Kierkegaard-Rezeption in der DDR (2)

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Fast ein Jahrzehnt sollte nach dem Tod Liselotte Richters 1968 vergehen, bevor ein zweiter Versuch unternommen wurde, Texte Sören Kierkegaards in einem DDR-Verlag zu veröffentlichen. Treibende Kraft war die Rostocker Skandinavistin Gisela Perlet (1942-2010), die im Hinstorff-Verlag als Übersetzerin dänischer Autoren tätig war. Sie stammte aus der Magdeburger Börde, hatte an der Universität Greifswald Germanistik und Skandinavistik studiert und war als Lektorin in den Verlag eingetreten. Nach dem zwangsweisen Ausscheiden dort 1978 arbeitete sie als freischaffende Übersetzerin, nach 1989/90 auch für westdeutsche Verlage, aus dem Dänischen (Hans Christian Andersen, Hermann Bang, Sören Kierkegaard). Sie starb 2010 an Krebs.

Das Drama um eine einbändige Ausgabe (400 Seiten) mit Texten Sören Kierkegaards begann am 27. Dezember 1977 damit, dass der Hinstorff-Verlag in der SED-Zeitung „Neues Deutschland“ einen Perspektivplan für die Jahre 1979/80 veröffentlichte, worin auch der Name „Sören Kierkegaard“ aufgeführt war. Von ihm sollte aus seinem ersten Buch „Entweder-Oder“ (1843) eine Auswahl vorgestellt werden, enthaltend zwei Essays und das „Tagebuch des Verführers“. Offiziell galt der dänische Philosoph noch immer, so nachzulesen in „Meyers Neuem Lexikon“ von 1973, als „Vorläufer des Existenzialismus im 20. Jahrhundert“ und als Vertreter einer „extrem irrationalistischen Philosophie der individuellen Existenz, in der jedwede objektive Determiniertheit des menschlichen Individuums durch die Gesellschaft geleugnet“ wird. Herausgegeben und ausführlich kommentiert werden sollte der Band von dem Ostberliner Philosophen Wolfgang Heise (1925-1987), einem Experten für spätbürgerliche Philosophie, zu dessen Studenten an der Humboldt-Universität einst auch Rudolf Bahro (1935-1997) und Wolf Biermann (1936) gehört hatten.

Von diesem Verlagsprojekt erfuhr frühzeitig Klaus Höpcke (1933), der von 1973 bis zum Mauerfall 1989 Stellvertreter des Ministers für Kultur unter Hans-Joachim Hoffmann (1929-1994) war, zuständig für Buchhandel und Verlage („Bücherminister“). Er hatte 1951/55 an der berüchtigten „Fakultät für Journalistik“ der Leipziger Universität studiert, wo ihm der Marxismus-Leninismus in seiner engstirnigsten Auslegung beigebracht worden war, von 1964 bis 1973 war er Kulturredakteur der SED-Zeitung „Neues Deutschland“. In einem vier Seiten langen Brief vom 16. Januar 1978 an den „lieben Genossen Harry Fauth“, der den Hinstorff-Verlag seit 1977 leitete, zeigt er sich entrüstet über das Ansinnen, Sören Kierkegaard in das „literarische Erbe“ aufnehmen zu wollen, wozu dann auch „konsequenterweise“ der „NS-Vorläufer“ Friedrich Nietzsche (1844-1900) gehört hätte. Und dann offenbart er, wie er an Harry Fauth schreibt, nachdem er sich „mit Kennern der Materie beraten“ hätte, seine glatte Unkenntnis des philosophischen Werkes von Sören Kierkegaard. Er weiß nicht, dass der Däne das menschliche Leben in drei Stadien einteilt, das ästhetische, das ethische und das religiöse. Und diese Ignoranz sorgt dann auch dafür, dass er die Begriffe des Ästhetischen bei Aristoteles, Hegel und Kierkegaard gleichsetzt, und weiterhin weiß er, obwohl er Kulturminister ist, die Begriffe „Prosa“ und „Belletristik“ nicht exakt zu definieren. Was er von sich gibt in diesem Brief, ist nichts als ministerielles Gefasel über ein Thema, von dem er nichts versteht. Die wichtigste Mitteilung in diesem Schreiben ist die dringliche Bitte an Harry Fauth, was aber schon als Befehl zu werten ist, seinen Fragenkatalog im „Kollektiv des Hinstorff-Verlags“ zu erörtern und die Ergebnisse der Diskussion ihm in der „nächsten Belletristikverlegerrunde“ am 2. Februar 1978 mitzuteilen.

