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Interviewer:
„Sie blockierten es [das Friedensabkommen] also?“
Naftali Bennett:
„Im Grunde genommen ja. Sie haben es blockiert.“
Am 24. Februar 2022 attackierte Russland die Ukraine. Im Wahlkampf zu den US-Präsidentschaftswahlen verkündete Trump, er werde den Ukrainekrieg binnen 24 Stunden beenden. Bislang war er leider nicht in der Lage oder willens, dieses Vorhaben umzusetzen. Im Frühjahr 2022 war man in Sachen Frieden bereits weitergekommen: Ein Friedensvertrag war aufgesetzt, ein Friedensschluss zwischen Russland und der Ukraine schien zum Greifen nahe. Doch der unterschriftsreife Vertrag wurde nicht unterzeichnet. Seitdem starben Zehntausende. Ein Land wird verwüstet.
Bereits die Aussage, dass Friedensverhandlungen überhaupt stattfanden, wird bisweilen in Frage gestellt. Noch vehementer wird bestritten, der damalige israelische Premierminister, Naftali Bennett (Juni 2021–Juni 2022), habe in einem Interview geäußert, dass ein vorliegender Friedensvertrag auf Geheiß der USA oder des damaligen britischen Premierministers Boris Johnson nicht unterzeichnet wurde. So schreibt der Faktenfinder der Tagesschau:
„Westen hat Waffenstillstand nicht verhindert
Im Netz hält sich das Gerücht, die USA und Großbritannien hätten einen bereits ausgehandelten Waffenstillstand zwischen Russland und der Ukraine torpediert. Doch der ehemalige israelische Premier hat das so nie gesagt.“
[Pascal Siggelkow, ARD-Faktenfinder, zuletzt aktualisiert am 17.2.2023]
Sicherlich scheute der Faktenfinder weder Zeit noch Kosten, um der Wahrheit nachzuspüren. Aber Wahrheiten sind bekanntlich dazu da, stets aufs Neue hinterfragt zu werden, um der Wahrheit noch besser als bisher auf den Grund zu kommen.
Das Interview mit Bennett wurde auf Hebräisch geführt. Der Autor dieser Zeilen versteht kein Hebräisch. Ebenso wenig wie die meisten anderen Zeitgenossen. In dieser Lage tat CORRECTIV etwas sehr Sinnvolles: „Wir haben das Video einer hebräischen Muttersprachlerin geschickt und um eine Übersetzung gebeten. Sie schrieb uns, die korrekte Übersetzung sei nicht ‚blockieren‘, sondern ‚stoppen‘ oder ‚einstellen‘.“
Vor diesem Hintergrund gelangt CORRECTIV bezüglich der eingangs zitierten Aussage Bennets („Sie haben es blockiert“) zu dem Schluss: „Ein Interview mit ihm wurde irreführend untertitelt.“
Im Sinne der von CORRECTIV konsultierten hebräischen Muttersprachlerin müsste Bennetts eingangs zitierte Antwort somit lauten:
Interviewer:
„Sie stoppten es [das Friedensabkommen] also?“
Naftali Bennett:
„Im Grunde genommen ja. Sie haben es gestoppt.“
Doch ändert diese alternative Übersetzung überhaupt den Kerngehalt von Bennetts Aussage, wonach weit vorangeschrittene Friedensverhandlungen vom Westen eingestellt wurden? Es ist doch weithin bekannt, dass es sehr häufig mehrere gleichwertige Alternativen gibt, um ein Wort oder einen Satz einer bestimmten Sprache in eine andere Sprache zu übersetzen.
Um mit letzter Gültigkeit zu prüfen, was Bennett wirklich sagte, müssten wir mehrere gerichtlich beeidigte Hebräisch-Deutsch-Übersetzer/innen mit der Aufgabe betrauen, die relevanten gesprochenen hebräischen Sätze Bennets abzuhören, sie beim Hören zu übersetzen und zu verschriftlichen und die Richtigkeit dieser Übersetzung mit ihrer Signatur und ihrem Siegel zu beglaubigen. Zumindest der Verfasser dieser Zeilen kann dieses Vorhaben aktuell nicht umsetzen.
