Kriegsverbrechen, Schuld und Sühne – oder auch nicht

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Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine wird wieder intensiver über Kriegsverbrechen und Kriegsverbrecher gesprochen, vermutlich weil Tod und Zerstörung plötzlich wieder so nah an Deutschland herangerückt sind. Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag will so schnell wie möglich Untersuchungen einleiten, inwieweit durch Angriffe auf zivile Ziele Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit verübt worden sind. In den Medien wird der russische Präsident bereits als Kriegsverbrecher Nummer eins gehandelt, aber einfach wird die juristische Aufarbeitung sicher nicht werden, denn Russland erkennt das Gericht ohnehin nicht an und die Ukraine ist kein Vertragsstaat, hat allerdings seit November 2013 dessen Zuständigkeit akzeptiert. Solange selbst so große Auseinandersetzungen wie im Irak, in Syrien und Afghanistan oder die unzähligen kleineren in Afrika und Lateinamerika weit genug entfernt waren, haben wir uns kaum aus der Ruhe bringen lassen und außer nach dem Bosnienkrieg auch wenig über Kriegsverbrechen nachgedacht. Selbst einer der letzten Prozesse zur Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit gegen die KZ-Sekretärin Irmgard F. am Landgericht Itzehoe, fast 77 Jahre nach Kriegsende, hat die deutsche Öffentlichkeit nicht gerade aufgerüttelt.
Wird Präsident Putin irgendwann zur Rechenschaft gezogen werden? Vieles ist in dieser Krise möglich geworden, etwa der überraschende Politikwechsel zur Stärkung der Bundeswehr, aber dass Putin ähnlich wie Hitler oder Mussolini enden könnte scheint jetzt noch ziemlich unvorstellbar. Nach einem politischen Umsturz in Russland sieht es ebenfalls noch nicht aus, obwohl ein solcher viele internationale und regionale Probleme auflösen könnte, wenn es mit Putins Nachfolgern nicht womöglich noch unberechenbarer und schlimmer wird.

Europas Nachkriegsgeschichte mag in Erinnerung rufen, was mit Tätern und Mitläufern passieren kann und wie groß oder gering die Bereitschaft und der Wille zur moralischen und juristischen Aufarbeitung im Einzelfall sind. Thornton Wilders Erfolgsstück „The Skin of Our Teeth”, 1942 uraufgeführt und ein Jahr später mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet, wurde nach dem Krieg auch in zahlreichen deutschen Theatern gespielt. Sein Thema, das prekäre Überleben der Menschheit, und der geniale deutsche Titel „Wir sind noch einmal davongekommen“ traf offenbar die Stimmungslage der Generation, die den Krieg und die Niederlage überlebt hatte und die schrecklichen Seiten des Dritten Reichs nur zu gern verdrängte. Daraus ergab sich allerdings nicht nur die von Alexander und Margarethe Mitscherlich 1967 diagnostizierte „Unfähigkeit zu trauern“, sondern auch eine äußerst schleppende gerichtliche Verfolgung von Kriegsverbrechern und am Holokaust beteiligten KZ-Mannschaften. Am Entnazifizierungsprogramm der Amerikaner beteiligte Offiziere stellten resignierend fest, dass die von ihnen verhörten Deutschen fast alle leugneten, Nazis gewesen zu sein. Allerdings schauten Amerikaner und Russen selbst nicht mehr so genau hin, wenn sie Ingenieure, Wissenschaftler und Experten aus kriegswichtigen Bereichen für ihre eigenen Entwicklungsprogramme übernehmen konnten, darunter den Raketenexperten Wernher von Braun als einen der bekanntesten. Reinhard Gehlen, eine weitere prominente Übernahme, wurde in der Wehrmacht als Leiter der Abteilung Fremde Heere Ost zum Experten für die Sowjetunion. Weil er den kommenden Kalten Krieg richtig vorausgesehen und schon vor Kriegsende eine Zusammenarbeit mit den Amerikanern vorbereitet hatte, entging er Gefangenschaft und Entnazifizierung. Seine „Organisation Gehlen“ wurde 1949 von der CIA übernommen und ging dann Anfang der 1950er Jahre in den Bundesnachrichtendienst über, seit 1956 unter dem Präsidenten Reinhard Gehlen. Seine Hilfestellung für die vielfältigen Seilschaften alter Nazis wurde sowohl von den Amerikanern als auch von der jungen Bundesrepublik ignoriert, da der Kampf gegen den sowjetischen Kommunismus inzwischen wichtiger geworden war als die Nazi-Vergangenheit. Aber Tausenden von Schuldigen war bereits die Flucht nach Lateinamerika gelungen, meistens über Wien und Rom, wo der österreichische Bischof Alois Hudal, ein Antisemit und antikommunistischer Verehrer Hitlers, seine Hand über die Weiterreise hielt. Je nach der politischen Sichtweise sprach man von „Rattenlinie“ oder „Reichsfluchtstrecke“. Unter den prominentesten Nazi-Schergen, denen so die Flucht gelang, waren Adolf Eichmann, Josef Mengele, Franz Stangl, Alois Brunner, Walter Rauff und Klaus Barbie. Der Fall Klaus Barbie war besonders grotesk, weil der „Schlächter von Lyon“ vom amerikanischen Counter Intelligence Corps nach Bolivien gebracht wurde, um dort das Militärregime in der Bekämpfung mutmaßlicher Kommunisten zu beraten. Erst durch die beharrlichen Recherchen des Holokaust-Überlebenden Simon Wiesenthal und eine Reihe jüdischer Organisationen konnten die Entkommenen nach vielen unbehelligten Jahren in Argentinien, Brasilien oder Chile doch noch zur Rechenschaft gezogen werden.