Für heutige Leser sind diese vier Briefseiten an Harry Fauth ein verstörender Text, wenn man die Gepflogenheiten der Zensurausübung im SED-Staat kennt. Schon der Begriff „Zensur“ wurde in der politischen Praxis als abwertend vermieden und durch den schönfärberischen Begriff „Druckgenehmigungsverfahren“ ersetzt, in der Realität gab es freilich keinen Unterschied. Gegenüber dem „lieben Genossen Harry Fauth“ wollte Klaus Höpcke auch nicht als ideologischer Sturkopf auftreten, sondern räumte ein, dass Schriften Sören Kierkegaards durchaus in DDR-Verlagen erscheinen könnten, beispielsweise in der Reihe „Philosophiehistorische Texte“ des Ostberliner Akademie-Verlags, aber erst lange nach der Veröffentlichung von Schriften Friedrich Nietzsches (1844-1900) und Arthur Schopenhauers (1788-1860), also nie! Denn Friedrich Nietzsche, dessen Grab in Röcken bei Leipzig Wolfgang Harich (1921-1997) 1985 einebnen lassen wollte, war die gewaltige Barriere, die das Eindringen „spätbürgerlicher“ Philosophie in den jungfräulichen Marxismus-Leninismus verhindern sollte.

Gisela Perlet ist am 24. Dezember 2010 im Alter von 68 Jahren in Rostock gestorben und wurde in Haldensleben bei Magdeburg beigesetzt. In den Anmerkungen zu ihrem Aufsatz von 1993 „Kierkegaard in der DDR“, zwölf Druckseiten in der Zeitschrift „Skandinavistik“, spricht sie von den noch unentdeckten Texten zur DDR-Rezeption Sören Kierkegaards, die noch aufzufinden wären. Das zu leisten war sie wegen ihrer Erkrankung offensichtlich nicht mehr fähig. Zum Beispiel wäre zu fragen, ob das Vorwort zur Textauswahl von Wolfgang Heise tatsächlich geschrieben und bei Hinstorff eingereicht wurde oder im Nachlass des Philosophieprofessors verblieben ist. Wichtig wäre auch das anonyme Gutachten, auf das sich Klaus Höpcke in seiner Argumentation bezieht. Von besonderer Bedeutung als „Dokument der Kulturverhinderung“, wie Gisela Perlet den Brief Klaus Höpckes an Harry Fauth nennt, wäre aber auch die Diskussion über diesen Brief im Kollektiv des Hinstorff-Verlags, der zum Verbot der Textauswahl geführt hat. Mein Brief vom 25. November 2018, worin ich Harry Fauth um Aufklärung gebeten habe, blieb unbeantwortet. Der ehemalige, bis 1990 amtierende Verlagsleiter war aber, das soll hier nicht unerwähnt bleiben, nicht nur SED-Mitglied, sondern auch, sinnigerweise unter dem Decknamen „Buch“, inoffizieller Mitarbeiter der „Staatssicherheit“! Er wurde bereits am 14. Dezember 1974, als er noch Chefredakteur des „Börsenblatts für den deutschen Buchhandel“ in Leipzig war, angeworben und übergab seit 1977, als er in Rostock arbeitete, Manuskripte von Jurek Becker (1937-1997), Franz Fühmann (1922-1984), Klaus Schlesinger (1937-2001) und Rolf Schneider (1932) zur Auswertung an die „Staatssicherheit“. Im Auskunftsbericht der Bezirksverwaltung Rostock vom 26. Februar 1980 heißt es über ihn: „Mit Übernahme der Funktion als Leiter des Hinstorff-Verlages löste er bis zur Gegenwart Aufträge zur Einschätzung und Zurückdrängung negativ-feindlicher Schriftsteller der DDR. Er setzte sich mehrfach in Abstimmung mit dem MfS und der HV Verlage persönlich mit Autoren auseinander und verhinderte die Veröffentlichung von Büchern mit negativ-feindlicher Aussage.“

