Steffen Möller: Vita Classica.Bekenntnisse eines Andershörenden. Scherz (Frankfurt am Main): 2009. 478 Seiten. Euro (D) 14,95. ISBN: 978-3-502-15168-5.
Steffen Möller ist Polens beliebtester Deutscher, und einer der bekanntesten. Mag sein Stern zuletzt im Sinken sein, wie Möller selbst freimütig einräumt, als Kabarettist – und als deutscher Kartoffelbauer der Daily Soap „M jak miłość“ – hat Steffen Möller mehr zur Verständigung der beiden Völker beigetragen als sämtliche Bundeskanzler, Willy Brandt ausgenommen. (Es fügt sich, dass sein Warschauer Wohnsitz in Sichtweite des Getto-Mahnmals gelegen war, der Stätte des „Kniefalls“.) Die Kunde von Möllers ungewöhnlicher Karriere auf polnischen Bühnen und Bildschirmen ist jüngst auch nach Deutschland gedrungen. Als Gast in mancherlei Talkshows zwischen Anne Will und Stefan Raab hat Möller um Verständnis für polnische Sichtweisen geworben, so in der leidigen Causa Erika Steinbach. Dass seine autobiographisch untermauerte Landeskunde Viva Polonia. Als deutscher Gastarbeiter in Polen (2008) in Deutschland zum Bestseller wurde, muss als Glücksfall fürs deutsch-polnische Verhältnis gelten. Fast möchte man sagen, Möller holt für Deutschland die Kartoffeln aus dem Feuer – dies nicht nur im Fernsehen –, wetzt Scharten aus, die Steinbach und Schröder mutwillig, eigensüchtig, ignorant geschlagen haben. Das Bundesverdienstkreuz (2005) steht ihm wie wenigen zu. Nun ist Steffen Möller ein zweites Mal als Buchautor hervorgetreten: Bei Scherz ist Vita Classica – Bekenntnisse eines Andershörenden (2009) erschienen. Der Band wird doppelsinnig als „klassisches Outing“ avisiert, denn Möller hat vierzigjährig einen Lebens(hälften)rückblick vorgelegt und widmet sich vor allem – klassischer Musik. Vita Classica muss gegenüber Viva Polonia – trotz aller unbestrittenen Meriten – fast unvermeidlich abfallen, denn als deutscher Polen-Liebhaber mit schriftstellerischer Begabung ist Möller ein wahres Rarissimum, und seine Polen-Beschreibung ad usum teutonicorum per se von hohem Belang. Als Liebhaber ernster Musik gehört er gewiss einer Minderheit an, wiewohl einer bildungsstolzen und keineswegs unbedeutenden: Manch anderer hätte Bekenntnisse eines Andershörenden zu schreiben vermocht, und unter anderem Titel mögen dergleichen Bekenntnisschriften längst niedergelegt worden sein. Wohlgemerkt: ‚Misslungen’ sind Möllers Einlassungen zur klassischen Musik nicht – er spielt Klavier und weiß, wovon er spricht, dies ohne dem Leser mit fachsprachlicher Prätention oder feuilletonistischen Worthülsen zur Last zu fallen. Sein emphatischer Gestus – samt idiosynkratischer CD-Empfehlungen – ist beglaubigt durch Empfindung und reich dokumentiertes musikkonsumptorisches Suchtverhalten. Wenn Steffen Möller, der Pastorensohn, eine verworfene Seele für ernste Musik zu gewinnen vermag, so hat sich alle Mühsal ausgezahlt.
„Meinem Vater war vieles an meinem Buch zu langatmig erzählt.“ (454) Möller senior – Pastor von Beruf – legt den Finger in die Wunde, denn in der Tat: Vita Classica ist weder Fisch noch Fleisch, stattdessen von allem ein bisschen, recht umfangreich und disparat: Es finden sich Exkurse zur Diskographie und Krankengeschichte einzelner Musiker, polenkundliche Digressionen, (diskrete) Reminiszenzen an Kindheit und Jugend, ans friedensbewegte westdeutsche Milieu der achtziger Jahre, auch manche Passage, die Fäden aus Viva Polonia aufnimmt und fortspinnt. (So wird mancher Einblick ins polnische Medienwesen geboten: Möller wurde die Ehre zuteil, die polnische Version von „Wetten dass…“ zu moderieren.) Der erste Lebensbericht wird gleichsam nach beiden Seiten ergänzt: in die Vorvergangenheit der achtziger und neunziger Jahre und in die Gegenwart der Jahre nach Drucklegung Viva Polonias. Symptomatisch sind die zahlreichen abrupten Übergänge: Vom Papstbegräbnis über Dwójka, Polens Klassiksender, zu Bruckners „Schnurrbärtchen“ – dies alles auf einer Seite (370). Möller greift weit aus, auch geographisch: bis hin zu eigenen Sibirien- und Amerika-Reisen. Die Beziehung aufs „Klassische“ seiner „Vita“ scheint nicht selten etwas konstruiert.