Folglich müssen wir zunächst mit Notbehelfen auskommen. Ein Notbehelf ist: Wir lassen das Hebräische mithilfe der Untertitelungs-Funktion der Plattform Youtube in andere Sprachen als Englisch übersetzen. Von CORRECTIV wurde moniert; die Youtube-Übersetzung ins Englische sei falsch. Eine Youtube-Übersetzung ins Deutsche (deutsche Untertitelung) bietet nun aber ein ähnliches Resultat. Zweiter Notbehelf: Wir betrachten nicht nur einen einzelnen Satz Bennetts, sondern versuchen, einen Gesamteindruck seiner Beurteilung der Verhandlungen zu gewinnen, indem wir die beanstandete Übersetzung in ihrem weiteren Kontext betrachten. Die folgenden nicht sekundengenauen Zeitangaben dienen zur Orientierung und beziehen sich auf das fast 5-stündige Interview, das Bennett Anfang Februar 2023 gewährte:
Naftali Bennett, ehemaliger Premier Israels, im Interview (Anfang Februar 2023)
Bennett (2h:33m):
„All das Gerede darüber, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Ich verstehe das, aber ich habe ein nationales Bedürfnis. … Es gibt viele Juden in der Ukraine und in Russland. Und als Premierminister des jüdischen Staates habe ich eine Verantwortung. Was ist also zu tun? Ich habe mir eine Strategie ausgedacht… zwischen der Ukraine und Russland zu vermitteln. […]
… Putin sagte ‘Wir können einen Waffenstillstand erreichen.’ (2:38:27)
Ich fand es gut, dass sie miteinander redeten … Und ich habe versucht, Lösungen zu finden. Ich bin sehr geschickt im Verhandeln … und ich kann Abmachungen treffen. … Alles, was ich tat, war vollständig mit Biden, mit Macron, mit Boris Johnson, mit Scholz und natürlich mit Selenski abgestimmt.“
Frage:
„Hat man Ihnen einen Erfolg zugetraut?“
Bennett:
„Darüber stritt ich mich mit den Amerikanern. … Sie sagten, dass es keine Chance gebe.“
Frage:
„Vielleicht wollten sie nicht, dass Sie Erfolg haben?“
Bennett:
„… Als ich mich mit Putin traf, machte er zwei große Zugeständnisse. … Selenski sagte den Nato-Beitritt ab. … Der Krieg brach wegen der Forderung nach einem Nato-Beitritt aus, und Selenski sagte: ‚Ich verzichte darauf.‘ … Ich schlug vor, was ich das ‚israelische Modell‘ nannte. Garantien gibt es hier nicht. …“ […]
„Wir können das Spektrum der Führer unterteilen. Die einen tendierten eher zu ‚jetzt müssen wir Putin bekämpfen‘. Und die anderen sagten ‚vergesst den Krieg, jeder verliert‘. Boris Johnson vertrat die aggressive Linie. Macron und Scholz waren eher pragmatisch, und Biden war beides.“
Frage:
„Sie blockierten es [das Friedensabkommen] also?“
Bennett:
„Im Grunde genommen ja. Sie haben es blockiert. Und ich dachte, sie haben damit Unrecht. (3:00:39) Im Rückblick war es zu früh, das damals wissen zu wollen. Die Vor- und Nachteile. Die Nachteile des Krieges, die Verluste in der Ukraine und in Russland. … Ich habe einen Standpunkt. Ich behaupte, dass es eine gute Chance gab, einen Waffenstillstand zu erreichen.“
[Im Original Hebräisch. Hier Übersetzung der von Youtoube ausgegebenen englischen Untertitel ins Deutsche.]
Halten wir zentrale Aussagen Bennetts summarisch fest:
Bennett beansprucht über eine Strategie verfügt zu haben, um zwischen der Ukraine und Russland zu vermitteln.
Die Amerikaner vermittelte ihm, es gebe keine Chance.
Der Krieg, so Bennett, sei wegen der Forderung nach einem Nato-Beitritt der Ukraine ausgebrochen.
Putin machte Zugeständnisse und Selenski verzichtete auf einen Nato-Beitritt.
Boris Johnson vertrat eine aggressive Linie.
