Kinder auf dem Kreuzzug

Zehntausende Kinder versuchten das Heilige Land von den Sarazenen zu befreien

Bild von Jens Teichmann auf Pixabay

Im den Monaten April und Mai des Jahres 1212 erschütterten seltsame Ereignisse Westeuropa. Beinahe gleichzeitig brachen im Gebiet der Loire, bei der Stadt Vendome und in Köln Zehntausende Halbwüchsige beiderlei Geschlechts auf, mit dem erklärten Ziel, das Heilige Land von den Sarazenen zu befreien. Diese Bewegungen sollten später in den Geschichtsbüchern als „Kinderkreuzzüge“ Erwähnung finden. Zwischen den beiden Kreuzzügen sind keinerlei Verbindungen im Ursprung erkennbar. Weder wurden die deutschen Kinder vom französischen Beispiel inspiriert, noch ist dies umgekehrt geschehen. Über den deutschen Kinderkreuzzug liegen die glaubwürdigsten zeitgenössischen Dokumente vor. Der Initiator des Kreuzzuges war ein etwa 9- bis 10-jähriger Knabe namens Nikolaus, über dessen Herkunft das Dunkel der Geschichte liegt. Die meisten Chronisten halten ihn jedoch für einen jungen Adligen. Er predigte den Kinderkreuzzug im April 1212 vor dem Altar der Heiligen Drei Könige, deren Gebeine als Reliquien in Köln aufbewahrt wurden. Nikolaus verfügte offenbar über ein beachtliches Rednertalent, war phantasiebegabt und besaß eine erstaunliche Suggestivkraft. Seine Predigten im damaligen Wallfahrtsort Köln hatten großen Erfolg. Nach einigen Tagen bereits scharten sich mehrere tausend Kinder um Nikolaus, die bereit waren, mit ihm zu ziehen. Das Ziel dieses Kreuzzuges sollte die endgültige Befreiung Jerusalems und des Heiligen Landes sein, das sich 1212 zum überwiegenden Teil wieder einmal in den Händen der Sarazenen befand. Nikolaus hoffte auf göttlichen Beistand und versprach jenen, die unter seiner Führung zu marschieren gedachten, ein Wunder. Vor dem Kreuzzug der Kinder sollte sich das Mittelmeer teilen, so wie sich nach den biblischen Berichten einst das Meer beim Auszug der Israeliten aus Ägypten geteilt hatte. „Trockenen Fußes“ wollte Nikolaus mit seinen Streitern durch das Mittelmeer marschieren, um Jerusalem zu erobern. Dieser Wunderglaube wird von den Chronisten ausdrücklich betont. Nach übereinstimmenden Berichten machten sich Mitte Mai 1212 etwa 20.000 Menschen von Köln aus auf den Weg ins Heilige Land. Es waren vor allem Kinder im Alter von 6 bis 14 Jahren, aber auch Jugendliche, Erwachsene und sogar Greise. Dem Zug schlossen sich ebenfalls zahlreiche junge Kleriker an. Unter der Führung von Nikolaus zog dieses schlecht ausgerüstete „Heer“ ohne Ordnung rheinaufwärts und überquerte die Alpen in mehreren großen Gruppen. Für die überaus schwierige und gefährliche Alpenüberquerung, die das Kinderheer nur unter schwersten Verlusten zu bewerkstelligen vermochte, wurden sowohl der Mont-Saint-Cenis-Paß als auch der Sankt Gotthardt und der Brennerpaß genutzt. Nikolaus wählte für seinen Weg über die Alpen den unwegsamen Mont Cenis. Mit ihm zog der größte Teil des Kinderheeres. Durch Wetterunbilden, Lawinen und Steinschläge verloren zahlreiche Kinder ihr Leben. Andere starben infolge von Hunger oder vor Erschöpfung. Wie sehr das Kinderheer gelitten hatte, zeigt die Tatsache, daß schließlich nur etwa 7.000 Kinder unter der Führung von Nikolaus am 25. August 1212 die Mittelmeerküste bei Genua