel die Bedeutung minimaler Veränderungen beim Einsetzen von Werten in die Gleichungen, mit denen Systeme wie Wetterveränderungen berechnet werden sollen, verdeutlicht. Der Effekt aber ist der gleiche: Es entstehen Zweifel an der Tragfähigkeit der Leitlinien des klassischen physikalischen Paradigmas, denn dieses verspricht die prinzipiell problemlose Vorhersagbarkeit physischer Prozesse. Die Bedingung dieses Versprechens ist das Erstellen der korrekten Gleichungen samt Einsetzen der genauen Ausgangswerte. Der Maßstab für die Genauigkeit der Ausgangswerte steigt nun jedoch ins Phantastische, wie Lorenz erkannt hat. Minimale Veränderungen in den Ausgangswerten können – so bei Wetterphänomenen – auf lange Sicht zu erheblich divergierenden Resultaten führen (Stichwort „Schmetterlingseffekt“).
Bekanntlich war dies jedoch nicht das Ende physikalischer Rechenspiele. Die Chaostheorie, die mit Bezug auf Lorenz` Artikel in die Welt tritt, formiert sich als Reaktion auf eben diese Berechenbarkeitsproblematik. Ihre Taktik ist die Suche nach regelmäßigen Zyklen innerhalb der zeitlichen Veränderungen von Systemen wie Wetterveränderungen, Populationsgrößen etc. Die erhoffte Regelmäßigkeit dieser Systeme soll darin bestehen, dass deren zeitliche Veränderungen sich im Laufe ihres Fortschreitens einem sgn. „Attraktor“ annähern: einem Zielwert, Anziehungspunkt, „Magnet“ dieser Veränderungen. „Hinter dem Begriff Attraktor, der oben stillschweigend eingeführt wurde, verbirgt sich nichts Geheimnisvolles. Es wird nur die einfache Tatsache ausgedrückt, daß die Trajektorien [Bewegungsbahnen] von einem bestimmten geometrischen Gebilde, der sogenannten Attraktormenge, irreversibel angezogen werden. In diesem Sinne ist die Erde ein Attraktor für die Bewegung von Steinen, Flugkörpern, Kometen usw., der Ozean ein Attraktor für die Bewegung der Bäche und Flüsse“.[8]
Dieser Attraktor kann einem Punkt, einem Torus oder – so oftmals in Bezug auf nicht-lineare (scheinbar chaotische) Systeme – einem Fraktal ähneln. Letzteres ist eine Entdeckung der chaostheoretischen Forschung. Ein Fraktal ist ein in seiner Geometrie selbstähnliches Gebilde. Seine Teile kopieren jeweils in sich selbst die Struktur des Gesamtgebildes, von dem sie einen Teil bilden (z.B. ähnelt die Struktur einer einzigen Bergspitze der Gesamtstruktur einer Gebirgskette).[9] Der Begriff des „Attraktors“ bringt also auf konventionelle Art und Weise Ordnung in die Unordnung: Er versucht die Berechenbarkeit scheinbar unberechenbarer, da chaotisch anmutender Systeme sicher zu stellen.
Besteht Markowitz` Heuristik des Scheiterns in einem, wie ich es nannte, Identifikationsgewinn durch Diffusion, so ähnelt die chaostheoretische Suche nach Attraktoren einem Identifikationsgewinn durch Rhythmisierung. Die Beobachtung der zeitlichen Prozesse eines Systems wird nicht, wie bei Markowitz, anhand eines statistischen Möglichkeitsraumes intendiert. Sie wird intendiert anhand der Suche nach einer systemischen Richtungsorientierung, die sich in den systemeigenen Prozessen möglichst abzeichnen soll. Zumindest dann, wenn das System trotz seiner Nicht-Linearität – seinem „Chaos“ – noch als „regelmäßig“ bezeichnet werden kann.
