Die Heiligen Drei Könige kommen als Materialcollage daher. Statt in prächtigen Gewändern und mit Gefolge werden sie mit heruntergekommenen Stühlen, Körben, Federn und einer Glühlampe auf einem langgezogenem Fundholz angedeutet. Im Blick haben diese nur schwer als Personen zu identifizierenden Christus-Pilger eine Darstellung der „Maria vom Erbarmen“. Auf dem bolivianischen Ölgemälde aus dem 18. Jahrhundert sind der Gottesmutter zwei Heilige zur Seite gestellt, die ihrerseits aufgebrochen sind, um ihr Leben einem Orden zu widmen. Flankiert wird die Szenerie auf der einen Seite durch die Darstellung einer Fotoreihe, auf denen Landschaften zu sehen sind, die in den mythischen Ritualreisen eines Volksstamms aus dem Himalaya besungen werden – Wege, die von den Schamanen des Stammes passiert werden, um den verlorengegangenen Seelen ihrer Patienten nachzuspüren. Auf der anderen Seite prangt ein großformatiges Labyrinth, das der damals sechs Jahre alte Frederic Kaul als Aquarell sowie mit Filzstiften auf Papier gebannt hat – Symbol für einen Aufbruch, der mit zahlreichen Irrungen und Wirrungen versehen ist, ehe er an ein Ziel kommt?
Durch die Zusammenstellung der eingangs beschriebenen Installation von Michael Buthe (1944 bis 1994), die in der Anordnung trivialer Gegenstände eine bewegende inhaltliche Aufladung zeitigt, dem Bild aus Bolivien, den Fotografien von Michael Oppitz (geb. 1942) sowie dem Bild des Kindes kulminiert in diesem Ausstellungsraum von „Kolumba“, dem Kunstmuseum des Erzbistums Köln, das Thema der neuen Jahresausstellung in einer packenden Verdichtung. „1919 49 69 ff. – Aufbrüche“ ist die Schau betitelt. Ein Thema, das sich erst beim Gang durch die neu inszenierten Ausstellungsräume des sehenswerten Museums in der Kölner Innenstadt erschließt. „Aufbruch oder Aufbrüche, das beinhaltet sowohl Zerstörung wie auch Neubeginn“, sagt Museumschef Stefan Kraus und ergänzt: „Erstmals wagen wir den Versuch, mit der in den vergangenen 30 Jahren gewachsenen Sammlung des Hauses historische Zeitabschnitte ästhetisch zu vermitteln.“
Dabei kommt es zu faszinierenden Dialogbeziehungen zwischen Objekten aus dem Mittelalter bis in die Gegenwart hinein. Stefan Lochners berühmte „Madonna mit dem Veilchen“ (1450) begegnet dem „Blumenstein“, den Heinrich Hoerle 1928 mit Öl auf Holz gebannt hat. Der aus Nussbaum im 15. Jahrhundert gefertigte Heilige Martin zu Pferd scheint an einem in einem riesigen Rahmen eingefassten zerrissenen Stofftuch hineinzureiten in die goldene Wand der „Tragedia Civile“ von Jannis Kounellis (1936 bis 2017). Der Meister der Ursula-Legende hat um 1500 das Jüngste Gericht dargestellt, während dieser Darstellung gegenüber Conrad Felixmüller (1897 bis 1977) mit einem Gedenkblatt aus dem Jahr 1919 vertreten ist. „Menschen über der Welt“ ist es betitelt und mutet an wie die Auffahrt gen Himmel der im selben Jahr ermordeten Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht.
Bei dem Rundgang, für den sich Besucher viel Zeit nehmen sollten, um noch vieles mehr zu entdecken als hier Platz zu beschreiben ist, werden Werke gezeigt, gegenübergestellt, ja mitunter vielleicht fragwürdig konfrontiert, mit denen sehr unterschiedliche Künstler kreativ auf historische Umbruchszeiten reagieren und Visionen entwickeln. Das zeigt schon die mächtige Holzskulptur „Propeller für D“, die die Bildhauerin Victoria Bell (geb. 1942) geschaffen hat, und mit der die Besucher empfangen werden: Es zeigt die Ambivalenz, möglicherweise auch Fragilität des technischen Fortschritts, weil der rotierende Körper seine Massen unsymmetrisch zu verteilen scheint.
