Keine Verhandlungsangebote an Russland? Zur Kritik der kriegerischen Unvernunft

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Zur vorherrschenden kriegerischen Unvernunft gehört die Behauptung, man könne Russland keine Verhandlungsangebote machen, weil „Putin“ ganz einfach nicht verhandeln wolle. Was doch aber zumindest ein Einstieg in Verhandlungen sein könnte: 1. Abstimmung auf der Krim über deren Zugehörigkeit. 2. Falls die Krim der Ukraine zufällt, dann 100 Jahre russische Pacht für Sewastopol. 3. Autonomiestatus für Ostprovinzen gemäß Minsk II. 4. Neutrale, atomwaffenfreie Ukraine. 5. Garantien für die Ukraine.

Weil man zu wissen vorgibt, Russland wolle nicht verhandeln, sei die einzige verbleibende Option ein militärischer Sieg der Ukraine oder ein vollständiger Rückzug Russlands. Kompromisse werden von Regierungsvertretern der Nato-Staaten weitestgehend ausgeschlossen. Dabei kann man schon in Immanuel Kants (1724–1804) Schrift Zum ewigen Frieden lernen:

„… irgendein Vertrauen auf die Denkungsart des Feindes muss mitten im Kriege noch übrig bleiben, weil sonst auch kein Friede abgeschlossen werden könnte, und die Feindseligkeit in einen Ausrottungskrieg (bellum internecinum) ausschlagen würde.“ „Woraus denn folgt: dass ein Ausrottungskrieg, wo die Vertilgung beide Teile zugleich, und mit dieser auch alles Rechts treffen kann, den ewigen Frieden nur auf dem großen Kirchhofe der Menschengattung stattfinden lassen würde.“

Mit anderen Worten: Selbst beim militärischen Gegner müssen wir bei Strafe unseres gemeinsamen Untergangs immer noch einen Rest an Verständigungsorientierung unterstellen. Wobei sich zu Kants Lebzeiten niemand ausmalen konnte, dass der Mensch selbst einmal fähigsein würde, die Erde in das Nichts zurückzubomben, aus der ein allmächtiger Gott sie einst angeblich hatte hervorgehen lassen.

Mit ihrer Apokalypse-Bereitschaft robbt sich die aktuelle Politik des „Weiter so!“ soldatisch an einen Abgrund heran, statt eine Initiative des aufrechten Gangs gegen den Untergang in die Wege zu leiten. Deswegen bedurfte es eines gewichtigen und vernehmlichen Widerspruchs. Einen solchen Einspruch gab es am 25. Februar 2023 in Berlin, wo auf der Straße, vor dem Brandenburger Tor, ein großes Kapitel der Kritik der kriegerischen Unvernunft geschrieben wurde!

Die Brisanz der aktuellen Lage steht derjenigen der Kubakrise von 1962 vermutlich kaum nach. Wer sich vor diesem Hintergrund für die Diffamierung des seit dem russischen Angriff größten Aufgebots für Frieden und für Verhandlungen einsetzt, tut den berechtigten Anliegen der vom Militarismus finanziell und existentiell enteigneten Menschen keinen Gefallen. Ebenso wenig ist mit diesen Diffamierungen den Überlebensinteressen und Friedenssehnsüchten von Millionen Ukrainerinnen gedient.

Gleichwohl wurde der laute Einspruch gegen den bislang kompromisslosen Kriegskurs von Vertretern der kriegerischen Unvernunft sofort attackiert: Die Demonstration sei „rechtsoffen“ gewesen und es bedürfe einer „maximalen Distanzierung“ von der extremen Rechten. Auch hier hat die kriegerische Unvernunft sich selbst nicht zu Ende gedacht: Maximale Distanzierung von der extremen Rechten hieße nämlich, dass alle sich „maximal“ distanzierenden Parteien den Bundestag, die Länderparlamente sowie zahlreiche Gremien verlassen müssten! Warum? Weil sie andernfalls etwa mit rechtsextremen Mitgliedern der AfD unter einem Dach Politik machen würden. Wenn bereits die 50000 von Berlin als rechtsoffen diskriminiert werden können, weil sich ihnen unter freiem Himmel der eine oder die andere unerkannte rechtsextreme AfD-Anhängerin zugesellte, dann müsste es doch erst recht verwerflich sein, wenn man in Gestalt namentlich bekannter und bekennender AfD-Politiker im Bundestag und anderswo unmittelbar neben Rechtsextremen sitzt. Gemäß dieser Logik müssten die Demokraten aus den Parlamenten ausziehen. Dies aber wäre das Ende der parlamentarischen Demokratie. Statt also durch den Ruf nach „maximaler Distanzierung“ auf der Straße und in den Parlamenten einem Ende der Demokratie Vorschub zu leisten, gilt es, die Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner mit den Mitteln der Demokratie zu führen, und sich nicht zurückzuziehen.

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Über Karim Akerma 76 Artikel
Dr. Karim Akerma, 1965 in Hamburg geboren, dort Studium u.a. der Philosophie, 1988–1990 Stipendiat des Svenska Institutet und Gastforscher in Göteborg, Lehraufträge an den Universitäten Hamburg und Leipzig, Tätigkeit als Übersetzer aus dem Englischen, aus skandinavischen und romanischen Sprachen. Wichtigste Publikationen: „Verebben der Menschheit?“ (2000), „Lebensende und Lebensbeginn“ (2006) sowie "Antinatalismus - Ein Handbuch" (2017).