erreichten. Bei dieser Stadt, die im Zusammenhang mit den vorangegangenen Kreuzzügen oft genannt worden war, sollte sich das von Nikolaus verheißene Wunder ereignen. Eine andere Gruppe von Kindern erreichte etwa zur gleichen Zeit das Mittelmeer bei Ancona. Aber weder dort noch bei Genua teilten sich die Wogen vor den betenden Kindern. Das erhoffte Wunder blieb aus. Damit war der Elan des deutschen Kinderkreuzzuges gebrochen. Viele Kinder versuchten nun, nach Hause zurückzukehren. Doch nur wenigen gelang das. Die übergroße Mehrzahl der jungen Teilnehmer dieses Kreuzzuges wurde von den Lombarden als billige Arbeitskräfte zurückgehalten. Andere starben durch räuberische Überfälle, bei den zahlreichen Fehden oder durch Hunger und Krankheit. Jene, denen die Rückkehr nach Deutschland unter zahllosen Gefahren und unmenschlichen Strapazen schließlich dennoch gelang, wurden „mit Spott empfangen“, wie ein Chronist schreibt. Etliche tausend Kinder folgten Nikolaus, der sein Unternehmen noch nicht verloren gegeben hatte, trotz allem weiter. Der dezimierte Kreuzzug erreichte Pisa. Dort gelang es mehreren hundert Kindern, auf zwei Seglern unterzukommen, die einige Tage darauf regulär mit Kurs auf das Heilige Land und ihren Zielhafen Akkon in See gingen. Das Schicksal der Schiffe und ihrer Besatzungen wurde nie ganz aufgeklärt. Nur eine weniger zuverlässige arabische Quelle vermeldet, die Kinder seien bereits kurz nach Ihrer Landung unweit Akkons von berittenen Bogenschützen einer Vorausabteilung des Heeres von Sultan Al Adil aufgerieben worden. Nikolaus hatte es vorgezogen, nicht an Bord der pisanischen Schiffe zu gehen, sondern mit seinem auf etwa 1.200 Kinder zusammengeschrumpften Gefolge weiter durch Italien zu ziehen. Dort löste sich der Marschzug mehr und mehr auf. Wer nicht in den Dörfern und Städten ein neues Zuhause fand, starb am Wegesrand infolge von Krankheiten oder wurde bei einem der häufigen Überfälle erschlagen. In Italien fochten zu dieser Zeit die verfeindeten Parteien der Staufer und Welfen einen blutigen Bürgerkrieg um die Thronfolge im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation aus. Den Kindern wurde allmählich klar, daß sie unter solchen Umständen niemals ihr Ziel erreichen würden. Die Überlebenden wandten sich nach Rom, um Papst Innocenc III. zu bitten, sie von dem Kreuzzugsgelübde zu lösen. Der Papst schob jedoch in den meisten Fällen die Erfüllung des Gelübdes nur bis zur Erreichung der Volljährigkeit auf. Kleinere Gruppen von Kindern gelangten Ende September 1212 bis in die süditalienische Hafenstadt Brindisi. Dort ging das Unternehmen in Schmutz, Schrecken und Niedertracht zu Ende. Ein Sklavenhändler, von den Chronisten „Friso, der Norweger“, genannt, verkaufte die Mädchen an Bordelle, während sich die Knaben auf den Sklavenmärkten an der nordafrikanischen Küste wiederfanden. Über das Schicksal von Nikolaus schweigen die meisten Chroniken. Nur einige wenige Quellen behaupten, er habe das Heilige Land erreicht und später bei der Eroberung Damiettes in Ägypten ehrenvoll gekämpft, um schließlich wohlbehalten nach Köln zurückzukehren. Wahrscheinlich ist dieses Lesart jedoch nur eine fromme Legende. Über das Geschick der von ihm geführten Kinder jedoch gibt es keine weiteren Nachrichten.

