Annie Jacobsen: 72 Minuten bis zur Vernichtung. Atomkrieg – ein Szenario Irren ist nicht nur menschlich, sondern auch systemisch!

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Die Bildung des ikonischen Atompilzes beginnt, sein massiver Kopf und Stamm, der aus Menschenasche und Zivilisationsschutt besteht, wechselt von einem roten zu einem braunen und schließlich zu einem orangefarbenen Farbton. Von Karim Akerma.

Um zu verhindern, dass sich das Grauen von Hiroshima und Nagasaki wiederholt, hat Annie Jacobsen gründlich recherchiert: Sie sichtete Material, das bis vor Kurzem unter Verschluss stand; und sie interviewte maßgebliche Forscher und Militärs. Das Ergebnis ist ein aufrüttelndes Buch, das Angst macht und sicher auch Angst machen soll. Damit opponiert die Autorin der verbreiteten Auffassung man dürfe den Menschen keine Angst machen. Warum tut sie es dennoch? Weil die Atomwaffenarsenale auf der Erde ein fehlerintolerantes System von Systemen seien. Ein von einem atomaren Frühwarnsystem ausgegebener Fehlalarm kann genügen – und Hiroshima und Nagasaki werden globalisiert.

Zwischen den Zeilen des Buches lesen wir, dass wir viel zu wenig Angst haben. So wird, um uns zu schonen, die Drastik des Grauens nach den Atombombenabwürfen über Hiroshima und Nagasaki häufig gar nicht ausgesprochen. Jacobsen nennt es beim Namen: Menschen, denen Haut und Fleisch von den Knochen hängt oder auch Personen, die ihre eigenen Augäpfel in der Hand tragen. Diese Grausamkeiten sind gleichsam unaussprechlich. Jacobsen erwähnt sie dennoch, damit wir wissen, was es für die Zukunft zu verhindern gilt.

Aus ihren umfangreichen Studien und zahlreichen Gesprächen mit Fachleuten vermittelt Jacobsen insbesondere zwei Einsichten: Ein nuklear geführter Krieg kann nicht gewonnen und schwerlich begrenzt werden. Der Grund dafür sei, dass das Zeitregime im Falle eines Atomwaffeneinsatzes einfach unerbittlich knapp ist. Beim Herannahen mutmaßlich nuklear bestückter Raketen verbleiben einer angegriffenen Regierung stets nur wenige Minuten, um auf den unabwendbaren Einschlag zu reagieren. Ausgereifte technische Möglichkeiten, Interkontinentalraketen abzufangen, existieren nicht. Zwar verfügen etwa die USA über solche Abfangraketen. Doch beim gegenwärtigen Stand der Technik sei die Abfangquote verschwindend gering.

Zugleich seien die Frühwarnsysteme der USA technologisch hervorragend. Um einen Vergeltungsschlag auf den Weg zu bringen, bleiben den USA immer noch ein paar Minuten Zeit. Ein paar Minuten! Jacobsen verdichtet diese Minuten zu einer guten Schicksalsstunde der Menschheit und erläutert, dass und warum alle Beteiligten überfordert sein werden. Als fiktives – und vielleicht nicht aus der Luft gegriffenes – Szenario wählt sie den Beschuss der USA mit nordkoreanischen nuklearfähigen Interkontinentalraketen. Schnell zeigt sich, dass eine solche Situation nicht trainiert werden kann: Der US-Präsident (Biden mag hier Pate gestanden haben) erweist sich als unzureichend geschult, unvorbereitet, überfordert. Dabei gilt: Einzig und allein der US-Präsident hat die Entscheidungsmacht über den Einsatz amerikanischer Atomwaffen. Natürlich gibt es auch für diesen Fall ein Protokoll. Doch schon wird der Präsident von seinen Mitarbeitern genötigt, den Atomkoffer (engl.: Nuclear Football) zu öffnen, um aus dem darin enthaltenen Black Book zügig eines von mehreren in Frage kommenden Vergeltungsmenüs zu wählen. Diverse ranghohe Politiker, Berater und Militärs bedrängen ihn mit unterschiedlichen Empfehlungen und Regularien. Die Zeit läuft. Zugleich muss der Präsident in Sicherheit gebracht werden, irgendwann wird er einfach zum startklaren Hubschrauber geschleppt …

Bald beginnt auch in Russland die Zeit rückwärts zu laufen: Russische Frühwarnsysteme erkennen aus den USA herannahende nuklearfähige Interkontinentalraketen. Was die Frühwarnsysteme nicht wissen können: Ziel der US-Raketen ist Nordkorea, nicht Russland. Doch müssen sie Russland überfliegen, um Nordkorea zu erreichen. Versuche von Seiten der USA, den russischen Präsidenten über die Sachlage zu informieren, scheitern teils aus nichtvorhersehbaren Gründen, teils aus Zeitnot.