3.) Nietzsche schreibt zu Beginn von „Jenseits von Gut und Böse“: “Der Wille zur Wahrheit […], jene berühmte Wahrhaftigkeit, von der alle Philosophen bislang mit Ehrerbietung geredet haben: was für Fragen hat dieser Wille zur Wahrheit uns schon vorgelegt!“ Daraufhin gibt er zu denken, ob es nicht an der Zeit ist, „endlich einmal misstrauisch [zu] werden, die Geduld [zu] verlieren, uns ungeduldig um[zu]drehn? Dass wir von dieser Sphinx auch unserseits das Fragen lernen“?[10] Wenn Nietzsche dies fragt, dann spricht er die Quintessenz dessen aus, woran sich die Philosophie des 20./21. Jahrhunderts messen lassen will: Die Herausforderung, trotz des Misstrauens in die Leitlinien der abendländischen Philosophie nicht in schweigende Verzweiflung zu verfallen.
Diese Herausforderung besteht darin, Fragen stellen zu lernen, die von dieser Tradition noch unbelastet sind – und deren Krise daher unbeschadet überstehen können. Dies ist nach Nietzsche u.a. auf drei paradigmatische Arten und Weisen versucht worden. Karl Jaspers untersucht das Scheitern der traditionellen Leitlinien von Philosophie mit Blick auf das Individuum, das es diagnostiziert. Ludwig Wittgenstein untersucht es mit Blick auf die Sprache dieses Individuums. Martin Heidegger untersucht es in Relation zur Möglichkeit seiner Fundamentalisierung.
Jaspers formuliert paradigmatisch die erste der drei philosophischen Versuche aus, auf Phänomene wie Ungewissheit und Komplexität zu antworten. Er stellt die existenzialistische Frage nach dem persönlichen Umgang mit diesen Phänomenen: Wie geht der Einzelne mit dem Fehlen der traditionellen Orientierungsmarken um? „Die Grenzsituationen – Tod, Zufall, Schuld und die Unzuverlässigkeit der Welt – zeigen mir das Scheitern. Was tue ich angesichts dieses absoluten Scheiterns, dessen Einsicht ich mich bei redlicher Vergegenwärtigung nicht entziehen kann“? Jaspers Antwort lautet: „Der Mensch sucht Erlösung. Erlösung wird geboren durch die großen, universalen Erlösungsreligionen. Ihr Kennzeichen ist eine objektive Garantie für die Wahrheit und Wirklichkeit der Erlösung. Ihr Weg führt zum Akt der Bekehrung des Einzelnen. Dies vermag die Philosophie nicht zu geben. Und doch ist alles Philosophieren ein Weltüberwinden, ein Analogon der Erlösung“.[11] Der einzelne, orientierungssuchende Mensch gerät bei Jaspers in den Fokus, nicht die zeitlosen, objektiven Orientierungsmarken, die er zu erkennen versucht. Deren Fehlen wird ja gerade vorausgesetzt. Somit fehlt jedoch die zentrale Bezugsgröße, um die einzelnen Orientierungsleistungen der sinnsuchenden Individuen endgültig zu bewerten. Die Orientierungsversuche der einzelnen Individuen bilden somit jeweils Bezugsrahmen für sich selbst.
Mit Ludwig Wittgenstein haben wir die zentrale Referenzfigur der sprachreflexiven Reaktion auf die Krise des traditionellen Philosophieparadigman – und somit auf Ungewissheit und Komplexität – vor uns. Stellt Jaspers das fragende Subjekt ins Zentrum seines Interesses, so nimmt in Wittgensteins „Philosophischen Untersuchungen“ die Sprache, in der das Individuum seine Fragen stellt, diese Rolle ein: “Wenn ich in der Sprache denke, so schweben mir nicht neben dem sprachlichen Ausdruck noch >Bedeutungen< vor; sondern die Sprache selbst ist das Vehikel des Denkens“.[12] Wenn Sprache das Vehikel des Denkens ist, so kann Denken nur noch in Relation zu der Sprache untersucht werden, die die Gedanken formuliert. Die jeweiligen Unterschiede zwischen den sprachlichen Gewohnheiten von verschiedenen Gruppen stehen nun aber unverbunden nebeneinander. Wittgenstein nimmt der Philosophie infolge dessen die zentrale traditionelle Bezugsgröße, um sprachliche Idiosynkrasien zu ordnen: als fehlerhafte „Abweichung“ oder korrekte „Repräsentation“ von Gedanken bzw. von der Welt. „Gedanken“ bzw. „Welt“ sind ja bei Wittgenstein gerade keine sprachunabhängigen Größen mehr, sie können daher auch nicht weiter als unabhängige Richter über sprachliche Gewohnheiten urteilen.
