Bonn im Herbst 1982: Die Bundestagswahlen standen bevor, die Satire-Blätter nannten den Kanzlerkandidaten Helmut Kohl wegen seiner Kopfform Birne und das Geld hieß auf gut pfälzisch Bimbes.
In jenen Tagen war ich mit Helmut Kohl in der Rheinland-Pfalz-Vertretung verabredet. Er begrüßte mich freundlich, griff dabei nach dem Revers meines Anzugs, nahm es zwischen Daumen und Zeigefinger und sagte: „Feines Stöffchen. Aber das könnt ihr beim Fernsehen euch ja auch leisten.“
So war er. Wir hatten noch nicht Platz genommen, schon sprach der künftige Kanzler der Bundesrepublik Deutschland von dem Thema, das ihn offenkundig faszinierte. Er sprach vom Geld. Es sei ungerecht verteilt in unserer Gesellschaft. Manager der Industrie, Chefärzte und sogar Chefredakteure verdienten weit mehr als der Regierungschef eines so wichtigen Landes wie Deutschland. Und was das Schlimmste sei: Er könne nichts daran ändern.
Zum ersten Mal hatte ich Zweifel, ob dieser Mann aus dem Land der Reben und Rüben der begnadete Kanzler sein würde, der Chancen und Gefahren rechtzeitig für das Land erkennt und die Menschen in eine sichere Zukunft führt. Gewiss: Er war ein leutseliger Patriarch, der voller Stolz enge Beziehungen zur Industrie- und Bankenwelt unterhielt, der auch Mitgefühl aufbrachte für die Schwachen in der Gesellschaft – die Arbeitslosen, Kranken und Alten. Und er hatte gelernt, mit den Mächtigen dieser Welt wie mit Kumpeln umzugehen. All dies hatte ihn schon zum „ schwarzen Riesen“ von Mainz gemacht. Noch gab er sich als Gutmensch, war aber schon auf dem Weg zum Machtmenschen.
Er war der robuste Parteichef, der Anerkennung und Kritik unter den Mitgliedern nach Gutdünken verteilte, so dass die einen sich belohnt und geschmeichelt, die anderen bestraft und gedemütigt fühlten.
Kohls imposanter Statur entsprach sein ausgeprägtes Selbstbewusstsein. Den Platz in der Geschichte hat er, der promovierte Historiker, von Jugend an beansprucht und ein Leben lang verteidigt.
Als er nach Bonn kam, war er acht Jahre erfolgreicher Ministerpräsident in Rheinland-Pfalz gewesen. Sechzehn Jahre war er dann – viermal gewählt – Bundeskanzler, fünfundzwanzig Jahre – elfmal gewählt – Bundesvorsitzender der CDU.
Drei Phasen sind es, die seine politische Laufbahn markieren:
* Die vielen Jahre an der Macht ließen Kohl zum überzeugten Europäer werden. Ohne ihn wäre die Europäische Union nicht gestärkt aus den vielen Krisen hervorgegangen.
* Der Niedergang der DDR und der Fall der Mauer waren für die Deutschen ein Jahrhundertereignis und verschafften Kohl das pompöse Etikett des Kanzlers der Einheit.
* Die Parteispenden-Affäre kam spät, dann aber umso greller ans Licht: Als Kohl gar nicht mehr Kanzler war, stellte sich heraus: Die CDU hatte Spenden aus der Wirtschaft an den Parteikassen vorbei auf eigene Geheimkonten gelenkt. Ein eklatanter Verstoß gegen das Parteien-Gesetz. Und der Vorsitzende Kohl wusste davon.
Wer nach einem unbestreitbaren Erfolg der Regierung Kohl fragt, wird als erste Antwort selbst von kritischen Beobachtern zu hören bekommen: Der Erhalt und die Stärkung der Europäischen Union sind das Verdienst gerade auch der deutschen Politik. Kohl hatte darüber hinaus einen großen Anteil daran, die Beziehungen zu unseren westlichen Nachbarländern, besonders zu Frankreich, zu festigen. Unvergessen ist das Zeichen, das er und Mitterrand auf dem Soldatenfriedhof von Verdun setzten. Die beiden Politiker Hand in Hand vor den Gräbern der vielen hundert Opfer aus beiden Ländern.
