Karl Ove Knausgård. Im Frühling. Mit Bildern von Anna Bjerger

Blumen, Foto: Tine Vogeltanz

„Liebe ist viel, das Meiste an ihr ist flüchtig, verbunden mit allem, was geschieht, allem, was kommt und geht, allem, was uns erst erfüllt, uns dann entleert, aber die bedingungslose Liebe ist konstant und glüht schwach das ganze Leben hindurch, …“ (S. 10)
Das innige Bekenntnis des Ich-Erzählers, der zugleich die vielschichtige Rolle eines Vaters übernimmt, hinterlässt bereits in den Eingangspassagen des Romans beim Leser ein Gefühl des Zutrauens und der Geborgenheit gegenüber dem Erzählten. Es sind die Reflexionen, die der Autor als Ich-Erzähler seinem etwa dreimonatigen Kind zuflüstert: „Ich bin dein Vater, und du kennst mein Gesicht, meine Stimme und die verschiedenen Arten, wie ich dich halte…“. Und noch bevor der mit dem Ich-Erzähler im Einklang befindliche, Harmonie suchende Leser den Schulterschluss mit „seinem“ Erzähler vollziehen kann, wird er mit einem anderen Erfahrungsstrom konfrontiert. Unvermittelt wird er mit einer Wirklichkeit konfrontiert, die der Erzähler als Kind seines ständig alkoholisierten Vaters erleben musste. Dieser abrupte Wechsel von Erfahrungswirklichkeiten gehört zu den besonderen Merkmalen eines Romans, in dem fast alle Protagonisten aus dem engen Umkreis der Familie des Autors und der Familie selbst stammen. Mit ihnen kommuniziert Karl Ove am laufenden Band, redet mit dem Allerjüngsten in dessen vermuteter Welt, kümmert sich um den Haushalt, bringt seine beiden Ältesten zur Schule, kauft ein, geniest seine Zigaretten in den wenigen Minuten, in denen der Säugling gerade mal schläft, beschreibt minutiös, wie er sein wieder aufgewachtes KInd wickelt und fährt auch schnell mal zwischendurch ins Krankenhaus, um seiner Frau kurz Hallo zu sagen. Wie schafft er das nur – ohne Haushaltshilfe -mit seinem Zeithaushalt, der erfolgreiche Schriftsteller, der jedes Jahr mehrere Bücher auf den Markt bringt?

Er begnügt sich nicht nur mit der umfassenden Beschreibung seines Alltags, nein, er setzt sich mit den Tücken von Kindererziehung auseinander, denkt über die Eigenart einer Persönlichkeit nach, bestreitet die doppelte Existenz einer solchen in einer Person, nimmt die Figur des Basarow aus Turgenjews Roman „Vater und Söhne“ ins Visier, indem er dessen vergebliche Liebesbemühungen um Anna Odinceva kommentiert (Nihilismus lehnt die leibliche Liebe ab!), macht trivialpsychologische Anmerkungen über Völkermentalität bei Ukrainern und Russen, äußert sich über die Transplantation von menschlichen Organen, was seiner Ansicht nach ebenso falsch sei wie Gene zu manipulieren, redet manchmal auch ziemlichen Stuss, wonach zum Beispiel statische Gedanken in statischen Körpern entstehen, verweist auf den norwegischen Schriftsteller Jens Bjorneboe, der in seinem spektakulären Roman „Jonas“ einen Aspekt der Geschichte der Bestialität dargestellt habe. Ja, dieser Schriftsteller ist weitschweifend, tiefsinnig, umtriebig und seine Visionen erfassen unterschiedliche Wahrnehmungsräume. Und augenscheinlich folgen viele seiner Leser/innen seinen dargestellten Tagesaktivitäten – und seiner Nachtbewältigungsmetaphorik mit großer Hingabe und Empathie.

Ein Beispiel für die kongeniale Verbindung von Alltagsbewältigung als besorgter Vater von drei Kindern, deren Mutter gerade in eine langwierige Depressionsphase geraten war, und seiner nächtlichen Arbeit an Manuskripten ist eine lange Romanpassage, in der es um einen Vortrag zum schriftstellerischen Werk von Ingmar Bergmann geht. Der damals bereits verstorbene weltberühmte Schriftsteller und Filmregisseur, für Knausgård eine „derart mythologische Gestalt“, dass „es einem kaum vorstellbar erschien, dass er tatsächlich rein physisch existierte“ (S. 121), ist Gegenstand einer Tagung auf der Insel Farö. Der Ich-Erzähler beschreibt minutiös die Anfahrt zur Insel, die Freude seiner Kinder über den Sandstrand und über das Sommerhaus von Bergmann, in dem der Schriftsteller zwecks Vorbereitung auf seinen Vortrag mit seiner Familie lebt, sein unermüdliches Wirken im Haushalt … Und plötzlich taucht er ab in die Erinnerung an seine erste Bekanntschaft mit dem Werk des Meisters, äußert sich über dessen Romane Einzelgespräche und Die besseren Absichten und redet über seine gewonnene Erkenntnis, dass akademisches Wissen „ein Schutz gegen das nackte Leben“ sei. In solchen Passagen zeichnet sich das poetologische Lebensmodell des norwegischen Erfolgsautors ab. Es ist die minutiöse Auseinandersetzung mit völlig unterschiedlichen Lebenssituationen im Dialog zwischen den Generationen, das geduldige Aufspüren von Über-Lebensmodellen bis an die Grenze des Schmerzes beim intuitiven Erfassen des anderen Leides. Das bedeutet: Im Frühling, so der Romantitel, läuft der Kampf um das Überleben seines vierten Kindes im Leib der schwer depressiven Ehefrau ab, und das nackte Leben siegt dabei über die akademische Wahrheit. So vieldeutig eine solche Behauptung auch ist, die Aquarellbilder der schwedischen Künstlerin Anna Bjerger auf der Grundlage von anonymen Fotografien und Naturmotiven, die viele Bücher von Knausgård illustrieren, spüren auch in diesem Band dem schimmernden Grün von Bäumen und Pflanzen und den schemenhaften Gesichtern von Protagnisten nach, die an dem willkürlichen und-hoffnungsträchtigen Überlebensprozess beteiligt sind.

Karl Ove Knausgård. Im Frühling. Mit Bildern von Anna Bjerger. Aus dem Norwegischen von Paul Berf. München (Luchterhand) 2018, 250 S., 22,00 €. ISBN 978-3-630-87512-5.

 

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