In Deutschland wurde 1968 durch die spektakuläre öffentliche Ohrfeige, die Beate Klarsfeld dem Bundeskanzler Kiesinger versetzte, eine neue Welle der Auseinandersetzung mit der Nazi-Vergangenheit ausgelöst, die auch eins der Grundthemen der Achtundsechziger-Bewegung wurde. Aber erst nach 2011 begann die deutsche Justiz, auch mittlere und kleinere „Rädchen“ im Holokaust-Betrieb zu verurteilen, angefangen mit dem Ukrainer Demjanjuk, der 2011 zu vier Jahren Gefängnis verurteilt wurde aber vor Antritt der Strafe verstarb, oder Oskar Gröning, der in Auschwitz als Buchhalter tätig war und 2018 im Alter von 96 Jahren ebenfalls vor Antritt der Haft verstarb. Möglich geworden sind diese Verurteilungen durch eine 2016 vom Bundesgerichtshof bestätigte erweiterte Tatbestandsdefinition der Beihilfe zum Mord in den Konzentrationslagern. Wer demnach hätte erkennen müssen, dass dort systematische Tötungen stattfanden, machte sich mitschuldig, auch wenn er oder sie nicht unmittelbar beteiligt war. Zurzeit läuft am Landgericht Itzehoe der Prozess gegen die ebenfalls 96-jährige Irmgard F., die von 1943 bis 1945 im KZ Stutthof als Sekretärin des Lagerkommandanten gearbeitet hatte, bei Kriegsende 19 Jahre alt, damals also auch noch minderjährig. Ob die Leiden der 11.000 Opfer, zu deren Ermordung ihr Beihilfe vorgeworfen wird, durch eine Verurteilung der Greisin gesühnt werden können bleibt eine offene Frage. Jüdische Überlebende von Stutthof sind geteilter Meinung, ob diese Prozesse richtig und nur zu spät oder überhaupt zu spät und deshalb nicht mehr richtig seien.

Neben den prominenteren Fällen, den nach den Nürnberger Prozessen hingerichteten Hauptverantwortlichen und den nach Lateinamerika Entkommenden, gab es allzu viele unbemerkt Untergetauchte und auch zu viele, die schnell wieder Karriere machen konnten. Kurt Waldheim brachte es zum Generalsekretär der Vereinten Nationen und Präsidenten Österreichs, obwohl seine Rolle als Wehrmachtsoffizier auf dem Balkan für erhebliche Kontroversen sorgte, oder Hans Filbinger, der 1978 als Ministerpräsident von Baden-Württemberg zurücktreten musste, weil seine NSDAP-Mitgliedschaft und vier Todesurteile kurz vor Kriegsende in seiner Zeit als Marinerichter bekannt wurden und ihn politisch untragbar werden ließen.