Ausgangspunkt für die Ausstellungskonzeption war das Bauhaus, dessen 100. Geburtstag dieses Jahr gefeiert wird. „Es ging dem Bauhaus darum, Kunst und Gestaltung grundsätzlich neu zu begreifen, zu praktizieren und zu vermitteln“, so Kurator Marc Steinmann. „Kolumba“ erzählt die Geschichte des Bauhauses aus der Perspektive des ungarischen Künstlers Andor Weininger (1899 bis 1986). Seine konstruktivistischen Werke lassen sich im Kunstmuseum des Erzbistums Köln nicht nur sehen, sondern auch – in anderer künstlerischer Form – ein wenig nachhören. Denn anhand von Tondokumenten können Besucher den Künstler, der auch Gründer und Leiter der Bauhaus-Band gewesen ist, selbst hören. Gerade der dem Bauhaus gewidmete Raum zeigt, dass der vom Kolumba-Team erhobene Anspruch der Vermittlung von Zeitabschnitten alle künstlerischen Darstellungsformen und Medien erfordert – vom mittelalterlichen Tafelbild über Skulpturen, Alltagsgegenständen, der elektrischen Uhr und einem alten Telefon bis hin zu Installationen, Großplastiken und Collagen.
Nach dem Aufbruch im Jahr 1919 wird mit dem Jahr 1949 eine zweite Wegmarke gesetzt – zumal in diesem Jahr auch der Bau der nunmehr im Museum eingehausten Kolumba-Kapelle begonnen worden ist. Der zentrale Raum des Museums hierzu bietet ein reichhaltiges Spektrum an Gegenüberstellungen, Aufbrüchen an. Der „Ecce homo“ von Gerhard Altenbourg (1926 bis 1989) aus diesem Jahr spiegelt in ergreifender Weise die von Zerstörung und Leid geprägte Lebenswirklichkeit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs sowie dem Zusammenbruch des Dritten Reiches wider. Dagegen weisen die Tuschezeichnungen von Georg Meistermann (1911 bis 1990) bereits optimistisch in jene Aufbruchsstimmung der 1950er Jahre hinein, in der sich die Hoffnung auf eine unbeschwerte, friedliche Zeit zeigt. Hinter einer Vitrine mit typischen Industrie-Email jener Zeit und vorbei an einem Sitzmöbel für die Wandelhalle des ersten Deutschen Bundestages im Bonner Bundeshaus erhebt sich der Schrein des Heiligen Albinus aus dem zwölften Jahrhundert. Dahinter zeigen Fotos jene berühmte Schreinprozession anlässlich des Kölner Domjubiläums im Jahre 1948: Durch die zerstörte Stadt ziehen anlässlich der 700-Jahrfeier der Kathedrale prächtig gekleidete und herrlich herausgeputzte Menschen – einer mittelalterlichen Tradition folgend – hinter den meist romanischen kostbaren neun Reliquienschreinen her, die die Gebeine von Heiligen bergen, die mit der (Kirchen)geschichte von Köln in Verbindung stehen.
Auch die zum Aufbruchsjahr 1969 zusammengestellten Objekte erzählen davon, legen visionäre Blicke von Künstlern frei und laden ein, selbst den Mut zum Aufbruch aufzubringen. In oder besser: nach jeder Krise folgt die Gelegenheit des Anfangs, des Neubeginnens, des Sich-wieder-Vergewisserns oder vielleicht auch der erneuten Verunsicherung. „Kolumba“ lädt jeden Besucher individuell ein, sich den geschickt gestalteten Welten, Erlebnissen und Wahrnehmungen eines jeden Raumes zu nähern und sich angesprochen zu fühlen, wie ein Künstler den Mut aufzubringen, täglich neu aufzubrechen. Durch die Kombination und Dramaturgie der Werkpräsentationen zeigt „Kolumba“ zudem, dass Künstler auf die noch gar nicht so lange zurückliegenden Auf- und Umbrüche zuweilen auch mit religiösen Motiven reagieren, etwa die 1919 gemalte „Dorfkirche“ von Walter Ophey (1882 bis 1930) oder der eingangs erwähnte Aufbruch der Heiligen Drei Könige aus dem Aufbruchsjahr 1989.
Bis 17. August 2010. Täglich außer dienstags 12 bis 17 Uhr.