Die Angaben zum Kreuzzug der französischen Kinder sind weniger zahlreich und auch in sich widersprüchlicher als jene zum deutschen Kreuzzug. Am ausführlichsten befaßt sich mit dem Thema der zeitgenössische Chronist Alberich de Trosfontaines, der jedoch kein unmittelbarer Augenzeuge war, sondern seinen Bericht auf die Angaben eines angeblich nach 18 Jahren sarazenischer Sklaverei zurückgekehrten ehemaligen Kreuzzugsteilnehmers stützt. Stephan, der Führer des französischen Kinderkreuzzuges, stammte aus dem Dorf Cloyes im Orleanais, das nur einen kurzen Fußmarsch von Freteval entfernt liegt, wo 1194 König Philipp von Frankreich durch Richard Löwenherz besiegt wurde. Stephan, ein 12- oder 15-jähriger Junge – da sind die Chronisten uneins – stammte aus einfachen Verhältnissen.. Er mußte zu jener Zeit bereits als Hirte arbeiten, um mit zum Lebensunterhalt der Familie beizutragen. Stephan begann seine Kreuzzugspredigten in Vendòme, einer Stadt nahe seines Heimatdorfes. Auch er war offensichtlich redegewandt und begeisterte binnen kurzer Zeit zahlreiche Halbwüchsige für seine Idee. Während Stephan mit einer kleinen Gruppe Jugendlicher nach Paris zog, um von König Philipp Schutz und Hilfe für das „gottgewollte Unternehmen“ zu erbitten, sandte er andere Kinder aus, um in ganz Nordfrankreich, Lothringen und Burgund seinen Kreuzzugsaufruf verbreiten zu lassen. Diese Art der Werbung erzielte beachtliche Erfolge. In Paris betrachtete man Stephan als echten „Seher“. Er wurde vom König empfangen, dem er einen der damals häufig kursierenden „Himmelsbriefe“ übergab. Der Hirt predigte in Saint Denis, der berühmtesten Abtei Frankreichs, wo auch die „Oriflamme“ aufbewahrt wurde, die Kriegsflagge des französischen Königsheeres. Auch hier schlug Stephan mit seiner hellen, eindringlichen Stimme tausende Kinder in seinen Bann. Die Jugendlichen hielten regelrechte Prozessionen ab, bei denen stets ein Abbild der Oriflamme vorangetragen wurde. Die Begeisterung für Stephans Unternehmen soll wie ein Lauffeuer um sich gegriffen haben. Der Zulauf, den Stephan hatte, verblüffte sogar die Kreuzzugsprediger der geistlichen Orden. König Philipp untersagte jedoch den Kindern auf Anraten der Universität von Paris – einer zu jener Zeit unumstrittenen Autorität auf dem Gebiet der Theologie – als reguläre Kreuzfahrer zur Befreiung Jerusalems aufzubrechen. Dieses Verdikt kam jedoch zu spät. Stephan hatte sein Unternehmen offenbar gut vorbereitet. Er verließ Paris und kehrte mit einer ständig wachsenden Anhängerschar nach Vendòme zurück, das er als Sammelplatz für sein Heer bestimmt hatte. Gegen Ende Juni 1212 dann befanden sich etwa 30.000 Kinder auf dem Marsch nach Marseille. Dort sollte sich das Meer vor ihnen teilen, versprach Stephan seinen Anhängern. „Trockenen Fußes“ würden auch sie nach Jerusalem ziehen, um die Heilige Stadt kampflos den Sarazenen abzunehmen. Zwar versuchten die Behörden und teilweise auch der Klerus, die Kinder aufzuhalten, doch dies schadete der Bewegung nur wenig. Wie eine Lawine wälzte sich das Kinderheer voran, Stephan auf einem mit Teppichen ausgelegten Bauernwagen vornweg, umgeben von einer bewaffneten Leibgarde, die aus etwa 50 adligen Kindern bestand. Auch junge Kleriker schlossen sich dem Marschzug an. Unter der sengenden Sonne des heißen