Es bleibt schließlich Martin Heidegger als diejenige Figur, die die scheinbare Vordergründigkeit des Individualismus eines Jaspers und der Sprachfixierung Wittgensteins korrigieren will. Dem Versäumnis der traditionellen Philosophie stellt er bekanntermaßen eine Radikalisierung der Frage nach dem Sein des Seienden entgegen.[13] Diese Frage soll in einem gereinigten Neubeginn, in einem anderen Anfang münden: „Der Anfang ist das Sichgründende Vorausgreifende; sich gründend in den durch ihn er-gründeten Grund; vorausgreifend als gründend und deshalb unüberholbar. Weil jeder Anfang unüberholbar ist, deshalb muß er stets wiederholt werden, in der Auseinandersetzung in die Einzigkeit seiner Anfänglichkeit und damit seines unumgehbaren Vorgreifens gesetzt werden. Diese Auseinandersetzung ist dann ursprüngliche, wenn sie selbst anfänglich ist, dies aber notwendig als anderer Anfang“.[14] Im Plural von anderen Anfängen zu sprechen, relativiert jedoch gleichzeitig den traditionellen Anfang, dem Philosophie bislang, so Heidegger, gefolgt ist. Diese Relativierung resultiert in dem Nebeneinander und zeitlichen Aufeinander verschiedener zeitlich (und räumlich?) lokalisierbarer Anfänge. Einen speziellen unter ihnen nun jedoch mit Bezug auf scheinbar zeitlose Gründe hervorzuheben, wird aufgrund der Frageperspektive Heideggers nun unglaubwürdig: Er betont die „unumgehbare“ „Einzigkeit“ jedes Anfangs, wie das obige Zitat demonstriert. Die Einzigkeit jedes Anfangs impliziert jedoch dessen Unabhängigkeit von den Maßstäben aller anderen Anfänge, egal wie ernst diese sich auch nehmen.
Jaspers, Wittgenstein und Heidegger scheinen drei grundsätzlich disparate Antworten auf das Misstrauen in die traditionellen Leitlinien der abendländischen Philosophie zu geben. Alle drei verbindet jedoch eine grundsätzliche Gemeinsamkeit: die grundsätzliche Abkehr von der Suche nach einer stets zu priorisierenden Bezugsgröße philosophischen Fragens, Theoretisierens und Kritisierens. Alle drei weisen auf eine Pluralisierung der philosophischen Bezugsgrößen hin.
Die Gemeinsamkeit von existenzialistischer, sprachreflexiver und seinsgeschichtlicher Philosophie besteht darin, dass alle drei aus der Unmöglichkeit von Allgemeinheit zur Allgemeinheit des Besonderen fliehen. Was bedeutet das? Statt übergeordnete, zeitlose Maßstäbe der Bewertung zu suchen, lassen alle drei ihre jeweiligen Ausgangsphänomene für sich selbst sprechen. Diese Ausgangsphänomene können die existenzialistische Sinnsuche eines Individuums, die Sprachgewohnheiten einer Gruppe oder der andere Anfang einer Seinsepoche sein.
Diese Verabsolutierung der konkreten Ausgangsphänomene kommt einer Verabsolutierung einer pluralistischen Ausgangslage gleich. Die spezifischen Unterschiede zwischen den Ausgangsphänomenen – zwischen verschiedenen Sinnsuchern, Sprechenden oder Seinsepochen – sind nicht durch eine allgemeine Bezugsgröße erklärbar, kategorisierbar oder kritisierbar. Die Existenz eines Richtwerts für gelingende Sinnsuche, für gelingende Übersetzbarkeit von Sprachgewohnheiten zwischen Gruppen oder gelingende Vorhersagen über das Aufeinanderfolgen von Seinsepochen wird fragwürdig.
Dieses pluralitätstolerante Denken, dass die Eigenartigkeit des spezifischen Ausgangsphänomens als nicht hintergehbar betrachtet, steht im Gegensatz zu der philosophischen Tradition, von der sich Jaspers, Wittgenstein und Heidegger abgrenzen. Die Tradition, von der sie sich abgrenzen, kennt Eigenartigkeit zunächst nur als fehlerhaftes Abweichen von einem absoluten Standard: von der einen Ordnung der Welt; von der Sprache, die diese Ordnung zu fassen vermag und der universellen Geltungsweite dieser Ordnung.