Bilder sagen mehr als tausend Worte. Auch das Treffen von Kohl und Gorbatschow im Kaukasus wurde zum nachhaltigen Medienereignis. Zu Michail Gorbatschow gewann der Kanzler ein geradezu freundschaftliches Verhältnis. Mit beiden habe ich später bei einer Preisverleihung in Mannheim an einem Tisch gesessen. Kohl dominierte die Szene und forderte Gorbatschow je nach dem Beifall des Publikums energisch auf: „ Michail aufstehen, Michail setzen, Michail winken.“
Deutschland war mit Helmut Kohl zur treibenden Kraft der europäischen Gemeinschaft geworden. Übertroffen wurde die permanente Aufgabe in Europa dann durch die unerwartete Gelegenheit, das geteilte Deutschland wieder zu vereinen. Seit achtundzwanzig Jahren hatte es damals die Mauer gegeben, die Deutsche im Osten von denen im Westen trennte. Und noch länger gab es das menschenverachtende Regime der Partei-Greise, die kaum etwas anderes im grauhaarigen Kopf hatten als Pläne, wie sie den Menschen das Leben noch etwas schwerer machen könnten, als es in der DDR sowieso schon war.
Plötzlich war es geschehen; Bürger der DDR hatten sich mutig zum Widerstand entschlossen, zur Rebellion. Die Mauer fiel und der ganze Sicherheitsapparat der DDR gleich mit. Menschen aus dem Osten zogen für eine Nacht in die Glitzerwelt von West- Berlin. Und keiner wusste so recht, wie es nun weitergehen sollte mit Deutschland.
Kurz vor Weihnachten, am 18. Dezember 1989 traf sich Kohl in Dresden mit Hans Modrow, Mitglied des Politbüros der SED und Vorsitzender des Ministerrats der DDR. Noch bestand der DDR-Staat. In den ersten Verhandlungen aber ging es schon um eine andere Zukunft: Soll Deutschland in zwei Staaten weiter bestehen, allenfalls in einer Konföderation eingehen, wie es die DDR-Führung wünschte? Oder sollte es nur noch ein Deutschland geben, wie es der Westen wollte und wie es im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland vorgegeben wurde?
Vor der Ruine der Frauenkirche war ein Podest errichtet worden. Dort sollte Helmut Kohl vor tausenden Menschen mit schwarz-rotgoldenen Fahnen und den weißgrünen Flaggen Sachsens am Abend sprechen. Das Thema auch hier: Was wird aus Deutschland? Bleiben die beiden deutschen Staaten bestehen? Soll es nur eine Vertragsvereinbarung zwischen ihnen geben?
Die Menschen vor der Kirche wollten keine halben Lösungen. Sie wollten die deutsche Einheit. Helmut Kohl spricht in seinen Memoiren später davon, dass es die schwierigste Rede seines Lebens gewesen sei. Jeder falsche Zungenschlag wäre in Paris, London oder Moskau als nationalistisch ausgelegt worden.
In Dresden hielt Kohl sich zurück und formulierte so behutsam wie möglich: „Mein Ziel bleibt, wenn die geschichtliche Stunde es zulässt, die Einheit unserer Nation.“
An diesem Abend wurde klar und jeder spürte es: Es wird künftig keine zwei deutschen Staaten mehr geben. Die Menschen wollten es so. „Helmut, Helmut“ riefen sie und „Wir sind ein Volk“.
Bei manchen klang das noch wie ein Hilferuf. Aber das Gefühl wuchs, da stand einer vor ihnen, der stark genug war, das große Ziel zu erreichen. Das Volk machte Geschichte und Helmut Kohl wollte es damit nicht allein lassen. Verbindliches konnte er zu diesem Zeitpunkt nicht sagen. Aber die Stimmung dieses Tages zeigte ihm und zeigte den Menschen auf den Straßen, dass die Stunde großer Entscheidungen nahte.
Schon seit einigen Jahren war zu verfolgen, dass Kohl bei vielem, was er politisch anpackte, eine Menge Glück hatte. Er konnte sich mit den Staatsmännern der Welt, gerade auch die aus den Ländern der Kriegsgegner von einst, ebenbürtig fühlen. Keiner von ihnen glaubte, das von deutschem Boden noch einmal Unheil ausgehen könnte. George Bush, Francois Mitterrand und Michail Gorbatschow waren jetzt rückhaltlos bereit, sich für die Wiedervereinigung Deutschlands einzusetzen.