Sommers zogen die Kinder von Vendòme aus über Tours, Bourges und Nevers nach Lyon. Von da ab folgten sie dem Lauf der Rhone flußabwärts bis nach Avignon. Es scheint auf dem Marsch verschiedentlich Zusammenstöße mit den Truppen königlicher Vasallen gegeben zu haben, die versuchten, den Kreuzzug gewaltsam aufzulösen und hofften, dabei billige Arbeitskräfte und neue Leibeigne zu gewinnen. Aber auch Scharmützel mit Bauern, die ihre Felder mit der Waffe in der Hand gegen die ewig hungrigen Kinderscharen verteidigten, waren an der Tagesordnung. In Avignon stießen Stephans Kreuzfahrer auf Truppen, die gegen Okzitanien, das „Ketzerland“, eingesetzt werden sollten. Sie waren unterwegs zur Verstärkung der Heere des Grafen Simon de Montfort und des Abtes Amalrich von Citeaux, die schon seit 1209 die ketzerischen Katharer im Süden Frankreichs mit Feuer und Schwert auszurotten versuchten. Hier wurde den Kindern bewußt, wie groß der Unterschied zwischen ihnen und den bewaffneten Kreuzfahrern war. Es wird berichtet, daß Troßknechte ihre Wagen rücksichtslos durch den Marschzug der Kinder lenkten und alles, was ihnen im Wege stand, einfach niederwalzten. Von Avignon aus zogen die Kinder durch das fieberträchtige, sumpfige Delta der Rhone nach Marseille. Als sie schließlich nahe der Stadt am Meer lagerten, hatten Fieber, Seuchen, räuberische Überfälle und gewaltsame Zusammenstöße auch von Stephans Heer einen hohen Tribut gefordert. Es war auf die knappe Hälfte seiner ursprünglichen Stärke zusammengeschmolzen, da viele Kinder den Strapazen des Marsches nicht gewachsen waren und zurückblieben. Die Überlebenden hofften auf das versprochene Wunder. Es blieb aus. Gebete, Gesänge und fromme Choräle vermochten nicht, das Meer zu öffnen. Der Himmel schwieg – oder etwa doch nicht? Ein paar Tage waren seit dem gescheiterten Versuch vergangen, das Wunder herbeizubeten, als zwei Kaufleute aus Marseille sich erboten, die Kinder „um Gottes Lohn“ – also umsonst – nach Palästina zu befördern. Hugo Ferreus und Wilhelm de Posqueres besaßen Handelsniederlassungen in Akkon und eine eigene Flotte. Sie waren in Marseille bekannt und geachtet. Sieben Schiffe stellten sie dem Kinderkreuzzug zur Verfügung. Etwa 5.000 sorgfältig ausgesuchte Kinder gingen unter Stephans Führung an Bord. Es waren die Gesündesten und Kräftigsten des Heeres. Die Schiffe verließen Marseille Ende August, angeblich mit Kurs auf das Heilige Land. Hatte das Wetter schon in den vorangegangenen Monaten Kapriolen geschlagen, so schien es sich völlig gegen die Kinder zu wenden. Nach zwei Segeltagen brach ein Sturm los, der zwei vollbesetzte Schiffe auf die Klippen der Insel San Pietro vor der Südwestküste Sardiniens schleuderte. Alle Passagiere und die Besatzungen fanden den Seemannstod. Fünf Schiffe aber überstanden den Sturm und segelten nunmehr in Begleitung eines sarazenischen Geschwaders, mit dem sie am fünften Segeltag zusammengetroffen waren, nach Bougie an der algerischen Küste. Dort und später auch in Alexandria wurden die französischen Kinder als Sklaven an die Araber verschachert. Das hatten die beiden Kaufleute aus Marseille von Anfang an so geplant. Der Kinderkreuzzug muß das Geschäft ihres Lebens gewesen sein. Nur wenigen Kindern soll es gelungen sein, jemals wieder in ihre Heimat zurückzukehren.

