Im 15. Brief über die ästhetische Erziehung des Menschen schreibt Friedrich Schiller 1793: „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ Zweihundertdreissig Jahre später hat eine nie dagewesene Spielleidenschaft große Teile der Menschheit erfasst, die allerdings weniger mit Menschsein oder gar Menschlichkeit zu tun hat als mit den Erfolgen einer rasch expandierenden Spieleindustrie. Die Hamburger Datenfirma Statista schätzt die Einnahmen dieser Industrie für 2022 auf 197 Milliarden Dollar und die Zahl der Nutzer auf 3 Milliarden. Die Statista-Wachstumsprognose klingt märchenhaft, 2030 sollen die Einnahmen weltweit auf mehr als 580 Milliarden anwachsen. Die größten Marktanteile erwirtschaften die USA und der Hauptkonkurrent China, der Gigant Tencent allein mit mehr als 8 Mrd., gefolgt von Japan, Süd-Korea und Deutschland. Verdient wird an Spielkonsolen und technischem Zubehör sowie den Spielprogrammen selbst, die beiden wichtigsten Zweige sind Computerspiele und Apps für Smartphones. Bei den Computerspielen rechnet die Industrie mit Einkünften von rund 80 Dollar pro Spieler und Jahr.
Der Spielemarkt in China
Im Wettbewerb zwischen den Giganten USA und China lagen die Amerikaner trotz der geringeren Bevölkerungszahl bisher knapp im Vorteil, weil die chinesische Regierung den Inlandsmarkt stärker reguliert und weniger Lizenzen vergeben hat. Wer die verbreitete Spiel- und Wettleidenschaft dort kennt, kann die Vorsichtsmaßnahmen gegen die als „geistiges Opium“ gebrandmarkten süchtig machenden Spiele nachvollziehen. Aber auch in China setzen sich am Ende die wirtschaftlichen Überlegungen durch. Das durch COVID und die restriktive Eindämmungspolitik deutlich abgeschwächte Wirtschaftswachstum erfordert neue Wege zur Erholung. Im Dezember hat die National Press and Publication Administration in Beijing, die auch für die Lizenzierung von Videospielen zuständig ist, grünes Licht für 84 neue Spiele einheimischer Entwickler gegeben und weitere 44 importierte. Insgesamt gab es 2022 neue Lizenzen für 512 Spiele, was besonders für die Marktführer Tencent Holdings und NetEase und die 700 Millionen chinesischen Computerspieler wichtig war. Bemerkenswert ist auch der Inhalt bestimmter Spiele. So bekam Tencent die Genehmigung für das amerikanische Kampfspiel „Valorant“ der Firma Riot Games, bei dem es um weltweite Kampfsimulationen mit taktischen Raffinessen geht, aber letztlich um die Liquidierung der Gegner mit den üblichen kinetischen Waffenarsenalen. Ein vergleichbar strategisches Kampfspiel wurde von Pokémon gekauft. Offenbar endet mit den neuen Lizenzen ein Versuch der chinesischen Behörden, den Suchtfaktor der Spiele wenigstens einzudämmen, etwa mit Spielzeitbegrenzungen pro Tag für Jugendliche unter 18 Jahren. Die Öffnung kommt sicher nicht zufällig nur wenige Wochen nach der positiven Meldung des halboffiziellen Dachverbands der chinesischen Spieleindustrie, dass es gelungen sei, die Spielsucht unter Minderjährigen zu reduzieren.