Im Gegensatz zur literaturfeindlichen Position, was durch die scharfe Ablehnung bestimmter Literaturströmungen belegt wird, des Verlagsleiters Harry Fauth, der hier als Erfüllungsgehilfe Klaus Höpckes auftrat, gab es noch die gegenüber der „spätbürgerlichen“ Literatur weit aufgeschlosseneren Positionen des Lektorenkollektivs, allen voran des Cheflektors Kurt Batt (1931-1975), dessen früher Tod mit 44 Jahren ein herber Verlust für die DDR-Germanistik und die DDR-Verlagslandschaft war. Er war 1958 in Leipzig, wo Hans Mayer Literaturwissenschaft lehrte, promoviert und 1961 zum Cheflektor des Hinstorff-Verlags berufen worden. Mit seiner ungewöhnlichen Anna-Seghers-Biografie (erschienen 1973 im Leipziger Reclam-Verlag) war er 1973 an der Universität Greifswald im Fach Germanistik habilitiert worden und später zum Cheflerktor in Rostock aufgestiegen. Ich hatte im Herbst 1974, mitten in der Arbeit an meiner Dissertation über Anna Seghers, mit ihm Verbindung aufgenommen, als er mit der Erarbeitung einer Festschrift zu Anna Seghers` 75. Geburtstag (19. November 1975) beschäftigt war, weshalb ich ihm das erste Kapitel „Auf der Suche nach Netty Reiling“ zum Abdruck anbot. Als er am 20. Februar 1975 so überraschend an einem Herzinfarkt verstorben war, brachen meine Kontakte nach Rostock ab und die Festschrift erschien ohne meinen Beitrag.

Der Hinstorff-Verlag, dessen Geschichte noch nicht geschrieben ist, hatte sich, nachdem dort 1973 Ulrich Plenzdorfs (1934-2007) starkes Aufsehen erregende Theaterstück „Die neuen Leiden des jungen W.“ erschienen war, zum „innovationsfreudigsten Literaturverlag der DDR“ (Gisela Perlet) entwickelt, in dem zunehmend auch, sehr zum Verdruss des SED-Politbüros und der „Ideologischen Kommission beim ZK der SED“, auch Romane westdeutscher Autoren veröffentlicht wurden. Im Jahr 1974 gab es dann, ein Jahr vor Kurt Batts Tod, erste Überlegungen zur Edition einer einbändigen Kierkegaard-Ausgabe. Die erheblichen Widerstände gegen diese Art von Literatur und Philosophie, die mit dem Etikett „spätbürgerlich“ versehen wurde, hatte sich schon bei dem dänischen Erzähler Hermann Bang (1857-1912) gezeigt, von dem Romane bei Hinstorff erschienen waren, die von staatlicher Seite, vornehmlich von Vertretern des Faches „Nordistik“ an der Universität Greifswald, als „dekadent“ eingeschätzt wurden.

