Als der israelischen Komponistin Chaya Czernowin vor dreißig Jahren bei „Tristan und Isolde“ in der Inszenierung von Götz Friedrich die Tränen flossen, wunderte, ja ärgerte sie sich beinahe über diese Art von Überwältigung. Jetzt ist sie mit ihrem neuesten Bühnenwerk an die Deutsche Oper zurückgekehrt und erforscht das uralte Opernthema der Liebe mit ganz neuen Klängen. Was man in der traditionellen klassischen Musik als substantiell empfindet, nämlich Melodie, Harmonik, Rhythmus, kommt in „Heart Chamber“ nur in Fragmenten vor. Stattdessen befindet sich der Opernbesucher in einem Surround-System von Geräuschen und Klängen, in dem der Gesang nur Impulse gibt. Was zwei Menschen, die sich begegnen, sich verlieben, in eine Krise geraten und wieder finden, wird gesprochen, geflüstert und selten gesungen, dafür mehrstimmig überlagert, und durch das Glissando-Singen des Chores ergänzt. Es gibt keine Szenen im konventionellen theatralischen Sinn, stattdessen „Close ups“ (so benannt im Libretto von Caya Czernowin), die an Film erinnern.
Die heute in Harvard lehrende Komponistin, 1957 in Haifa geboren, hat bereits zwei große Werke für die Bühne komponiert: „Pnima“ (2000), das von der Münchener Biennale in Auftrag gegeben und in der Zeitschrift „Opernwelt“ als beste Premiere des Jahres ausgezeichnet wurde, und „Adama“ (2004-2005) als Auftragswerk zu Mozarts 250. Geburtstag bei den Salzburger Festspielen. Czernowins musikalische Produktion umfasst Kammer- und Orchestermusik mit und ohne Elektronik. Ihre Werke werden erfolgreich auf vielen großen Festivals für zeitgenössische Musik in Europa, Asien, Australien und in den USA aufgeführt. Speziell für die Opernbühne hat sie neue Maßstäbe gesetzt.
„Meine Welt ist fast autistisch“, bekennt die Künstlerin in Berlin, und sie ist froh zum dritten Mal mit dem Regisseur Claus Guth und zum wiederholten Mal mit dem Bühnenbildner Christian Schmidt und den Dramaturgen Yvonne Gebauer und Dorothea Hartmann zusammenzuarbeiten,
Auf einer riesigen Treppe begegnen sich Mann und Frau zum ersten Mal. Es sind Großstadtmenschen wie das Video, aufgenommen in der Wilmersdorfer Straße, zeigt. Aber die radikale Offenheit, in die sich das Paar durch die Liebe begibt, birgt auch Gefahren und führt zu Veränderungen. Euphorie und Angst, das ist der Stoff, aus dem auch Träume sind. Für die Erforschung des Seelenlebens und die Achterbahn der Gefühle bemüht Chaya Czernowin deshalb einen ungewöhnlichen Klangapparat. Zu der Orchestermusik aus dem Graben (Leitung:Johannes Kalitzke) bewegen sich aus dem Parkett, wo vom Experimentalstudio des SWR der neueste Soundbeamer auf das Publikum gerichtet ist, Klänge durch den Raum, und in den Logen mit dem Ensemble Nikel mit Percussion, E-Gitarre, Klavier und Saxophon kommt es zu außergewöhnlichen Klangballungen. Magische Momente können so entstehen und dramatische Höhepunkte, Uli Fussenegger mit dem Kontrabass, ebenfalls außerhalb des Orchestergrabens, und noch eine Stimme zusätzlich zur Sänger-Verdopplung mit den inneren Stimmen der Protagonisten ergänzen das außergewöhnliche Klangerlebnis.
Kann man ein Seelenleben hörbar machen? Könnte das auch ohne die großflächigen Videoeinspielungen von rocafilm funktionieren? Das Surren eines Bienenschwarms, der sich im Video sichtbar über ein Haus legt, die Mischung aus akustischen und visuellen Erlebnissen also, dazu die Nahaufnahmen wie im Film und die Drehbühne zwischen Abstraktion und Wirklichkeit, das alles macht für den Opernbesucher die Liebesgeschichte als Gratwanderung zwischen Glück und Gefahr erlebbar. Der Treibstoff ist die Musik, die Inszenierung die Vollendung. Zum Schluss ist die Midlife Crisis überwunden, Herbstlaub liegt auf der Bühne, und die Frau sagt nur noch:“I live you“.
Starker Applaus belohnte diese sich jeglicher Operntradition entziehende Aufführung. Aber der ein oder andere Besucher mag doch bedauern, dass das Solisten-Quartett (Patrizia Ciofi, Noa Frenkel, Dietrich Henschel und Terry Wey) wenn auch neu gefordert gesanglich unterfordert war.