Karl Friedrich Borée. Ein Abschied. Roman

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„Nach den Erfahrungen bis 1945 und angesichts anhaltender Bedrohungen durch Diktaturen und Kriege war die geistige Wirkung, die Borée erzielen wollte, klar ausgerichtet auf eine radikale Wahrhaftigkeit in der Betrachtung der Ereignisse in Deutschland …“ (S. 171). Das Nachwort von Axel von Ernst zu dem Roman „Ein Abschied“ aus dem Jahr 1951 bringt es auf einen entscheidenden Punkt in der zeithistorischen Wertung der vorliegenden Wiederauflage. Der 1886 in Görlitz geborene Karl Friedrich Boree, ein Bestsellerautor in den 1930er Jahren, der während der Nazizeit trotz Publikationsverbot sich weiter journalistisch betätigen durfte, hat nach 1945 in zwei von der bundesrepublikanischen Öffentlichkeit kaum wahrgenommenen Romanen die Lehren aus der nationalsozialistischen Katastrophe gezogen: „Frühling 45 – Chronik einer Berliner Familie“ (1954) und „Ein Abschied“ (1951). In beiden Romanen bekennen sich Protagonisten zu einer vorbehaltlosen, ungeschminkten Aufarbeitung der vor allen von rechtsradikalen Demagogen hervorgebrachten Geschichtsverfälschungen mit dem Ziel einer radikalen Aufklärung der Geschehnisse nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs.

Zu Beginn der Romanhandlung befindet sich Marian Burger in „Ein Abschied“ in einer gleichsam privilegierten Lage. Noch darf er in Königsberg bleiben, während der überwiegende Teil der Bevölkerung in den Apriltagen 1945 bereits auf der Flucht vor der Roten Armee ist. Als Chemiker in einer Zellstoff-Fabrik am Stadtrand tätig, war er aufgrund eines Herzleidens und seiner beruflichen Spezialisierung vom Wehrdienst befreit, zumindest solange, bis auch ihn die „Werwölfe“ zum Zivildienst einziehen. Burger, der sich den ideologischen und politischen Zwangsverhältnissen in Nazi-Deutschland unter der Schutzmaske seiner Professionalität entzogen hatte, wird nunmehr auch in den Strudel der Auflösung des Dritten Reichs gezogen. In dieser, auch für ihn lebensbedrohlichen Situation hilft er, wo immer er kann. Er versucht seine Frau Sylvia noch rechtzeitig aus dem militärischen Ring um Königsberg zu retten, indem er  sie auf die Reise in Richtung Berlin schickt, er kümmert sich um die in der Zellstoff-Fabrik tätigen Zwangsarbeiter, er verteilt in letzter Minuten noch Gelder aus dem Safe der Fabrikleitung an Stelle des vor dem Einmarsch der Roten Armee geflüchteten Direktors. Kurzum, er ist auch in der Stunde des Niedergangs eines verbrecherischen Regimes ein loyaler, von Gerechtigkeit überzeugter Bürger, der in den Strom der Flüchtlinge gerissen überall dort hilft, wo die Not am größten ist. Er ist selbst bereit, eine ehemalige Freundin vor der drohenden Vergewaltigung durch die Sieger zu schützen.

Karl Friedrich Borée, der aufgrund seiner Berufstätigkeit in Königsberg in den 1920er  Jahren mit dortigen örtlichen Verhältnissen bestens vertraut war, zeichnet die von Gewehrfeuer, Panzergranaten und Flugzeugbomben begleitete Flucht seines Protagonisten Burger zwischen Königsberg und der Hafenstadt Pillau minutiös nach, beschreibt die Not und Verzweiflung derjenigen, mit denen er sich durch Schnee und beißende Kälte dahinschleppt. Nicht zuletzt deshalb wäre die Lektüre des Romans für Ostpreußen-Flüchtlinge in den 1950er und 1960er Jahren ein doppelter Erkenntnisgewinn gewesen: Lehren aus der brutalen und verlogenen Nazi-Herrschaft zu ziehen und die Brutalität der Sieger gegenüber der hilfslosen Zivilbevölkerung so zu verurteilen, dass deren Mitschuld an der Entstehung mörderischer Diktaturen zum Tragen kommt. Deshalb wären didaktisch aufbereitete Lesungen dieses Romans mehr als siebzig Jahre nach den tragischen Ereignissen umso wichtiger! In einer Situation, in der Neonazis und Rechtsradikale die gigantischen Kriegsverbrechen der Nationalsozialisten  als „Fliegenschiss der deutschen Geschichte“ abtun und der Demokratisierungsprozess in der Bundesrepublik Deutschland ins Wanken gerät. In diesem Anti-Kriegsroman bringt Borée etwas in lebhafte Erinnerung, das Axel von Ernst seinen Zeitgenossen unter Verweis auf den Autor ins Gedächtnis ruft: „Kompromisslose Freiheit, kompromissloser Individualismus, kompromisslose Wahrhaftigkeit!“ (S. 173) Ist es nunmehr wieder „an der Zeit“, die Grundwerte der Demokratie wehrhaft zu verteidigen?

Karl Friedrich Borée. Ein Abschied. Roman. Mit einem zusätzlichen Text von Karl Friedrich Borée und einem Nachwort von Axel von Ernst. Düsseldorf (Lilienfeld Verlag) 2020. 184 S., 20,00 €. ISBN 978-3-940357-77-9.

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