Die deutsche Politik beschäftigte in diesen Wochen noch etwas ganz anderes. Und wieder einmal hatte es mit Bimbes, Schmiergeld zu tun. Es mehrten sich die Hinweise, dass die CDU seit Jahren mit Spenden aus der Wirtschaft versorgt worden war. Ende November 1999, bei einer Sondersitzung des CDU-Präsidiums, musste Kohl zugeben, dass er während seiner Amtszeit als Parteichef eine getrennte Kontoführung in der Partei zugelassen hatte.
Spendengeld war an der Parteikasse vorbei direkt in sogenannte Schwarze Kassen geschleust worden und wurde nach dem Willen der Parteiführung als Wahlkampfunterstützung an etliche CDU Abgeordnete und auch an Orts- und Bezirksverbände weiter geleitet.
War politisches Wohlverhalten erkauft worden? Schon zwei Wochen zuvor hatte ich Helmut Kohl in die ZDF Sendung „Was nun, …?“ eingeladen. Zwei Tage vor dem Sendetermin kam die Zusage. Am Telefon bat mich Kohl, ihn im Fernsehen möglichst hart danach zu fragen, ob er persönlich bestechlich sei?
Ich antwortete, dass ich keinen Anlass sähe und es schon gar keinen Beweis dafür gäbe, ihn persönlich für bestechlich zu halten. Ihm kam es offenbar darauf an, auf eine harte Frage ein noch härteres Dementi setzen zu können.
Mich interessierte das ganze System der Parteienfinanzierung: Hat sich Kohl durch die Lieferung von hunderten Geldscheinen in handlichen Koffern Mehrheiten gesichert, in dem er Parteifreunde an der offiziellen Parteikasse vorbei mit Bargeld ausgestattet hatte?
In der Sendung bestätigte er die finanziellen Hilfen für Parteifreunde, bestritt aber jeden persönlichen Vorteil: „Wenn ich jetzt höre, ich sei geschmiert worden und ich sei beeinflusst mit Spenden, ist das für mich ganz und gar unerträglich.“ Es habe sich lediglich um Spenden in der Höhe von insgesamt 1,5 bis 2 Millionen gehandelt, die nicht ordentlich verbucht waren und deren Spender er auch nicht nennen wolle.
Das war das Eingeständnis. Gewiss, sagte er, es seien Fehler gemacht worden, die er bedauere und bereue. Er war in dem Glauben in die Sendung gekommen, dass durch sein Geständnis die Sache erledigt wäre.
Nichts war erledigt. Für Helmut Kohl begannen schwierige Zeiten. Die Spendenaffäre warf lange Schatten auf sein Lebenswerk als deutscher Kanzler und europäischer Staatsmann. So hatte er sich den Lebensabend nicht vorgestellt. Allein gelassen von den meisten Parteifreunden saß er in einem Abgeordneten-Büro Unter den Linden in Berlin. Zwei Einrichtungsstücke fielen besonders auf: Hinter Kohl und dem Schreibtisch die schwarz-rot-goldene Fahne Deutschlands und im Vorzimmer auf einem Tisch die Spenden-Box. Gäste konnten in einen eimer-großen Karton Bargeld hineinstecken – durch einen Schlitz, der breit genug war, auch Banknoten von höherem Wert aufzunehmen.
Aus dem souveränen Politiker Helmut Kohl war ein Bittsteller geworden. Viele haben nicht verstanden, warum die ganze Affäre einem so erfahrenen Mann passiert ist. Die Süddeutsche Zeitung konnte sich über den früheren Kanzler nur wundern. In einem Bericht über unsere Sendung mit Helmut Kohl hieß es: „Unvergesslich Bressers mit der Intonation eines bekümmerten Bewährungshelfers gesprochener Satz: Warum haben Sie denn das gemacht?“
Klaus Bresser
Nach seinem Studium wurde Bresser Chefreporter des Kölner Stadt-Anzeigers. 1965 wechselte er zum WDR, wo er 1971 die Monitor-Redaktionsleitung übernahm. 1973 wurde er Leiter der aktuellen Redaktion und moderierte unter anderem den Brennpunkt. Ende 1977 wechselte Bresser zum ZDF zunächst als Moderator und dann als Leiter des heute journals. Anschließend arbeitete er als Leiter der Redaktion Innenpolitik. Zwischen April 1988 und April 2000 war Bresser Chefredakteur des ZDF. Von Ende 2002 bis Ende 2003 moderierte er bei n-tv den Talk in Berlin.