Initiator des Kierkegaard-Projekts war Dr. habil. Kurt Batt, der auch schon Vorgespräche mit dem Philosophen Prof. Dr. Wolfgang Heise in Ostberlin geführt hatte, der mit der Abfassung des Vorworts betraut werden sollte. Trotz seines vehementen Einsatzes für Sören Kierkegaard bis zu seinem frühen Tod 1975 wurden in der Zeit danach die Bemühungen um eine einbändige Ausgabe immer mehr zurückgedrängt. Sowohl Verlagsleiter Harry Fauth als auch Cheflektor Horst Simon (1930) waren engstirnige SED-Ideologen und zudem inoffizielle Mitarbeiter der Rostocker „Staatssicherheit“, Horst Simon als Nachfolger Kurt Batts unter dem Decknamen „Schönberg“ 1976/90. Gisela Perlet vermutet, dass es kein Zufall gewesen sein kann, dass die Ankündigung der Kierkegaard-Ausgabe am 27. Dezember 1977  im Zentralorgan „Neues Deutschland“ erschienen ist. Klaus Höpcke und Horst Simon kannten sich seit Jahrzehnten und waren längere Zeit Kollegen gewesen in der Kulturredaktion der SED-Zeitung. Der Hinstorff-Verlag trat am 2. Februar 1978, wie von Klaus Höpcke gewünscht, von seinem Vorhaben zurück. Die Übersetzerin freilich setzte ihre Arbeit fort und lieferte die Übersetzung, wie es der abgeschlossene Vertrag vorsah, im Mai 1978 ab. Ihrer Bitte um Aufhebung des Arbeitsverhältnisses mit dem Verlag als Lektorin wurde zum Jahresende 1978 entsprochen.

Im Leipziger Reclam-Verlag plante man zur gleichen Zeit eine Kierkegaard-Edition. Wie die dortige Lektorin Karin Gurst später wissen ließ, wurde ihr, um auch diese Ausgabe zu verhindern, lediglich eine Kopie des Briefes Klaus Höpckes an Harry Fauth vom 16. Januar 1978 vorgelegt. Das war eine deutliche Drohung und erinnert an die Zeit der Inquisition: Wenn ein halsstarriger Delinquent nicht aussagen wollte, rief der Foltermeister seinen Knechten zu: „Zeigt ihm die Instrumente!“, worauf der „Ketzer“ sofort aussagewillig war.

Auch nach ihrem Ausscheiden bei Hinstorff versuchte Gisela Perlet für die geplante Kierkegaard-Auswahl einen Verlag zu finden. Es war nicht ihre Absicht, was Harry Fauth und Klaus Höpcke offensichtlich befürchteten, den Fall „Sören Kierkegaard“ außer Landes zu schleusen und in der Bundesrepublik Deutschland publik zu machen. Zweifellos wäre ihr das möglich gewesen, aber das hätte ihr gewaltigen Ärger, wenn nicht die Ausbürgerung, eingebracht. Sie wollte das Frühwerk des dänischen Philosophen DDR-Lesern vorstellen, mehr nicht. Mit Sicherheit aber hatte die Rostocker „Staatssicherheit“ eine Akte angelegt, zu deren Durchsicht Gisela Perlet leider nicht mehr gekommen ist. Mit Zustimmung, man staune, der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ostberliner Ministerium für Kultur wurde Gisela Perlets Übersetzung vom Gustav-Kiepenheuer-Verlag/Leipzig-Weimar übernommen, der 1980 mit Herausgeber Wolfgang Heise und der Übersetzerin neue Verträge abschloss und dem Hinstorff-Verlag in Rostock alle entstandenen Unkosten ersetzte.

Das sah alles recht vielversprechend aus, denn der neue Verlag war eine private Institution, wenn auch Verlagsleiter Roland Links (1931-2015) SED-Mitglied war. Wolfgang Heise freilich, der als Herausgeber und Vorwortverfasser der Kierkegaard-Auswahl vorgesehen war, erkrankte schwer und starb schließlich 1987 im Alter von 62 Jahren an den Folgen eines Herzinfarkts, weshalb der Verlag schon 1985 den Vertrag mit ihm aufgelöst hatte. Als neuer Vorwortschreiber wurde nun Prof. Dr. Walter Jopke (1938-1997) vom „Franz-Mehring-Institut“ der Leipziger Karl-Marx-Universität ausgewählt, der die denkbar schlechteste Möglichkeit war. Er war durch und durch Marxist-Leninist und war an der Ostberliner Humboldt-Universität mit einer Arbeit des Titels „Ideologischer Klassenkampf und sozialistisches Bewusstsein“ (1971) promoviert worden. Sein Lehrgebiet in Leipzig war „Kritik der gegenwärtigen bürgerlichen Philosophie“. Vom Verlag wurde der Übersetzerin Gisela Perlet die Kontaktaufnahme mit Walter Jopke ausdrücklich untersagt, sein Vorwort für die Textauswahl wurde ihr vom Verlag nicht zugänglich gemacht, weil es vermutlich nie geschrieben worden war.

