Wahlkampf ist die schwierige Übung, die mutmaßlichen Erwartungen der für eine Partei grundsätzlich erreichbaren Wähler so gut wie möglich zu bedienen, ohne dabei das eigene politische Koordinatensystem zu sehr aus dem Blick zu verlieren. Von zielgruppenorientierten Finanzspritzen, über assoziationsstarke und plakattaugliche Globalbegriffen bis zum Herunterputzen der Konkurrenz ist alles in Angebot. Die mit den Wahlkampfgepflogenheiten vertrauten Staats- und Wahlbürger wissen das einzuordnen: Was Politik wird, entscheidet sich in den Koalitionsverträgen und vor allem an den Herausforderungen der Zukunft, die die politische Tagesordnung regelmäßig umschreiben.
Für Prognosen, wie welche Partei oder welcher Politiker agiert, bietet deren politisches Koordinatensystem dann doch bessere Anhaltspunkte. Dort, jenseits der Aufgeregtheiten des Wahlkampfs, setzten öffentliche Gespräche an, die André Demut zwischen Februar und Mai 2024 mit Spitzenpolitikern der im Thüringer Landtag vertretenen Parteien führte. Der Beauftragte der Evangelischen Kirchen bei Landtag und Landesregierung im Freistaat Thüringen unterhielt sich mit ihnen über Grundsätzliches im Lichte der Bibel und des Grundgesetzes.
Die Wortprotokolle sind seit Ende Juni 2024 auf der Homepage des Beauftragten einsehbar. Die gut 90 Seiten sind eine lohnende Lektüre für alle, die hinter die im Wahlkampf erzeugten Bilder schauen wollen. Demut hakte vor allem dort nach, wo er in den Programmen „Reibungspunkte“ mit dem christlichen Menschen- und Gesellschaftsbild sieht. So gelingt es ihm, Eigenheiten und Widersprüche der Parteien auszuleuchten, die hinter der Wahlkampfrhetorik nicht unbedingt sichtbar werden. Dazu eine Auswahl aus den thematisch deutlich weiteren Gesprächen:
Mit Ulrike Grosse-Röthig (DIE LINKE) entspinnt sich eine Kontroverse über das christliche Menschenbild, von dem sie meint, es sei „ein und dasselbe“ wie das vermeintlich säkulare der LINKEN. Ihre Partei und die Kirche sieht Grosse-Röthig durch einen „Utopie-Überschuss“ als „Speicher offener Herzen“ verbunden; DIE LINKE erscheint, so gesehen, fast wie der politische Arm der Kirchen. Man mag der Weimarer Gemeindekirchenrätin, Lektorin und Kreissynodaler abnehmen, dass die das so empfindet, mehrheitsfähig dürfte die Perspektive in ihrer Partei kaum sein. Der fundamentale Unterschied wird sichtbar hinsichtlich der Frage, was Sicherheit hinsichtlich der Dinge gibt, „die der Mensch zum Leben braucht“, wie Grosse-Röthig sagt. Da sieht sie die Politik in der Pflicht, jenen Menschen die Angst zu nehmen, „vor Verlust und der Möglichkeit zu fallen“, die nicht einmal die christliche Sicherheit kennen, „im geistlichen Sinne getragen zu sein“. Das christliche Menschenbild rede „auch vom selbstverantwortlichen Menschen“, der mit den Folgen seiner Entscheidungen leben müsse, hält Demut dem entgegen und kritisiert die „Staatsgläubigkeit“ als „Zwillingsschwester des Populismus“
Die Frage, was Politik seriös leisten kann, kehrt im Austausch mit Heike Taubert (SPD) über die Gestaltungsmöglichkeiten der Politik wieder, bei dem Demut am Umfang des SPD-Wahlprogramms anknüpft. Es erweckt für ihn den Eindruck, dass man „mit viel Geld und mit großen Verwaltungsanstrengungen alles Mögliche umsetzen kann“. Ist das unehrlich und stört die Kommunikation zwischen Politik und Volk? Nein, widerspricht Taubert, die der Politik insgesamt viel zutraut und sich dennoch fragt, warum jemand, der gesund ist, Arbeit hat, ausreichend verdient und von sich selbst sage, es gehe ihm gut, „trotzdem in der Weltuntergangspartei“ sei; höchstwahrscheinlich gemeint: die AfD. Aufkeimende Zweifel, durch Sozial- und Arbeitsmarktpolitik dem Populismus das Wasser abgraben zu können, scheinen sich hier Bahn zu brechen. Demut bekräftigt sie, wenn er den Weg in „solche Verbitterungsparteien“ oder ihre Wahl politischen „Allmachtsphantasien“ ankreidet; ein Begriff und eine Beschreibung, die Taubert zurückweist. Zum Tun gehört laut Demut manchmal auch, „manches Unveränderliche einfach tapfer auszuhalten“.