Aus den spärlichen historischen Quellen geht hervor, daß sich die Bevölkerung der Gegenden, durch die die Kinderkreuzzüge kamen, in verschiedene Lager spaltete. Einerseits gab es fanatische Befürworter der Bewegung, die in den Kinderheeren ein „göttliches Wunder“ erblickten. Nach dem Scheitern der Kreuzzüge gewannen jedoch rasch jene Kräfte die Oberhand, die dem Unternehmen von Anbeginn an abwartend oder sogar ablehnend gegenübergestanden hatten. Sie sahen sich jetzt in ihrer Meinung bestärkt, daß es sich bei den kreuzfahrenden Kindern um ein Werk „boshafter Zauberer“, „Betrüger“ oder sogar des „bösen Feindes“ gehandelt habe. Verschließt man sich der bequemen, aber auch unbefriedigenden Auffassung, jedes Phänomen in der Menschheitsgeschichte auf das Wirken göttlicher oder dämonisch-teuflischer Kräfte zurückzuführen, so ist man gehalten, rationale Erklärungen zu suchen. Dies fällt zum behandelten Thema auch etablierten Historikern ersichtlich schwer. Die Entstehung der Kinderkreuzzüge auf die „Unwiderstehlichkeit der Zeitgedanken“, „Schwärmerei“, „Auswirkungen des religiösen Fanatismus“, auf bloße „Ursachen im wirtschaftlich – sozialen Bereich“ und „psychologische Wirkungen“ zurückzuführen, dürfte zur Begründung eines derart komplexen und komplizierten Phänomens nicht ausreichend sein. Es erscheint auch durchaus plausibel, hinter der Tragödie der Kinderkreuzzüge das Wirken einer ausgezeichnet funktionierenden, verbrecherischen Organisation zu vermuten. Nicht umsonst brachte man die Assassinen, jene orientalische Geheimsekte, die durch politisch motivierte Morde die Kreuzfahrer und die Sarazenen gleichermaßen in Schach hielt, mit den Kinderkreuzzügen in Verbindung. Aber auch diverse Sklavenhändler wurden verdächtigt, Initiatoren der Kinderkreuzzüge gewesen zu sein. Dieses Vorurteil trifft man bisweilen in der Gegenwart noch an. Für eine solche These sprechen der fast identische Ablauf der beider Kreuzzüge sowie die sich inhaltlich gleichenden Predigten und Verheißungen von Stephan und Nikolaus. Zumindest erweckt auch der Verlauf des französischen Kinderkreuzzuges den Verdacht, das Unternehmen könne von Sklavenhändlern inszeniert gewesen sein. Gegen diese vordergründige Möglichkeit, die Verantwortung für den Tode zehntausender Kinder irgendwelchen dunklen Existenzen aufzubürden, sprechen organisatorische Fragen ebenso wie eine entscheidende Verschiebung der Zweck – Mittel – Relation. Es ist unbestritten, daß auf orientalischen Sklavenmärkten stets Bedarf an jungen hellhäutigen Sklavinnen und Sklaven bestand. Diese Nachfrage konnte jedoch auf unspektakulärere Weise als durch die Organisation der Kinderkreuzzüge befriedigt werden. Gelegentliche Plünderungsfahrten entlang der Küsten von Nord- und Ostsee brachten Piraten immer genug menschliche Beute. Die Handelsbeziehungen dieser Korsaren reichten gemäß zeitgenössischer Angaben bis in den Mittelmeerraum. Einen Kreuzzug hingegen in der vagen Aussicht auf Erfolg zu organisieren, auf dieses Risiko dürfte sich kein Sklavenhändler je eingelassen haben. Zu beachten sind die riesigen Entfernungen, welche die Kinder auf unvorstellbar schlechten Verkehrswegen bewältigen mußten; weiterhin die Gefahren, welche ihnen von der Natur, aber auch der Bevölkerung der durchzogenen Landstriche drohten, und nicht zuletzt auch die durchaus denkbare Möglichkeit, daß die Energie des Unternehmens vorzeitig