Nachdem Gisela Perlet mehrmals um Einsicht in den Einleitungstext Walter Jopkes gebeten hatte, immer ohne Erfolg, schrieb sie am 10. Dezember 1986, immerhin mehr als sechs Jahre, nachdem der Vertrag geschlossen worden war, an Klaus Höpcke und bat um Auskunft, die unverhältnismäßig lange Verzögerung betreffend. Statt seiner antwortete ihr ausweichend am 10. Januar 1987 Karlheinz Selle, Leiter der Abteilung Belletristik im Ministerium für Kultur. Er erklärte weitschweifig, dass zurzeit von einer „interdisziplinären Arbeitsgruppe“ Konzeptionen zur Erschließung des „spätbürgerlichen“ Erbes in der Philosophie („zu dem ja auch Kierkegaard gehört“) entwickelt würden, dass also „genauere Auskunft erst nach einem Ergebnis in diesem Gremium möglich“ sei. Und er schloss seinen Brief mit der Floskel ab: „Bitte, haben Sie Verständnis für diese Verfahrensweise. Ich bin überzeugt, dass Ihre Übersetzungsarbeit in gar keinem Fall umsonst war.“ Ein zweiter Brief vom 9. April 1987 wurde nicht mehr beantwortet.

Warum von den „Erbe“-Ideologen im SED-Staat das philosophische Werk Sören Kierkegaards als „spätbürgerlich“ eingeschätzt wurde, blieb ungeklärt. Schließlich stand das Bürgertum, auch in Dänemark, um 1850 in seiner Aufstiegsphase, Verfallserscheinungen waren allenfalls um die Jahrhundertwende zu beobachten. Am 31. August 1987 schickte der Gustav-Kiepenheuer-Verlag in Leipzig die Kopien zweier Briefe an Gisela Perlet in Rostock. In der ersten Briefkopie war eine Anordnung an den Verlag zu lesen, die auf eine Weisung des Juristen Prof. Dr. Gregor Schirmer (SED) zurückging, wonach „bis zur Fertigstellung einer umfassenden Konzeption zum Umgang mit spätbürgerlichen Ideologen“ alle Manuskripte und Textausgaben den „fachlich zuständigen Wissenschaftlichen Räten zur Begutachtung vorzulegen“ seien. Die zweite Briefkopie enthielt eine Bitte von Roland Links an Walter Jopke um einen Gesprächstermin, da der Einleitungstext noch immer nicht beim Verlag eingetroffen war. Am 30. November 1987 wurden dann der Übersetzerin einige Thesen Walter Jopkes, aber kein Einleitungstext zugeschickt, die, wie ihr mitgeteilt wurde, dem „Wissenschaftlichen Rat“ bereits vorlägen. Diese Thesen hätten, so Gisela Perlet, keinerlei Bezug zur Textauswahl, sondern erklärten den dänischen Philosophen Sören Kierkegaard einfach zum „Reaktionär“, wie er auch in „Meyers Neuem Lexikon“ beschrieben wird. Ähnlich dem „Bücherminister“ Klaus Höpcke war offensichtlich auch Walter Jopke völlig überfordert, sich der Kierkegaardschen Philosophie anzunähern. Ihre Urteile bezogen sie aus der Klassenkampfideologie, da waren „Reaktionäre“ höchst überflüssig bei der Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft! Also „ins Nichts mit ihm“ (Bertolt Brecht). Eine von Gisela Perlet erbetene Stellungnahme des Verlags zu diesen merkwürdigen Thesen wurde abgelehnt. Daraufhin forderte sie die Auflösung des Vertrags mit dem Verlag, dem wurde unverzüglich entsprochen. Es versteht sich fast von selbst, dass der Gustav-Kiepenheuer-Verlag in Leipzig ein halbes Jahr später, also im Herbst 1988, den Auftrag zur Übersetzung der Tagebücher Hans Christian Andersens (1805-1875) aufkündigte. Die bis dahin noch nie ins Deutsche übertragenen Tagebücher sollten in einer zweibändigen Ausgabe erscheinen. Diese „Tagebücher 1825-1875“ erschienen dann 1993, also fünf Jahre später, im Insel-Verlag/Frankfurt am Main.