Einen solchenBruch mit der eigenen Tradition finden wir weder in der Finanztheorie noch in der Chaostheorie, da sie beide, trotz ihrer oben genannten spezifischen Unterschiede, keinen grundsätzlichen Bruch mit den Leitlinien ihres disziplinären Paradigmas vollziehen. Moderne Finanztheorie intendiert mittels Wahrscheinlichkeitsrechnung die Vorhersagbarkeit der Preisveränderung von einzelnen Wertpapieren selbst wiederum im Rahmen von Rechenkalkülen zu ermöglichen. Die chaostheoretische Attraktormetapher bildet ein ebensolches Rechenkalkül. Kurz: Die Eigenheit der philosophischen Heuristiken der drei Philosophen besteht in der Abkehr vom traditionellen Paradigma ihrer Disziplin. Sie kehren dieses Paradigma um: Pluralität statt Reduktion. Weder finanzökonomische noch physikalische Theorie teilt diese Umkehrung.
Der Unterschied zwischen beiden Heuristiken besteht in der Art und Weise, wie sie auf die Phänomene reagieren, die das traditionelle Paradigma in Schwierigkeiten gebracht haben. Die kontradiktorische Heuristik ist eine passive bzw. negative Heuristik. Dem Scheitern ihres traditionellen Paradigmas begegnet sie durch Umkehrung von dessen Leitmotiven. Mit anderen Worten: Die kontradiktorische Heuristik gibt ihr traditionelles Paradigma auf. Die fehlerhaften Abweichungen von diesem Paradigma, die zuvor noch zu entschärfen waren, werden nun zum neuen regulativen Ideal. Sie gilt es jetzt zu pflegen. Der Pluralismus innerhalb von Ausgangsphänomenen (z.B. die Sinnsuche eines Individuums bei Jaspers), der zuvor als fehlerhaftes Abweichen vom Ideal aufgetreten ist (von der göttlichen Ordnung), tritt nun als unvermeidbar auf (Fehlen einer göttlichen Ordnung). Diese Unvermeidbarkeit wird jedoch nicht negativ konnotiert, im Gegenteil (jeder besitzt das Recht, sein Leben an eigenen Maßstäben zu orientieren). Zusammengefasst bedeutet das: Der Grund des bisherigen Scheiterns wird zum Grund zukünftigen Erfolgs.
Die nicht-kontradiktorische Heuristik dagegen ist eine aktive Heuristik, deren Aktivität darin besteht, Ambiguitäten und Unsicherheiten innerhalb ihres traditionellen Paradigmas (z.B. als Risiko oder Attraktor) zu reformulieren, ohne das Paradigma aufzugeben. Die Leitunterscheidungen des klassischen Paradigmas werden nicht umgekehrt. Die Gründe für die Schwierigkeiten des klassischen Paradigmas werden nicht zum neuen regulativen Ideal. Sie gilt es nicht zu pflegen. Sie werden nicht zum Grund zukünftigen Erfolgs. Sie gilt es weiterhin zu entschärfen. Der Pluralismus innerhalb der beobachteten Phänomene (z.B. Wertveränderungen von Wertpapieren) bleibt ein Abweichen vom Ideal (Vorhersagbarkeit einzelner Veränderungen), dessen ordnungsgebende Kraft nun jedoch mit anderen Mitteln sichergestellt werden muss (Postulierung der Spannbreite möglicher Veränderungen).

Krise vs. Krisen: Die Auswirkungen eines undifferenzierten Krisendiskurses

Form der Rede von der „Krise der Wissenschaft“ scheitert an ihrer Form; ihre Form scheitert an der Formlosigkeit wissenschaftlicher Heuristiken des Umgangs mit wissenschaftlichen Krisen. Mit anderen Worten: Die Rede von wissenschaftlichen Krisen, Krisen der Wissenschaft, ist nur im Plural möglich und verliert durch diesen Plural ihre Konturen. Sie oszilliert zwischen Formen des Strandens und des Scheiterns, Krisen des wissenschaftlichen agens und patiens. Sie oszilliert zwischen verschiedenen Reaktionen auf diese Krisen: kontradiktorische und nicht-kontradiktorische Reaktionen.