erlahmen könnte, die Kinder also niemals die Mittelmeerküste und die dort in den bezeichneten Häfen wartenden Sklavenschiffe erreichen würden. Die Unhaltbarkeit der hier kurz skizzierten „Sklavenhändlerhypothese“ wurde auch von den meisten Historikern erkannt. Daraus schlußfolgern die Wissenschaftler nun, daß die Kinderkreuzzüge „aus sich heraus“ entstanden sein müßten. Diese Ansicht ist ebenfalls inakzeptabel. Es mag mit Verheißungen und unter Ausnutzung eines zeitgenössischen Wunderglaubens redegewandten, führungsbegabten Personen gelingen, Jugendliche um sich zu scharen. Eine andere Sache aber ist es, ohne wirtschaftliche und finanzielle Mittel, ohne militärische Erfahrung und ohne ausreichende geographische Kenntnisse eine Idee wie die des Kinderkreuzzuges in die Tat umzusetzen. Da das Unternehmen erst zu einem relativ späten Zeitpunkt scheiterte, kann davon ausgegangen werden, daß eine gewaltige Kraft die Kinder vorwärtstrieb, welche wohl aus der Überzeugung von der absoluten Richtigkeit und dem garantierten Erfolg ihres Unternehmens herrührte. Genährt wurde die Gewißheit des Erfolges von den Anführen der Kreuzzugsbewegung. Stephan und Nikolaus mußten also zutiefst überzeugt sein, als von Gott Erwählte diesen Kreuzzug zu führen. Woher aber rührte dieses Sendungsbewußtsein? Die Ursachen dafür sind in jenen Ereignissen zu suchen, welche die beiden Kinder bewogen, ihre Mission zu beginnen. Nicht zu vernachlässigen ist die zu dieser Zeit in Westeuropa herrschende Kreuzzugshysterie. Sie wurde einerseits durch die seit 1209 in Südfrankreich wütenden Albigenserkreuzzüge hervorgerufen, andererseits auch durch die Anstrengungen des Klerus, zur Unterstützung der schwer bedrängten Kreuzfahrerstaaten in Palästina einen neuen Kreuzzug zu organisieren. Insofern kommen die bereits erwähnten „Auswirkungen des religiösen Fanatismus“ in Betracht. Doch es fehlte immer noch an einem auslösenden Moment für die Kinderkreuzzüge. Seltsame Ereignisse waren es, die für Nikolaus und Stephan den Ausschlag geben, mit ihren Kreuzzugspredigten zu beginnen. Diese Schlüsselerlebnisse stimmen bei beiden Knaben weitgehend überein, so daß an dieser Stelle nur Stephans Erlebnisse wiedergegeben werden sollen. Im Frühling des Jahres 1212 versetzten eigenartige Lichterscheinungen am nächtlichen Himmel die Bevölkerung Westeuropas in Verwunderung und Schrecken. Allgemein hielt man diese atmosphärischen oder kosmischen Phänomene für Vorboten des Jüngsten Gerichts. Diese Empfindungen teilten sich auch Stephan mit. Außerdem hatte er im Mai 1212 ein beunruhigendes Erlebnis. Während Stephan auf den Feldern bei Cloyes seine Schafe hütete, trat ein Fremder zu ihm und bat ihn um Nahrung. Beide teilten sich Stephans karge Mahlzeit. Dabei berichtet der Fremde über seine Erlebnisse im Heiligen Land, aus dem er angeblich gerade zurückgekehrt sei. Beim Zuhören festigte sich Stephans Vermutung, der Fremde sei in Wirklichkeit Jesus von Nazareth. In der Tat gab sich Stephans Gesprächspartner wenig später als Christus zu erkennen. Er übergab dem Jungen einen Brief an den König von Frankreich – den bereits erwähnten  „Himmelsbrief“ – und drängte ihn, „einen Kreuzzug der Kinder trockenen Fußes über das Meer zu führen“. Dieses Unternehmen werde Erfolg haben, wo stolze Barone und erfahrene Krieger versagt hatten. Stephan glaubte sich nunmehr von Gott erwählt und begann seine