Es gab weitere Bestrebungen in diesen letzten Jahren vor dem Mauerfall 1989, Texte Sören Kierkegaards in DDR-Verlagen zu veröffentlichen. So nahm sich 1980 der Ostberliner Union-Verlag des dänischen Schriftstellers an, wobei als Übersetzer der „Philosophischen Brocken“ und der „Unwissenschaftlichen Nachschrift“ der Schriftsteller und Pfarrer Alfred Otto Schwede (1915-1987) gewonnen werden konnte, von dem zwei Jahre nach seinem Tod das Buch „Die Kierkegaards“ (1989) erschien. Herausgabe und Bearbeitung der Texte hatten die beiden Hallenser Philosophen Prof. Dr. Hans-Martin Gerlach (1940-2011) und Dr. Uta Eichler übernommen. Sie lieferten ihre Arbeit im Herbst 1986 beim Verlag ab. Seit Februar 1986 bemühte sich der christliche Union-Verlag, der der Ost-CDU gehörte, zusätzlich um die Übersetzung des „Tagebuchs des Verführers“ (1843), das als Einzelausgabe erscheinen sollte. Die Reche dafür lagen allerdings beim noch immer Gustav-Kiepenheuer-Verlag, dessen Leiter Roland Links die Anfrage aus Berlin abschlägig beschied. Als Argument wurde angeführt, zunächst müsse der Text bei Gustav Kiepenheuer erscheinen, wofür aber aus literaturpolitischen Gründen bis zum Mauerfall 1989 keinerlei Aussicht bestand. Im April 1987 stellte der Union-Verlag für die beiden vorgenannten Kierkegaard-Schriften den Antrag auf Druckgenehmigung, dem wider Erwarten entsprochen wurde. Dennoch wurden sie nicht gedruckt, da angeblich, so Gisela Perlet, vom Ministerium für Kultur in Ostberlin die Druckgenehmigung nachträglich zurückgezogen worden war. Auch dieses Projekt blieb also im Gestrüpp der sozialistischen Bürokratie hängen!

Und dann kam am 9. November 1989 der Mauerfall in Berlin, der alles, auch die DDR-Verlagslandschaft, veränderte. Am 5. Dezember 1989 erbat der Leipziger Reclam-Verlag bei Gisela Perlet in Rostock eine Neuübersetzung des Buches „Der Begriff Angst“ (1844). Es sollten aber auch hier 18 Jahre vergehen, bis die Übersetzung im Jahr 2007 erscheinen konnte, nicht beim Reclam-Verlag in Leipzig, der am 31. März 2006 aufgelöst worden war, sondern beim Reclam-Verlag in Stuttgart. Beim Reclam-Verlag in Leipzig aber war schon 1992 die Übersetzung des Buches „Sören Kierkegaard. Eine kritische Darstellung“ des dänischen Literaturkritikers Georg Brandes (1842-1927) erschienen, mit dem Vermerk „bearbeitet und mit Anmerkungen versehen von Gisela Perlet“. Die Übersetzung selbst war anonym und stammte aus dem Jahr 1879, das Original war 1877 in Kopenhagen veröffentlicht worden.

Über Jörg Bernhard Bilke 261 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.