Dem Verdacht, der Politik zu viel aufzubürden und zuzutrauen, setzt Thomas L. Kemmerich (FDP) sich von Anfang an nicht aus. Er wirbt für eine Gesellschaft, „die weniger auf den Staat schaut mir ihren Erwartungen für alles Mögliche“. Er wolle „den Leuten wieder Mut machen, sich selbst zu helfen“ und sagt der „paternalistischen Sehnsucht“ den Kampf an. Vom „Abschieben der Verantwortung an Dritte“ hält auch Demut wenig, zur liberalen Lesart des mit diesem Politikansatz notwendig verbundenen Leistungsprinzips indessen fragt er kritisch zurück. Das Grundvertrauen Gottes zu den Menschen stehe vor den Forderungen an sie. Reduziere man sich gegenseitig auf die Leistung, entstehe eine „arg gnadenlose Gesellschaft“. Eine fehlerhafte Leistung sei kein Stigma, hält Kemmerich dem entgegen. Scheitern dürfen ebenso wenig moralisch stigmatisiert werden wie Erfolg.
Madeleine Henfling (BÜNDNIS99/GRÜNE) spricht einen wunden Punkt gleich selbst an: Es gehöre zu den „verrückten Narrativen“, dass die Grünen als „Verbotspartei“ wahrgenommen würden, wo die Partei die Menschen doch als „selbstbestimmte und eigenständige Subjekte“ verstehe. Der Beauftragte hakt da ein und bezweifelt, dass das Subjekt-Konzept konsequent durchgehalten werde. Die aus seiner Sicht teils kleinteiligen Steuerungsversuche summieren sich für ihn zu einer „paternalistischen Drift“. Für Henfling sind sie hingegen der Versuch, aus systemischer Perspektive Dinge im Angesicht der Klimakrise so zu ändern, „dass das Subjekt wieder eine Rolle spielt“, das „System wieder menschenkonform zu machen“. Widerspruch dagegen ergibt sich für sie bei manchen, die spürten, „dass sie etwas weniger haben werden, wenn diese systemischen Veränderungen realisiert werden“. Selbstkritisch räumt sie ein, dass die GRÜNEN der inneren Motivation der Menschen zu wenig vertraut hätten.
Henfling reißt ein weiteres Thema an: die Organisation des guten Zusammenlebens, „mit vielen Menschen, die zu uns kommen, und mit einer Gesellschaft, die insgesamt älter wird“. Den Begriff „Integration“ lehnt sie für diese Herausforderung ab und markiert damit eine Position in einem Themenfeld, das vor allem im Austausch Demuts mit Mario Voigt (CDU) und Stefan Möller (AfD) eine größere Rolle spielt.
Allerdings nicht nur. Wo der Beauftragte bei den GRÜNEN ein Zuviel an Erziehungsversuchen wahrnimmt, hält er es für arg „fatalistisch und resignativ“, wenn die CDU die Menschen gar nicht verändern wolle. Zur christlichen Zuversicht gehöre, dass der Mensch sich ändern könne. Laut Voigt will sich die CDU damit vor allem von der Anmaßung des Kommunismus und Faschismus absetzen, einen neuen, perfekten Menschen erschaffen zu können. Politik könne nur vorletzte Antworten geben. In der offenen Gesellschaft mit ihren unterschiedlichen Einflüssen und der Demokratie „ist alles immer korrigierbar“.