Auch wird das Schicksal jugendlicher Klassik-Hörer übermäßig dramatisiert, wenn vom Zwang zur „inneren Emigration“ die Rede geht. Solches Pathos, mag es ironisch gebrochen sein, tönt hölzern. Wohlgemerkt: An Humoräußerungen, auch solchen subtilerer Art, herrscht kein Mangel, wenn Möller beispielweise von seiner jugendlichen Adorno-Lektüre berichtet: „Schönberg, Berg und Webern, Beethoven und Mahler – das waren laut Adorno die Widerstandsnester, aus denen man die Kraft beziehen konnte, die Zurichtung des Menschen zum Strichcode aufzuhalten. Mit einem Schlag war meine Pubertät gerechtfertigt. Es war also doch richtig gewesen, am Freitagabend nicht nach Düsseldorf zur Bhagwan-Disco mitzufahren, sondern in der Stadthalle zu sitzen.“ (140) Von unübertrefflicher Komik ist schließlich das Zusammentreffen Martin Stadtfelds, des jungen deutschen Pianisten, mit Stefan Raab in dessen Late-Night-Show „TV Total“. Möller, der selbst in „TV total“ auftreten ‚durfte’, tut gut daran, die komplette, viertelstündige Begegnung im Wortlaut abzudrucken – sei es, um die Kollision zweier musikalischer Welten, von ‚E’ und ‚U’, darzustellen, sei es mit komödiantischem Impetus. Der Dialog füllt zehn Seiten – mit bestem (un)freiwilligem, wunderbar albernem Witz:
„Raab: … mmm … Sie sind aber sehr absolutistisch unterwegs, Herr Stadtfeld!
Stadtfeld: Herr Raab …
Raab: … ich find ja zum Beispiel Mozart, ich sag’s gerne und immer wieder, ich finde ja Mozart ein bisschen überschätzt … […] Mozart hat mit Sicherheit auch die einen oder anderen guten Sachen gemacht, die Kugel zum Beispiel. […]
Stadtfeld: Sie würden es nicht schaffen, in Ihrem ganzen Leben nur die Noten aufzuschreiben, geschweige denn…
Raab: … nee, weil ich gar keine Note kann! […]
Stadtfeld: Bach ist meine Leidenschaft […]. Und wenn ich kein Klavier spielen würde, dann würde ich trotzdem jeden Abend die Matthäus-Passion hören.
Raab: Die Matthäus-Passion ist aber jeden Abend – das ist aber wirklich mal … also … um mal dufte draufzukommen, ist die Matthäuspassion nicht unbedingt gerade das Gelbe vom Ei, oder?
Stadtfeld: Wissen Sie …
Raab: Da hör ich mir aber lieber – ich hör mir zwar auch mindestens zwei-, dreimal die Woche die Matthäus-Passion an – aber ich höre auch zum Beispiel DJ Ötzi.“ (412ff)
Das Beste zuletzt: Steffen Möller kann schreiben. Auf annähernd 500 Seiten jeden Satz gedanklich wie rhythmisch exakt auszuformen, ist menschenunmöglich. Kein Leser wird daran Anstoß nehmen, dass nicht jede Formulierung vom höchsten Karat ist. Möllers Duktus entscheidet: Er garantiert, dass viele dieses Buch, das hoffentlich nicht Möllers letztes ist, mit einigem Vergnügen, womöglich mit Gewinn, zu Ende lesen werden. Auch finden sich in Vita Classica Augenblicke höherer Wahrheit. Sie bringen Kulissen zum Einsturz, und dafür sind Möller Kränze zu flechten:
„Schluss-Scham? […] Wer ‚Bekenntnisse’ ankündigt und dann nicht mehr zu bieten hat als ein paar harmlose Bruckner-Elevationen – dem steht ein bisschen Scham wohl an […]. Doch halt! Dafür, dass meine Vita Classica nur so strotzt vor Harmlosigkeit, schäme ich mich gar nicht. […] Wer sagt, dass Bruckner-Elevationen weniger wert sind, nur weil sie unter das Verdikt ‚brav’ fallen? Vielleicht ist die Welt ja so eingerichtet, dass es Elevationen gibt, die nur den Braven vorbehalten sind? […] Außerdem scheint mir, dass die Harmlosigkeit ein schönes Privileg […] meiner ganzen Milchbubi-Generation [ist]. Uns ist vergönnt, im Paradies musikalischer Parallelwelten zu leben; im friedlichen Europa dürfen wir Dauerfestivalgäste sein, die sich an musikalischen Geschmacksfragen abarbeiten – „Ästhetizismus“ hieß es noch vor hundert Jahren, Schönwetterfußballer wäre ein aktuellerer Ausdruck.“ (457)
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