Kein Buch für Westleser – Jenny Erpenbecks Roman „Kairos“

Der vierte Roman „Kairos“ der Ostberliner Schriftstellerin Jenny Erpenbeck erschien vor drei Jahren und wurde von der Literaturkritik wohlwollend aufgenommen.

Der vierte Roman „Kairos“ der Ostberliner Schriftstellerin Jenny Erpenbeck erschien vor drei Jahren und wurde von der Literaturkritik wohlwollend aufgenommen. Die Enkelin des kommunistischen Emigranten und späteren SED-Politikers Fritz Erpenbeck (1897-1975), der am 30. April 1945 mit der „Gruppe Ulbricht“ aus dem Moskauer Exil ins zerstörte Nachkriegsdeutschland gekommen war, hatte seit 2008 mit der Veröffentlichung dreier Romane und anderer Prosatexte  ausreichend bewiesen, dass sie gute Literatur schreiben konnte, welche zudem mit acht Literaturpreisen gewürdigt wurden, darunter mit dem „Thomas-Mann-Preis“ (2016) und dem „Uwe-Johnson-Preis“ (2023) für den Roman „Kairos“ (2021). Gewaltigen Auftrieb aber bekam der Roman 2024 durch die Verleihung des „Internationalen Booker Prizes“ in London.

Geboten wird dem Leser hier auf 369 Seiten eine aufregende Liebesgeschichte in den Jahren 1986/92, den Mauerfall vom 9. November 1989 eingeschlossen, deren Drastik noch dadurch verschärft wird, dass der verheiratete Liebhaber 34 Jahre älter ist als seine Geliebte und zudem, das beichtet er ihr freimütig schon am ersten Abend, noch eine weitere Geliebte hat. Das alles geschieht vor der Kulisse der geteilten Stadt Berlin und beginnt am 11. Juni 1986. Als Hans W., der Kettenraucher ist und ständig Schnäpse zum Kaffee trinkt, sechs Jahre später stirbt, ist die Liebesbeziehung längst erloschen, Katharina erfährt von seinem Tod während einer Reise in Pittsburgh/Pennsylvania.

Was den Westleser merkwürdig berührt, ist das geschichtsferne Leben des ungleichen Paares. Beide Protagonisten sind offenbar überzeugte DDR-Bürger, auch wenn sie ihrem Staat die Ausbürgerung Wolf Biermanns im Herbst 1976 nicht verzeihen können und sich über ein Aufbaugedicht des Parteibarden Kurt Barthel lustig machen. Als die 19jährige Katharina wider Erwarten für eine Woche zum 70. Geburtstag ihrer Großmutter nach Köln fahren darf, hat sie danach  nichts über ihre Westreise zu erzählen, außer, dass sie an einer Kölner U-Bahnstation vier Bettler gesehen hat, was sie erschüttert! Und dass sie in der Innenstadt einen Sexshop besucht hat, was sie entsetzt! Auf diese beiden Beobachtungen reduziert sie die Möglichkeiten, die ein demokratischer Staat bietet, in dem alle vier Jahre, im Unterschied zur SED-Diktatur, freie und geheime Wahlen stattfinden. Dass in diesen sechs Jahren ihrer Liebe der SED-Staat untergeht, dass in Leipzig jeden Montag bis zu 70 000 Demonstranten über den Ring ziehen, dass in Ostberlin aufbegehrende Jugendliche verprügelt und festgenommen werden: Nichts davon kommt in diesem Buch vor!

Was aber vorkommt, sind kleine, für den Westleser unverständliche Andeutungen, die man erklären muss. So heißt es schon auf der fünften Seite: „Bei den Ungarn soll es den Lukacs geben.“ Gemeint ist das „Ungarische Kulturzentrum“ in der Ostberliner Dorotheenstraße, wo es Bücher und Schallplatten gab, die man anderswo nicht kaufen konnte. Für DDR-Intellektuelle war diese Mitteilung über Lukacs eine elektrisierende Information, denn der marxistische Literaturwissenschaftler Georg Lukacs (1885-1971) in Budapest war während des Ungarnaufstands im Herbst 1956 Minister in der Revolutionsregierung von Imre Nagy, entging nur knapp der Exekution und galt fortan in SED-Kreisen als „Konterrevolutionär“, seine Bücher durften nicht mehr gedruckt werden, und aus den Bibliotheken wurden sie aussortiert.