„eSports“ oder Computerspielen als Beruf
Wie in vielen anderen Bereichen von Hobby und Sport haben sich in den letzten zehn Jahren auch bei den Computerspielen sowohl ein weltweites Interesse als auch eine Professionalisierung entwickelt. Der Durchbruch gelang 2013 durch den ersten internationalen Wettkampf mit dem Spiel DOTA 2, in dem jeweils fünf Spieler mit jeweils einem von jedem einzeln gesteuerten „Helden“ gegeneinander kämpfen. Es gewinnt die Mannschaft, die am Ende der Kämpfe die Bastion des gegnerischen Teams zerstören kann. Für diesen originären Wettkampf standen Preisgelder von 1,6 Millionen Dollar zur Verfügung und das siegreiche Team erhielt davon eine satte Million. Inzwischen sind die Preisgelder des jährlichen Turniers auf 30 Millionen angewachsen, von denen die Sieger 15 Millionen erhalten und die Zweitplatzierten immer noch 4,5 Millionen. Trainer und Manager müssen auch bezahlt werden, aber das meiste geht an die Spieler, die allerdings auch Tausende von Stunden trainieren müssen bevor sie eine Chance haben, ganz an die Spitze zu kommen. Das Preisgeld kommt aus der Werbung, die bei vielen Millionen Zuschauern der Turniere offenbar gut angenommen wird, voran von den Riesen der einschlägigen Industrien wie CORSAIR, AMD und Intel, aber auch die Logos von Red Bull, Honda oder Coca-Cola sind oft dabei.
Die Professionalisierung geht aber noch einen Schritt weiter. Auch Teams ohne Turniersiege können Sponsoren finden und nach Angaben der Werbeplattform ChartAttack verdienen die Spieler zwischen 1.500 und 5.500 Dollar im Monat.
Kriege und Kriegsspiele am Computer
Was in den 1980er Jahren mit Pacman relativ harmlos anfing, allerdings auch schon eine Prise Vernichtung enthielt, hat sich inzwischen zu einem virtuellen Universum weiterentwickelt, in dem Kampf- und Kriegsspiele eine bemerkenswerte Beliebtheit erreicht haben. Mit einer Spielkonsole kann man von Messern, Schwertern, Speeren und Lanzen aus der Geschichte bis zu den modernsten Waffen unserer Zeit alles ausprobieren, was Leben auslöscht und die Gegner und ihre Panzer, Schiffe und Flugzeuge pulverisiert. Welche Fantasien oder Aggressionen dabei ausgelebt werden mögen die Psychologen, Psychiater und Anthropologen weiter diskutieren, aber Kämpfen, Zerstören und Töten zählen die meisten von ihnen zu den natürlichen menschlichen Verannlagungen. Trotzdem gibt es definitiv eine Tötungshemmung, die den Soldaten mühsam abtrainiert werden muss. Diese bezieht sich weitgehend auf den Nahkampf Auge in Auge. Je weiter und weniger sichtbar der Feind ist, desto leichter fällt das Töten. Und konsequenterweise, je weiter entfernt und nur auf einem Monitor als Punkt wahrnehmbar das Ziel ist, desto leichter fällt das Abdrücken.
Computerspiele und der Krieg in der Ukraine
Der in der Ukraine seit zehn Monaten tobende Krieg hat teilweise archaisch anmutende Züge. Seit er sich zum Stellungskrieg mit traditionellen Schützengräben entwickelt hat, wird wieder auf Sicht geschossen wie in den beiden Weltkriegen. Aber insgesamt dominieren modernere Methoden mit weitreichenden Haubitzen, Raketen jeglicher Reichweite und immer mehr Drohnen. Die letzteren sind entweder ferngesteuerte oder selbststeuernde fliegende Bomben, daneben spielt die Aufklärung und Zielerkennung eine immer entscheidendere Rolle. Das Ziel, gegnerische Panzer, Truppentransporter, Flugzeuge, Raketenabschussgeräte – und natürlich auch Soldaten – wird mit Hilfe eines Computers festgelegt und je nach Genauigkeit der Einstellungen und Präzision der Systeme auch vernichtet. Der offenbar durch die Ortung von Mobiltelefonen ermöglichte Raketenschlag auf Mariivka am 31. Dezember tötete zwischen 89 und 400 russische Soldaten, die Opferzahlen schwanken je nach russischen und ukrainischen Angaben. Der Zwischenfall zeigt, wie technisch und emotional einfach das gegenseitige Töten in dieser Auseinandersetzung geworden ist.