Diese Ausdifferenzierung wissenschaftlicher Krisis-Typen und ihrer Heuristiken lässt sich selbst nicht mehr vereinheitlichen. Genau genommen (und natürlich überspitzt ausgedrückt) heißt das: Es gab nie eine Krise der Wissenschaft, weil es nur Krisen von Wissenschaften gegeben hat. Es gab dementsprechend genauso wenig eine Reaktion auf die Krise der Wissenschaft, weil es nur Reaktionen auf (verschiedene) Krisen von (verschiedenen) Wissenschaften gab.
Ist diese Feststellung, auf die es mir hier ankommt, banal? Ich hoffe, sie ist es. Mir scheint, der Unterschied zwischen Singular und Plural ist in diesem Fall mehr als ein sprachlicher. Die Form der Frage – und damit die Möglichkeit einer Zukunft -, die eine singuläre Krisendiagnose provoziert, wirkt apokalyptischer als die Form(en) der Frag(en), die das Bewusstsein der Pluralität von Krisenerscheinungen provoziert/ provozieren. Letzteres entspannt den Blick. Es lässt das Problem des wissenschaftlichen Neubeginns, der Rehabilitierung eines Forschungsparadigmas, der methodischen Rekonfiguration unproblematischer erscheinen, weil es um die Mannigfaltigkeit an Neuanfängen, Paradigmen und Konfigurationen weiß. Es wiegt sich in einer (geschichtlich, nicht logisch verbürgten) Gewissheit. Diese Gewissheit kann ohne Frage trügerisch sein. Ich denke jedoch nicht, dass diese Gefahr vermeidbar ist: Wäre sie vermeidbar, wäre die Krisendiagnose grundlos, wäre die Krise keine Krise.
An diesem Punkt angekommen, scheint die singuläre Rede der „Krise der Wissenschaft“ selbst in eine Krise zu geraten, was nicht weiter schlimm wäre. Schlimmer dagegen wäre es, die Differenzierung verschiedener Krisis-Typen zu übersehen oder vereinheitlichen zu wollen. Dies wäre in meinen Augen schlimmer, da es den Spuren einer Gewissheit, wie ich sie gerade versucht habe in ihren Konturen anzudeuten, den Grund nimmt, auf dem sie sich einprägen. Mehr noch: Das krude Gegenüber von selbstbewussten, funktionierenden und unerschütterten Forschungsprogrammen einerseits und ihren bemitleidenswerten Verfallsformen andererseits lässt, wie so viele andere Dualismen, die eine Seite dieses Gegenübers als den zu bevorzugenden Prototyp erscheinen. Je stärker die Grenze zwischen den getrennten Seiten dieses Gegenübers gezogen wird, desto stärker erscheinen beide Seiten als ein Gegenüber.
Wenn mein Versuch, in diesem Essay durch den Vergleich finanztheoretischer, chaostheoretischer und philosophischer Krisendiagnosen und -heuristiken einem Zweck dienlich sein sollte, dann den Blick auf die allgegenwärtige Diskussion über die „Krise der Wissenschaft“, Krisen der Wissenschaften, zu verschieben. Genauso wenig, wie wir es mit einer Form von Wissenschaft zu tun haben, so wenig haben wir es mit einer Form der Reaktion auf Krisen von Wissenschaften zu tun. Das krude Gegenüberstellen von prosperierender Wissenschaft einerseits, Krise und Reaktion auf diese Krise andererseits verstellt den Blick auf die Mannigfaltigkeit dessen, was „prosperierend“, „Krise“ und „Reaktion“ bedeuten kann. Der Vergleich all der unterschiedlichen Bedeutungen, die diese Begriffe verkörpern können, so wie ich es in diesem Essay ansatzweise angedeutet habe, weicht die Grenzen zwischen diesem kruden Gegenüber auf und macht den Blick frei für das Spektrum der Differenzierungen, die es verstellt.
