Eine neue Fortschrittsidee, die neben der Ökologie auch „Kultur, Identität, das eigene Selbstbewusstsein und die Würde des Menschen“ mit einbezieht und nicht auf Gewinnmaximierung als „einziges Movens der Gesellschaft“ ausgelegt ist, forderte Kardinal Reinhard Marx bei einem internationalen Kongress zu „integraler Ökologie im digitalen Zeitalter“. Es brauche eine stärkere Übereinkunft darüber, was unter Fortschritt zu verstehen sei, ergänzte der Erzbischof von München und Freising bei seinem Vortrag am Samstag, 9. November, in der Hochschule für Philosophie München. Die Systemdebatte sei noch nicht abgeschlossen. Denn auch in Deutschland spüre er „eine Unruhe – politisch, gesellschaftlich, wirtschaftlich“. Selbst 30 Jahre nach dem Mauerfall, dessen Jahrestag heute in Deutschland begangen werde, habe es keine Entwicklung hin zur Stabilität gegeben, stellte der Kardinal fest.
„Am liebsten würde ich die Worte Kapitalismus und Sozialismus hinter mir lassen, sie sind aus der Zeit gefallen“, betonte Marx. Wichtig seien Demokratie, aber auch effiziente Märkte, wenn diese, wie von der katholischen Soziallehre gefordert, einer „menschendienlichen Ordnung“ unterlägen. Gerade die Wissenschaft sei aufgerufen, die Systemdebatte neu zu führen und nach einem theoretischen Rahmen für eine globale soziale Marktwirtschaft zu suchen. Das christliche Menschenbild könne dabei als Wertehorizont dienen, „es ist nicht nur fromm, nicht nur religiöse Erbauung, sondern wahr und richtig“, unterstrich der Erzbischof mit Blick auf Begriffe wie Solidarität oder Engagement für Benachteiligte und die Gemeinschaft. Die Enzykliken „Laudato si‘“ von Papst Franziskus, „Centesimus annus“ von Papst Johannes Paul II. aus dem Jahr 1991 und „Rerum novarum“ von Leo XIII., 1891 veröffentlicht, versteht Marx als „Magna Charta“ auf dem Weg zu einer solchen Fortschrittsidee.
Parallel zu einer übergeordneten Debatte müssten konkrete Probleme in Angriff genommen werden. An erster Stelle nannte der Erzbischof die drängenden ökologischen Fragen, mit denen auch die globale Gerechtigkeitsfrage eng verbunden sei. Mit einer Ordnungspolitik müsse auf internationaler Ebene für einen Ausgleich gesorgt werden, „damit in allen Ländern die Basics eines menschenwürdigen Lebens“ gewährleistet seien. Auch die Vermögensungleichheit durch die Erträge aus großem Kapital und aus der Arbeit werde zu Spannungen führen: „Dass jeder von seiner Arbeit leben kann, und es auch für eine Alterssicherung reicht, ist ein Fundament der Freiheit, ein Pfeiler der Demokratie.“ Zugleich warnte Marx davor, diejenigen, die keine Arbeit hätten, „mit einem bedingungslosen Grundeinkommen und der Unterhaltungsindustrie ruhigzustellen“. Zudem dürfe der Strukturwandel, unter anderem durch die Digitalisierung mit all ihren Chancen vorangetrieben, nicht auf den Einzelnen abgewälzt werden. Auch hier müsse die Idee des Sozialstaates erlebbar werden.
Zu dem Kongress hatten die Päpstliche Stiftung „Centesimus Annus pro Pontifice“, die Hochschule für Philosophie und das Netzwerk „European Liberal Education Alliance“ verschiedener jesuitischer und staatlicher Hochschulen eingeladen. In dem Gottesdienst, den Kardinal Marx mit den Tagungsteilnehmern in der Pfarrkirche St. Sylvester feierte, bezeichnete er die biblische Tempelreinigung als „zentralen Akt, als die Revolution, die uns aufgetragen ist“. Wenn Jesus die Händler des Tempels verweist und sich selbst als Tempel bezeichnet, zeugt dies laut Marx davon, dass die Beziehung zu Gott keine „Geschäftsbeziehung“ ist: „Gott kann man nicht kaufen und für unsere Politik einspannen, damit er zu unserem Stadt-, Militär- oder Kriegsgott wird. Das ist die wahre Häresie.“ Vielmehr rufe Gott die Menschen auf, selbst zu „Heiligtümern“ zu werden. In diesem Sinne dürfe die Kirche kein Sonderbereich sein, der sich von der Welt ablöse. Die Christen müssten „hineinwirken in das gesamte Feld menschlicher Existenz und die Welt im Lichte des Evangeliums mitgestalten“.