Dieser ältere Herr, der Katharinas Vater sein könnte, ist aber auch ein erfahrener Frauenverführer, der sich seine Geliebte gefügig macht, indem er sie in sein früheres Leben einweiht. So erzählt er ihr, dass er 1939 im Alter von sechs Jahren mit seinen Eltern auf einem Schiff aus der lettischen Hauptstadt Riga in den „Warthegau“ verbracht wurde, wo sein Vater eine Professur an der „Reichsuniversität Posen“ zugewiesen bekam. Die historischen Hintergründe aber verschweigt er: Im geheimen Zusatzabkommen zum Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 wurden Estland und Lettland der Sowjetunion zugesprochen, die deutsche Minderheit dort wurde „ins Reich“ umgesiedelt. Die Eltern von Hans W. flohen gegen Kriegsende nach Göttingen, wo sein Vater wieder eine Professur innehatte. Der Sohn siedelte gegen den Willen seines Vaters 1951 nach Ostberlin über. In den DDR-Geschichtsbüchern wurde die Kooperation 1939/41 zwischen Stalin und Hitler nie erwähnt!

Dass Hans W. ein Psychopath ist, der seine Geliebte mit ständigen Vorwürfen quält, erschließt sich dem Leser in der Szene am Bahnhof Frankfurt/Oder, als er ihr die Liebe aufkündigt. Sie fällt ins Bodenlose und ist dem Selbstmord nahe, dennoch versöhnen sie sich. Er geht zum Psychiater, wo er aber kaum über seinen Seelenzustand spricht, sondern über den Dichter Friedrich Hölderlin, der von 1806 bis zu seinem Tod 1843 in geistiger Umnachtung in Tübingen lebte. Der Arzt fragt, warum Hölderlin wahnsinnig geworden ist, und Hans W. antwortet: „Und ob überhaupt.“ Dahinter steckt die von dem französischen Germanisten Pierre Bertaux in seinem Buch „Hölderlin und die Französische Revolution“ (1969) aufgestellte und von der DDR-Germanistik übernommene These, dass Hölderlin begeisterter Anhänger der Französischen Revolution von 1789 war und als heimlicher Jakobiner in der deutschen Provinz seine Umnachtung nur vortäuschte, um nicht verfolgt zu werden.

Einmal unternimmt das ungleiche Paar auch eine Reise nach Moskau und läuft stundenlang durch die Hauptstadt der Weltrevolution. Irgendwo stoßen sie dann auch auf das Hotel Lux, das heute einen anderen Namen hat, an dem sie aber vorbeigehen. Auch das ist eine Anspielung! Im Text heißt es: „Gehen die Uliza Gorkowa hinauf, vorbei an der Nummer 10, in der das Hotel Lux war. Jetzt heißt es Zentralnaja.“ Dieser Satz steht doch nicht ohne jede Absicht in diesem Roman! Wer sich in der Geschichte der stalinistischen Säuberungen 1936/38 auskennt, der weiß, dass das Hotel damals mit kommunistischen Emigranten aus Deutschland überbelegt war. Johannes R. Becher (1891-1958), der spätere DDR-Kulturminister, war einer von ihnen, ein anderer Herbert Wehner (1906-1990), der spätere SPD-Politiker. Jede Nacht polterten die Verhaftungskommandos des Geheimdienstes NKWD durch die Gänge und nahmen unschuldige Leute mit, die, wenn sie Glück hatten, für Jahrzehnte in einem Zwangsarbeitslager verschwanden, falls sie nicht sofort erschossen wurden.

Dieses Buch steckt voller Anspielungen auf das zweigleisige Denken von DDR-Intellektuellen, die genauestens Bescheid wussten darüber, was in ihrem Staat an Ungesetzlichem geschah, die es aber nicht oder nur verschlüsselt artikulieren durften.

Nach der Rückkehr aus den Vereinigten Staaten nimmt sie Einsicht in die Stasi-Akte ihres verstorbenen Geliebten. Warum ihr das als nicht verwandter Person gestattet wird, erfährt man nicht. Sie liest mit Entsetzen, dass er schon 1964, drei Jahre vor ihrer Geburt, angeworben wurde. In der konspirativen Wohnung „Sonnenschein“ in Ostberlin hat er dann seine Verpflichtungserklärung unterschrieben und wurde „inoffizieller Mitarbeiter“ mit dem Decknamen „Galilei“. Nach der Ausbürgerung Wolf Biermanns am 16. November 1976 ist sein Verhältnis zur Staatssicherheit „Schwankungen“ unterworfen. Zwölf Jahre später, 1988, ein Jahr vor dem Mauerfall, wird seine Mitarbeit wegen „Perspektivlosigkeit“ eingestellt. Ob er auch seine frühere Geliebte ausgeforscht hat, wird nicht ersichtlich, immerhin hat er seine „Spesen“, wenn er mit ihr in vornehmen Restaurants einkehrte, mit dem Geheimdienst abgerechnet.

Jenny Erpenbeck „Kairos“, Roman, Penguin-Verlag, 384 Seiten, 14.80 Euro, München 2023

Der vierte Roman „Kairos“ der Ostberliner Schriftstellerin Jenny Erpenbeck erschien vor drei Jahren und wurde von der Literaturkritik wohlwollend aufgenommen.

 

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Über Jörg Bernhard Bilke 263 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.