Dieser freie Blick sollte einen Aspekt unbefangener erkennen können: Was hier als Krise erscheint, ist dort die Lösung; was sich hier als Gefahr zeigt, bedingt dort die Möglichkeit einer wissenschaftlichen Zukunft. Kurz: Krisen bilden nicht den Gegensatz funktionierender Wissenschaften, sondern ihren Rückhalt, ihre Ressource. Wenn auch einer anderen Wissenschaft, in aller Ambiguität dieses Wortes (das in manchen Fällen auch die eigene Wissenschaft meinen kann – als eine andere). Wenn, wie ich zu Beginn dieses Essays vermutet habe, es keine Zeit – und somit keine Wissenschaft – gegeben hat, die nicht ihr eigenes Krisenbewusstsein gepflegt hat, so bin ich am Ende meines Essays an dem Punkt angelangt, die Stelle markieren zu können, an dem sich dieses Bewusstsein als ein Kippspiegel erweist. Es ist die gleiche Stelle, die die Rede von wissenschaftlicher Krise im Singular von der Rede von wissenschaftlichen Krisen im Plural trennt: Die Rede von der „Krise der Wissenschaft“ im Singular ist es, die in all den wissenschaftlichen Krisen erst gefährlich wird – und zwar mehr als diese Krisen ihren eigenen Wissenschaften. Der Grund dafür lässt sich nunmehr in einem Satz zusammenfassen: Die Rede von einer „Krise der Wissenschaft“ lässt wissenschaftiche Krisen zwarnicht (im Sinne eines vulgären Konstruktivismus) entstehen, es verstellt jedoch den Blick auf die Mannigfaltigkeit von Krisenheuristiken – und somit auf die Bandbreite an Wegen, aus und in Krisen neue Lösungen zu entwickeln.

Literaturverzeichnis
Bernstein, Peter L. 1998; Wider die Götter. Die Geschichte von Risiko und Risikomanagement von der Antike bis heute. München, Gerling Akademie.
Bhide, Amar 2010; A Call for Judgment. Sensible Finance for a Dynamic Economy. New York, Oxford University Press.
Bontrup, Heinz-Josef 2004; Volkswirtschaftslehre. Grundlagen der Mikro- und Makroökonomie. München-Wien, Oldenbourg.
Davidson, Paul 2010; Risk and Uncertainity. In: The Economic Crisis And The State Of Economics. Skidelsky, R. / Wigström, C. W. (Hrsg.), New York, Palgrave Macmillan, S.13-31.
Ebeling, Werner 1991; Chaos, Ordnung, Information. Selbstorganisation in Natur und Technik. Frankfurt/Main-Thun, Harry Deutsch.
Heidegger, Martin 2008; Identität und Differenz. Stuttgart, Klett-Cotta.
Heidegger, Martin 1989; Beiträge zur Philosophie (Vom Ereignis). Frankfurt/Main, Vittorio Klostermann.
Jaspers, Karl 1963; Einführung in die Philosophie. München, Piper.
Kinnebrock, Werner 2002; Bedeutende Theorien des 20. Jahrhunderts. Ein Vorstoß zu den Grenzen von Berechenbarkeit und Erkenntnis. München-Wien, Oldenbourg.
Nietzsche, Friedrich 1968; Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral (1886-1887). Berlin, Walter de Gruyter & Co.
Stiefls, Jürgen 2011; Wirtschaftsstatistik. München-Wien, Oldenbourg.
Wittgenstein, Ludwig 2003; Philosophische Untersuchungen. Frankfurt/Main, Suhrkamp.


[1] Vgl. Bontrup 2004, S. 396 f.
[2] Bernstein 1998, S. 326.
[3] Vgl. Bhide 2010, S. 121 ff.
[4] Stiefl 2011, S. 117.
[5] Vgl. Davidson 2010, S. 13-31.
[6] Kinnebrock 2002, S. 22.
[7] Vgl. Ebeling 1991, S. 31 ff.
[8]Vgl. ebd., S. 33.
[9] Vgl. Kinnebrock 2002, S. 119 ff.
[10]Nietzsche 1968, S. 9.
[11] Jaspers 1963, S. 23 f.
[12] Wittgenstein 2003, S. 174.
[13] Heidegger 2008, S. 31.
[14] Heidegger 1989, S. 55.

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