Frage: Was haben Harry Potter, das iPad und die moderne Teilchenphysik gemeinsam? Antwort: Vor einer Neuerscheinung bilden sich lange Schlangen und Medienhypes.
Populistische Panikmache geisterte im Jahr 2008 durch viele Medien, je näher das Datum der Inbetriebnahme des Large Hadron Colliders (LHC) rückte. Kaum eine Tageszeitung ließim September einen derartigen Artikel aus. Die Gesprächsthemen in vielen Büros verlagerten sich weg von „Tatort“ oder „GZSZ“ in eine Richtung, von der Physiker noch vor Monaten nur träumten. Das „dunkle Zeitalter der Desinformation und Ignoranz“ (Zitat Physik-Nobelpreisträger Robert B. Laughlin) schien für kurze Zeit gebrochen. Man diskutierte über unser Universum, schwarze Löcher oder über das ominöse Higgs-Teilchen. Der sonst eher im „Dunklen“ agierende Wissenschaftszweig erfuhr eine nie geahnte Popularität. Doch nicht immer verliefen diese Gesprächsrunden mit dem verständnisnotwendigen Wissen.
Bis zu seinem vorläufigen Abschalten im letzten Jahr lieferte der LHC eine Unmenge an Daten und auch neuen Erkenntnissen. Seine Experimente geben einen Einblick in eine bisher unerreichbare Region von Raum und Zeit, der unser Weltbild revolutionieren könnte. Und: Am 4. Juli 2012 gaben die Physiker die Entdeckung eines neuen Teilchens bekannt. Es ist aller Wahrscheinlichkeit nach das seit Jahrzehnten gesuchte Higgs-Boson – „das Quant eines Felds, ohne das es keine Masse gäbe, keine Atome und kein Leben. Dieses Feld durchzieht alles, auch dieses Buch, und ist vielleicht der Schlüssel zu einer unbekannten Realität, zu verborgenen Dimensionen und einer 'Weltformel'.“ wie Rüdiger Vaas schreibt. Der Wissenschaftsreporter, Astronomie- und Physik-Redakteur bei „Bild der Wissenschaft“ und versierte Kenner der modernen Kosmologie begleitet den Leser auf dem langen Weg von der 1964 am Schreibtisch postulierten Existenz bis zur vermutlichen Entdeckung im CERN. Aber er spannt den Bogen noch um einiges weiter, von den ersten Spekulationen griechischer Philosophen über Naturgesetze und Atome bis zum modernen Standardmodell der Elementarteilchenphysik, von der eigenartigen Gegenwelt der Materie – der Antimaterie – über das seltsame Schattenreich der Dunklen Materie, die sich nur über ihre Schwerkraft bemerkbar macht, bis hin zum Geheimcode der Natur – der Symmetrie. Schlussendlich greift er auch noch die gleichermaßen exotischen wie faszinierenden Versuche zur Findung einer Weltformel auf. Superstrings und M-Theorie scheinen hierbei die führenden Kandidaten einer „Theorie von Allem“ zu sein.
Über 500 Seiten, für den Laien zum Teil schwer verständliche Materie, versucht Rüdiger Vaas dem physikaffinen Interessierten fassbar und anschaulich zu erklären. Über große Strecken gelingt ihm das auch gut bis sehr gut. Allerdings sollte ein gewisses Maßan naturwissenschaftlichen Grundkenntnissen beim Leser vorhanden sein, sonst geht man im Wust von Fermionen, Quark-Gluonen-Plasma, Spin und Quantenchromodynamik gänzlich verloren und dürfte vor allem von den letzten Kapiteln restlos überfordert sein. Immer wieder unterstützen Grafiken und Illustrationen den nicht einfachen Part oder der Autor flicht sogenannte Exkurse ein, die ein Thema noch tiefgreifender und ergänzender betrachten, Entwicklungen erläutern und in einen großen Zusammenhang stellen. Ganz nach dem Motto des Physik-Nobelpreisträger von 1979 Steven Weinberg: „Das Bestreben, das Universum zu verstehen, hebt das menschliche Leben ein wenig über eine Farce hinaus und verleiht ihm einen Hauch von tragischer Würde.“
Fazit: Die Neugier ist eine der stärksten und konstruktivsten Triebkräfte des menschlichen Handelns. Jeder sollte sich das Staunen bewahren und immer wieder nach dem „Warum“ fragen. Es gibt eigentlich nichts erfüllenderes für den Geist, als immer ein Suchender zu bleiben. „Wir sehen uns in einer befremdlichen Welt leben. Wir möchten verstehen, was wir um uns herum wahrnehmen, und fragen: Wie ist das Universum beschaffen? Welchen Platz nehmen wir in ihm ein, woher kommen und wohin gehen wir? Warum ist es so und nicht anders?“, fragte sich einmal Stephen Hawkings. Er hat keine Scheu vor den großen und grundlegenden Fragen, die alles andere als bescheiden klingen: „Mein Ziel ist einfach: das vollständige Verständnis des Universums – warum es ist, wie es ist, und warum es überhaupt existiert.“ Diesen Anspruch wird sich der bekannte Astrophysiker wohl nicht vollständig erfüllen können. Denn wie bemerkte schon der britische Biologe und Philosoph Thomas Henry Huxley: „Das Bekannte ist endlich, das Unbekannte unendlich. Geistig stehen wir auf einer kleinen Insel inmitten eines Ozeans von Unerklärlichkeiten. Unsere Aufgabe ist es, in jeder Generation ein bisschen mehr Land trocken zulegen.“ Das Buch von Rüdiger Vaas leistet jedenfalls einen kleinen Teil, das Unerklärliche auch dem interessierten Laien verständlich zu machen.
Rüdiger Vaas
Vom Gottesteilchen zur Weltformel
Urknall, Higgs, Antimaterie und die rätselhafte Schattenwelt
Kosmos Verlag (Dezember 2013)
512 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3440138550
ISBN-13: 978-3440138557
Preis: 24,99 EURO
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