Prüfen wir die obigen Aussagen nun im Lichte einer umfassenden Studie, die in FOREIGN AFFAIRS, einem führenden US-amerikanischen Magazin für Außenpolitik veröffentlicht worden ist:
Foreign Affairs, 16. April 2024
Die Gespräche, die den Krieg in der Ukraine hätten beenden können
Eine verborgene Geschichte der gescheiterten Diplomatie – Lehren für zukünftige Verhandlungen
[Talks that Could Have Ended the War in Ukraine
A Hidden History of Diplomacy that Came Up Short—but Holds Lessons for Future Negotiations]
Von SAMUEL CHARAP UND SERGEY RADCHENKO
„Was auf dem Schlachtfeld geschah, ist relativ gut bekannt. Was weniger bekannt ist, sind die gleichzeitig stattfindenden intensiven diplomatischen Bemühungen Moskaus, Kiews und einer Vielzahl anderer Akteure, die bereits wenige Wochen nach Kriegsbeginn zu einer Einigung hätten führen können.“
„Ende März 2022 führten eine Reihe von persönlichen Treffen in Weißrussland und der Türkei sowie virtuelle Treffen per Videokonferenz zum so genannten Istanbuler Kommuniqué, in dem ein Rahmen für eine Einigung beschrieben wurde. Die ukrainischen und russischen Unterhändler begannen daraufhin mit der Ausarbeitung eines Vertragstextes und erzielten erhebliche Fortschritte auf dem Weg zu einer Einigung. Doch im Mai wurden die Gespräche abgebrochen. Der Krieg wütete weiter und hat seitdem auf beiden Seiten Zehntausende von Menschenleben gekostet.“
„Der im Kommuniqué vorgesehene Vertrag sah vor, die Ukraine zu einem dauerhaft neutralen, nicht-nuklearen Staat zu erklären. Die Ukraine würde auf jegliche Absicht verzichten, Militärbündnissen beizutreten oder ausländische Militärstützpunkte oder Truppen auf ihrem Boden zuzulassen. Als mögliche Garanten werden im Kommuniqué die ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrats (einschließlich Russland) sowie Kanada, Deutschland, Israel, Italien, Polen und die Türkei genannt.“
„Der Entwurf vom 15. April legt nahe, dass der Vertrag innerhalb von zwei Wochen unterzeichnet werden würde. Natürlich hätte sich dieses Datum noch verschieben können, aber es zeigt, dass die beiden Seiten vorhatten, schnell zu handeln. ‚Mitte April 2022 standen wir kurz davor, den Krieg mit einer Friedensregelung zu beenden‘, berichtete einer der ukrainischen Unterhändler, Oleksandr Chalyi, bei einem öffentlichen Auftritt im Dezember 2023. ‚[Eine] Woche, nachdem Putin mit seiner Aggression begonnen hatte, kam er zu dem Schluss, dass er einen großen Fehler begangen hatte, und versuchte, alles zu tun, um ein Abkommen mit der Ukraine zu schließen.‘“
„Bereits am 30. März schien Johnson der Diplomatie abgeneigt zu sein und erklärte stattdessen, dass ‚wir die Sanktionen mit einem fortlaufenden Programm weiter verschärfen sollten, bis jede einzelne von [Putins] Einheiten aus der Ukraine abgezogen ist.‘ Am 9. April tauchte Johnson in Kiew auf – der erste ausländische Staatschef, der nach dem russischen Rückzug aus der Hauptstadt zu Besuch kam. Berichten zufolge sagte er zu Zelensky, er glaube, dass ‚jedes Abkommen mit Putin ziemlich schmutzig sein würde‘.“
Fassen wir nun einige Eckpunkte dieser Foreign Affairs-Studie zusammen:
Russische und ukrainische Unterhändler erarbeiteten einen Vertragstext und machten Fortschritte auf dem Weg zu einem Friedensschluss.
Im Mai scheiterten die Verhandlungen; infolgedessen wurden Zehntausende Menschen umgebracht.
Der Vertragstext sah eine neutrale und nicht-nukleare Ukraine vor.
Eine Woche nach dem Überfall auf die Ukraine sah Putin ein, einen großen Fehler begangen zu haben und versuchte dringend, ein Friedensabkommen zu erzielen.
Boris Johnson, der damalige britische Premier war einem Friedensabkommen abgeneigt.
Die Aufgabe für einen „Faktenfinder“ oder sonstige der Wahrheit verpflichtete Instanzen besteht nun darin, die Falschheit der Darstellung in FOREIGN AFFAIRS nachzuweisen – dem Flagschiff-Magazin für die US-Außenpolitik.