Kreuzzugspredigt. Ähnliches widerfuhr Nikolaus von Köln. Die Identität des Fremden ist mehr als fraglich. Für religiöse Interpreten bestehen jedoch keine Zweifel. Es war Christus oder aber er Teufel in seiner Gestalt. Geht man aber davon aus, daß der Fremde keine übernatürliche Manifestation, aber auch keine Phantasiegestalt eines überspannten Halbwüchsigen war, so stellt sich die Frage nach seiner Motivation. Natürlich könnte es ein fanatischen Priester oder Laien gewesen sein, der sich berufen fühlte, einen Kinderkreuzzug zu organisieren. Dann bliebe aber offen, warum er nicht selbst an der Spitze des Kreuzzuges nach Jerusalem marschierte, statt nach der Begegnung mit Stephan spurlos zu verschwinden. Es ist außerdem in Betracht zu ziehen, daß „Seher“, „Gottgesandte“, „Propheten“ und „Erlöser“ aller Couleur zu jener Zeit das Abendland durchstreiften. Warum sollte es gerade diesem namenlosen Unbekannten gelingen, eine bis dahin beispiellose Bewegung zu inszenieren und auch am Leben zu erhalten? Anders sieht es freilich aus, wenn man den Fremden tatsächlich als Werkzeug einer Macht betrachtet, der an der Entstehung der Kinderkreuzzüge gelegen war. Eine Macht, die Menschenmassen nach ihrem Belieben mobilisieren, manipulieren und gegen vorbestimmte Ziele zu lenken vermochte. Eine Macht, die über genügend Einfluß und Verbindungen verfügte, um ihre Vorhaben auch realisieren zu können und der an einer neuen Kreuzzugsbegeisterung in Europa gelegen war. Es gab nur eine solche Macht zu jener Zeit – die katholische Kirche selbst. Seit Beginn des 13. Jahrhunderts, als der 5. Kreuzzug Konstantinopel plünderte und zerstörte, statt Jerusalem zu befreien, machte sich in Europa eine Art zunehmender Kreuzzugsmüdigkeit bemerkbar. Kunst, Literatur, aber auch die Chroniken spiegeln diese Verdrossenheit in dem von Kriegen und Seuchen gezeichneten Europa wider. Der fanatische Haß gegen alles Sarazenische wich einem beginnenden Verständnis für die fremde Kultur. Immer öfter tauchten Zweifel am Sinn der Kreuzzüge auf. Angesichts der Bürgerkriege und dynastischen Kämpfe in Deutschland, Frankreich, Spanien und England war das wirklich kein Wunder. Die Entscheidung von Papst Innocenz III., Kreuzzüge auch gegen christliche Häretiker führen zu lassen, verunsicherte die Menschen zusätzlich. Die Vision von der Eroberung des Heiligen Landes und der Errichtung eines Gottesreiches auf Erden verlor zusehends an Glanz und Verlockung. Dieser Entwicklung mußte die Katholische Kirche unter Innocenz III – dem geschworenem Feind aller Ketzer und Heiden – Einhalt gebieten, stand doch ihre Existenzberechtigung auf dem Spiel. Die Idee, Kinder für einen neuen Kreuzzug aufzubieten, mußte nicht zwangsläufig aus Rom kommen. Es genügte, daß der Prior eines Klosters oder ein Bischof den entsprechenden Plan faßte. Höchstwahrscheinlich stand die Macht eines geistlichen Ordens hinter den Kinderkreuzzügen. Der gleichzeitige Beginn der Kreuzzugspredigten in Frankreich und Deutschland deutet auf eine solche überregionale Organisation hin. Möglicherweise ging die Idee des Kinderkreuzzuges von kritischen Kräften innerhalb des im Jahr 1210 neu entstandenen Franziskanerordens aus. Diese Vermutung liegt nahe, da der Ordensgründer Franziskus von Assisi im Jahr 1212 ebenfalls zu einem waffenlosen Kreuzzug nach Jerusalem aufbrechen wollte. Ein Schiffbruch verhinderte jedoch dieses Unternehmen.