Ein in ganz anderer Weise prominentes Opfer seiner Vergangenheit im Nazi-Regime war Karl Eduard, der letzte regierende Herzog von Sachsen-Coburg und Gotha, ein Enkel von Queen Victoria. Aufgewachsen und erzogen als „Prince of the United Kingdom“ wurde er mit 15 Jahren nach Deutschland geschickt, wo er 1900 die Coburger Herzogswürde und die deutsche Staatsbürgerschaft übernahm. Nach seiner Teilnahme am 1. Weltkrieg wurden ihm 1919 alle englischen Adelstitel und der Sitz im Oberhaus aberkannt, aber auch der Herzogstitel in Deutschland. Zunächst enteignet, wurde er später mit 37 Millionen Reichsmark abgefunden, was ihm die Unterstützung konservativer nationaler Organisationen ermöglichte. Mit dem Eintritt in die NSDAP am 1.Mai 1933 übernahm er eine Reihe von Ämtern, u.a. in der SA, dem NSKK, der DLRG und als Präsident des Deutschen Roten Kreuzes. Als „Lieblings-Royal“ Hitlers nahm er 1936 am Begräbnis von König George V in London teil, in Wehrmachts-Uniform und mit Stahlhelm (!), was ihn in seiner alten Heimat zum „Nazi-Royal“ machte. Im Juni 1945 von den Amerikanern interniert, wurden ihm in mehreren Verfahren Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen, aber 1950 kam er als Mitläufer und Minderbelasteter mit einer Geldstrafe von 5000 DM davon und starb vier Jahre später in Coburg. Von einer Beteiligung an Kriegsverbrechen war in den Prozessen und mehreren Revisionen nicht die Rede, aber mit seiner gesellschaftlichen Stellung und dem damit verbundenen Prestige hatte er zur Stabilisierung des NS-Regimes beigetragen. Hitler, der bekanntlich England bewunderte, hatte möglicherweise gehofft, dass Karl Eduard helfen könnte, einen Separatfrieden mit dem Vereinigten Königreich zu erreichen. Die Idee klingt heute völlig irreal und abwegig, aber neben der 1940 aufgelösten „British Union of Fascist“ von Oswald Mosley gab es damals im britischen Hochadel durchaus einflussreiche Persönlichkeiten mit mehr als Sympathie für Nazi-Deutschland.

Der prominenteste dieser Royals war der schwerreiche Lebemann Hugh Richard Arthur Grosvenor, Duke of Westminster, ein stockkonservativer Antisemit und Deutschland-Sympathisant. Über zehn Jahre lang hatte er eine Liaison mit der Modeschöpferin Coco Chanel, die durch ihn auch eine Freundschaft mit Winston Churchill anknüpfen konnte. Zusammen mit ihrem deutschen Geliebten, dem für die Abwehr in Paris arbeitenden Baron von Dinklage, wurde sie Ende 1943 beauftragt, über Churchill die Chancen für einen Separatfrieden mit England zu sondieren. Die sogenannte „Aktion Modellhut“ scheiterte am absoluten Desinteresse des britischen Premierministers. Nach Kriegsende war Chanels Verbleib in Frankreich als Kollaborateurin unmöglich geworden, deshalb zog sie mit ihrem Baron von Dinklage in die Schweiz. Nachdem General De Gaulle sozusagen entschieden hatte, dass alle Franzosen in der Resistance gewesen waren, konnte Coco Chanel als nationale Mode-Ikone 1954 nach Paris zurückkehren und ihr erfolgreiches Geschäft weiter ausbauen. Chanel und von Dinklage sind nur zwei Beispiele für eine lange Reihe von prominenten, besonders geschickten, gut vernetzten oder einfach mit viel Glück davongekommenen Mittätern, Mitläufern oder Kollaborateuren, die den Krieg und die Nachkriegsjahre erstaunlich gut überstanden haben. Pensionsberechtigungen blieben bestehen und wurden ausgezahlt. Wie persönliche Schuld verdrängt oder verarbeitet werden konnte wissen nur die Beteiligten selbst. Und um eine Definition der Täterschaft kümmern sich Spezialgerichte mit den ihnen zur Verfügung stehenden juristischen Mitteln und Methoden. Von Sühne kann dabei nicht immer die Rede sein.

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