Ganz gleich wie ein Nuklearkrieg beginnt, er bedeute immer und ausnahmslos das Ende der Zivilisation wie wir sie verstehen: Überlebende sähen sich unter verdunkeltem Himmel in eine Kältezeit zurückgebombt, in einen nuklearen Winter, der keinerlei Landwirtschaft mehr zulässt. Völlig unvermittelt müssen die Überlebenden versuchen, als post-zivilisatorische Sammler – und vielleicht Jäger – ein erbärmliches Dasein zu fristen. Bis die allgegenwärtige Radioaktivität sie getötet hat. Nicht einmal ein Lautréamont wäre imstande gewesen, das Grauen eines Atomkriegs angemessen zu erfassen, wie Jacobsen ihn schildert. Ihr zufolge gelangen alle Planspiele und Computersimulationen zu diesem Resultat.

Als Jacobsen ihr Buch schrieb, konnte sie nicht ahnen, dass die USA im Juli 2024 dem deutschen Landesverweser (Verzeihung: dem 2024 noch amtierenden Bundeskanzler) Olaf Scholz mitteilen würden, dass 2026 drei Typen US-amerikanischer Mittelstreckenraketen in Deutschland stationiert werden (und dass der deutsche Bundeskanzler diesen Bescheid ebenso grienend hinnehmen und in seiner Aktentasche verschwinden lassen würde, wie zuvor die Zerstörung von Nordstream 2). Worüber Annie Jacobsen ihre Leserinnen und Leser hingegen in Kenntnis setzt, ist eine notorische Ungenauigkeit russischer Frühwarnsysteme. Russische Frühwarnsysteme, so erfahren die perplexen Leser, hielten in der Vergangenheit Cirrus-Wolkenformationen für die Abgase heranrasender Atomraketen. Irren ist nicht nur menschlich, sondern auch systemisch! Wer ihr Buch liest versteht, in welchem Ausmaß eine nukleare Eskalation forciert wird, wenn die unter Oberhoheit der USA stehenden Raketentypen 2026 in Deutschland (in anderen Ländern ausdrücklich nicht!) stationiert werden.

Wo Politiker es wagen, sich öffentlich für eine deutsche nukleare Teilhabe oder für die Stationierung US-amerikanischer Mittelstreckenraketen im Jahr 2026 auszusprechen, werden Leser/innen ihnen Jacobsens Buch „72 Minuten bis zur Vernichtung“ mit einem gewissen Nachdruck in die Hand drücken oder vor die Augen halten.

Der Titel der deutschen Ausgabe, „72 Minuten bis zur Vernichtung“, ist um einiges drastischer und hoffentlich aufrüttelnder als der Titel der englischen Originalausgabe, „Nuklear War“: Es dauere nicht einmal 90 Minuten, um 12000 Jahre Zivilisation weitgehend als Asche in den Himmel aufsteigen zu lassen. Daher darf die nukleare Angst nicht länger verdrängt werden. Es gilt, sie mit Jacobsen zu schüren. Schon bald müssen mindestens 1,2 Millionen Menschen gegen die morbide bis nekrophile für 2026 geplante Raketenstationierung auf die Straßen und Plätze gehen.

Annie Jacobsen: 72 Minuten bis zur Vernichtung. Atomkrieg – ein Szenario, Heyne Verlag 2024, 400 Seiten. ISBN-13: 9783453218789. Aus dem Englischen übersetzt von Ulrike Strerath-Bolz und Oliver Lingner

Über Karim Akerma 79 Artikel
Dr. Karim Akerma, 1965 in Hamburg geboren, dort Studium u.a. der Philosophie, 1988–1990 Stipendiat des Svenska Institutet und Gastforscher in Göteborg, Lehraufträge an den Universitäten Hamburg und Leipzig, Tätigkeit als Übersetzer aus dem Englischen, aus skandinavischen und romanischen Sprachen. Wichtigste Publikationen: „Verebben der Menschheit?“ (2000), „Lebensende und Lebensbeginn“ (2006) sowie "Antinatalismus - Ein Handbuch" (2017).