Was lag also nach dem Verschleiß aller bisherigen Werbemethoden näher, als für einen neuen Kreuzzug auch einen neuen Ansporn zu benutzen? Die Unmündigen, Unschuldigen, die wehrlosen Kinder, die unbewaffnet aufbrachen, um das Heilige Land zu befreien. Sie sollten durch ihr Beispiel die Erwachsenen beschämen und zu einem neuen Kreuzzug mitreißen. Der Glaube an den Erfolg eines solchen Unternehmens mag sogar teilweise im Klerus verwurzelt gewesen sein. Christus hatte doch selbst gesagt: „Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen nicht“ (Matth. 19 14). Nur ein geistlicher Orden wie die Wanderprediger des Franziskus von Assisi  mit ihrer Kenntnis der Pilger- und Heerwege konnten die Kinder mit den erforderlichen geographischen Informationen versorgen und durch ihre Beziehungen zu anderen geistlichen Orden zumindest für die notwendigste Verpflegung der kleinen Kreuzfahrer sorgen. Als dann die Kinderkreuzzüge nicht die erwünschte Wirkung zeigten, dafür aber eine Eigendynamik entwickelten und schließlich die Kinder ins Verderben stürzten, da war es ein Leichtes, dieses Scheitern dem Teufel, den Sklavenhändlern, den Assassinen oder anderen dunklen Elementen zuzuschreiben. Die Kurie stand mit weißer Weste da. Man hatte es schließlich vorher gewußt. Weiterhin spricht für die hier vorgetragene These, daß sich sowohl dem französischen als auch dem deutschen Kinderkreuzzug zahlreiche junge Kleriker anschlossen. In ihren Händen lag wohl die eigentliche Leitung des Unternehmens. Sie lenkten Worte und Taten der „Propheten“ Nikolaus und Stephan. Auch ein Ausspruch Papst Innocenz III. läßt erahnen, daß die Kinder in Wirklichkeit von Roms verlängertem Arm dirigiert wurden. Der Papst soll beim Erhalt der Kunde von den Kinderkreuzzügen gesagt haben:

„Diese Kinder beschämen uns. Während wir schlafen, ziehen sie fröhlich aus, um das Heilige Land zu erobern!“

Dem dürfte nichts hinzuzufügen sein.

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Über Thomas Ritter 110 Artikel
Thomas Ritter, 1968 in Freital geboren, ist Autor und freier Mitarbeiter verschiedener grenzwissenschaftlicher und historischer Magazine. Thomas Ritter hat zahlreiche Bücher und Anthologien veröffentlicht. Außerdem veranstaltet er seit mehr als zwanzig Jahren Reisen auf den Spuren unserer Vorfahren zu rätselhaften Orten sowie zu den Mysterien unserer Zeit. Mit seiner Firma „Thomas Ritter Reiseservice“ hat er sich auf Kleingruppenreisen in Asien, dem Orient, Europa und Mittelamerika spezialisiert. Mehr Informationen auf: https://www.thomas-ritter-reisen.de Nach einer Ausbildung zum Stahlwerker im Edelstahlwerk Freital, der Erlangung der Hochschulreife und abgeleistetem Wehrdienst, studierte er Rechtswissenschaften und Geschichte an der TU Dresden von 1991 bis 1998. Seit 1990 unternimmt Thomas Ritter Studienreisen auf den Spuren früher Kulturen durch Europa und Asien.