Psychologen, Pädagogen und besorgte Eltern diskutieren seit Jahren kontrovers über den Einfluss von sogenannten Killerspielen auf Kinder und Jugendliche. Bisher sind diese Debatten weitgehend theoretisch geblieben, weil neben Mobbing und verstärkter Gewalt auf Schulhöfen und Straßen keine oder nicht ausreichende empirischen Daten über Zwischenfälle mit Todesfolge oder wirklich geplante Morde vorlagen.
Der Ukrainekrieg liefert nun neue Aspekte der möglichen Zusammenhänge zwischen Computerspielen und Wirklichkeit. Die Spiele sind inzwischen so realitätsnah geworden, dass einzelne Szenen von Medien, Bloggern und Youtubern übernommen und als Dokumentation des Ukrainekriegs wahrgenommen werden. Prof. Claire Wardle vom Information Futures Lab der Brown University hat diese neue Entwicklung untersucht und als gefährliche Quelle für Falschinformationen beschrieben. Computergenerierte Bilder und Filme sind an sich nichts Neues, die Filmindustrie arbeitet damit seit Jahrzehnten und zunehmend erfolgreich. Aber die Technik ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass die Unterschiede zur Realität kaum noch erkennbar sind. Und genau darin liegt die Gefahr, dass Informationen manipuliert werden, was ohnehin die traditionelle Aufgabe der Propaganda ist. Die Erfolgsmeldungen der ukrainischen und der russischen Seite liegen faktisch meistens so weit auseinander, dass wir nicht wissen, was wir glauben sollen. Aber Bilder und Filme wirken so intensiv und direkt auf unsere Emotionen, dass der kritische Verstand leicht unterlaufen wird.
Erster Alarm in den Medien
In den ersten Januartagen berichtete die Nachrichtenagentur AFP, die selbst zahlreiche Videos produziert, wie Ausschnitte aus einem Video-Kriegsspiel in den letzten Monaten immer wieder in den offiziellen und sozialen Medien aufgetaucht sind. Das Thema wurde von zahlreichen Informationsmedien aufgenommen, die regelmäßig über den Krieg berichten. Der Bericht der South China Morning Post (SCMP) vom 4. Januar enthält auch ein Video aus dem Original, dem Computerspiel „Arma 3“ (Link: Arma 3 video game footage fuels misinformation about Russia-Ukraine war | South China Morning Post (scmp.com)). Arma 3 ist ein „realism-based military tactical shooter video game“ der tschechischen Firma Bohemia Interactive, das seit 2013 erfolgreich weiterentwickelt und mit immer neuen Varianten ergänzt wird. Die virtuellen Waffensysteme können von den Spielern hinzugekauft werden und erzeugen offenbar beim Abschuss gegnerischer Kriegsgeräte und Soldaten die entsprechenden Erfolgs- und Belohnungsgefühle. Die Videos sind so realistisch, was durch eingeblendete Zusätze wie „live“ oder „neueste Nachrichten“ noch unterstrichen wird, dass viele Spieler sie für real halten und ihre eigenen erfolgreichen Aktionen im Spiel bei YouTube hochladen. Der erwähnte SCMP-Artikel berichtet über einen YouTube-Nutzer, der so von der Authentizität eines Arma 3- Videos überzeugt war, dass er vorschlug, die Ukrainer sollten nach dem Krieg den NATO-Truppen zeigen, wie man erfolgreich kämpft.
Generell wird zu erwarten sein, dass Computertechnik und künstliche Intelligenz sowie die Ansätze der Metaverse-Idee den Unterschied zwischen Fiktion und Realität weiter verwischen. Die Gefahr des Missbrauchs zur Desinformation und Manipulation liegt damit auf der Hand und wird allein durch den wachsenden Umfang der Informationsflut kaum durch Faktenchecks einzudämmen sein. Kürzlich kursierte bei Facebook eine Karikatur mit zahlreichen Gehirnen, die durch einen Schlauch mit einer Informationsquelle verbunden waren. Der Text dazu lautete: Wenn sie glauben, dass die Hände das am meisten gewaschene Körperteil sind, liegen sie falsch. Es ist das Gehirn…