Doch ist die CDU selbst so ideologisch unterwegs, wie sie es der Konkurrenz gerne vorhält? Vor allem beim Begriff der „Leitkultur“ nimmt Demut ein identitätspolitisches „zivilreligiöses Schillern“ wahr. Ob denn der „Verfassungspatriotismus“ nicht reiche? Nein, sagt Voigt. Leitkultur sei mehr als Verfassungspatriotismus. Werte, Haltungen und die Rechtsordnung hingen mit Traditionen, „mit einer ganz bestimmten geschichtlichen Verfasstheit“ zusammen und von Bedingungen ab, „die wir selbst nicht einfach rechtspositivistisch setzen können“. Leitkultur sei dabei kein statischer Begriff, sondern ein offener. „Die Scharia gehört nicht zu Deutschland“ und „erinnerungspolitische Relativierungen“ nicht zur Leitkultur, markiert der CDU-Vorsitzend zwei Grenzen.
Identitätspolitik liefe bei der AfD als Vorhalt ins Leere. „Wir sind die Partei der Identität“ markiert Möller selbst einen Reibungspunkt mit den evangelischen Kirchen. Der für Demut zentrale Streitpunkt des Gesprächs, den er hart markiert, ist mit dem Austausch zum sogenannten völkischen Nationalismus erreicht. „Das Evangelium von Jesus Christ wird neuheidnisch umgedeutet“, wenn Christen in der AfD „Völker als Abstammungs- und Blutsgemeinschaft“ als Gottes Schöpfung betrachten, führt der Beauftragte aus. Angehöriger des Staatsvolks werde man nicht nur durch biologische Abstammung, sondern auch durch Einbürgerung. Möller argumentiert, auch für die AfD setze sich die „Staatsbürgerschaft“ 2024 „natürlich aus Menschen ganz unterschiedlicher Herkunft zusammen“. Auch Menschen arabischer Herkunft gehörten zum deutschen Staatsvolk. „Doch dass es ein ethnisch deutsches Volk gibt ist ein unumstößlicher Fakt“, fügt er hinzu. Möller räumte ein, dass die AfD bei diesem Thema in den letzten Jahren große kommunikative Fehler begangen habe: „Vieles von dem, was wir hier gesagt haben, und auch, wie wir es gesagt haben, war falsch.“ Die Politik der AfD gegen die „Massenmigration“ begründet er mit dem Erhalt kultureller Nähe im nationalen Rahmen, weil Nähe Empathie ermöglicht und die Quelle der Solidarität sei. „Nation, Volk und die eigene Gruppe sind keine letzten Größen mehr“, leitet Demut die christliche Position aus dem Neuen Testament ab: „Universalismus gehört zur DNA des Christentums.“
Zum Schluss noch ein Blick auf das von Demut erdachte Gesprächsformat selbst: Auf seine Frage nach den „aktuell größten Herausforderungen für den Freistaat Thüringen“ kommt eine Antwort in verschiedenen Variationen häufiger: die kommunikativen Blockaden im Land. Die größte ist für Taubert, „im Respekt voreinander die Auseinandersetzungen zu führen“. Voigt beschäftigt „am meisten“ die Frage, „wie kriegen wir die Verhärtungen in unserer Gesellschaft wieder aufgelöst“. Kemmerich kritisiert eine Debattenkultur, in der die Menschen den Eindruck hätten, „nicht mehr sagen zu können, was sie denken“. Möller liegt daran, „dass die Spaltung, der tiefe Graben in unserer Gesellschaft überwunden wird“.
Man kann trefflich darüber streiten, wer durch welche Politik Respektlosigkeiten, Verhärtungen, Spaltungen und Ängste vor der freien Äußerung von Meinungen verursacht hat. Offensichtlich sehen die Thüringer Spitzenpolitiker darin mehrheitlich ein Schlüsselproblem. Man wird den Beauftragten wohl richtig interpretieren, wenn er die Reihe als einen Versuch von berufener kirchlicher Stelle versteht, dieses Problem anzugehen. „Wir als Kirche können Räume bieten, wo sehr unterschiedliche Menschen mit sehr unterschiedlichen Positionen in echte Debatten kommen können“, sagt er im Gespräch mit Henfling. Mit den in der Sache zum Teil hart, doch verbindlich im Ton geführten Streitgesprächen ist das gelungen. Man kann die Kirchen insgesamt ermutigen, davon zu lernen.
Die Gespräche finden Sie hier: https://www.ekmd.de/kirche/themenfelder/politik/mit-bibel-und-grundgesetz-der-evangelische-beauftragte-trifft/
Karl-Eckhard Hahn