Kampf ums „Wertesystem“ – Die unaufhebbare Spannung zwischen universaler Moral und dem historisch-kulturell geprägten Ethos einer konkreten Gesellschaft – Über deutsche Missverständnisse

Christus, Dom Salzburg, Foto: Stefan Groß

Das Eigene und das Fremde

Das wirklich Fremde kann faszinieren, irritieren, abstoßen. Zunächst ist immer – unwillkürlich, vorbewusst – das Eigene höherwertig. Erst recht Kollektive neigen dazu, in der Konfrontation mit dem Fremden sich im gemeinschaftlichen Eigensinn untereinander zu bestärken und sich gegebenenfalls abzuschotten. Ist das Fremde bereits in die eigene kulturelle Gemeinschaft „eingedrungen“, sucht man es zu isolieren und es als das fremdartig Andere zu marginalisieren.

Dies sind Beobachtungen, die eine Grundtendenz beschreiben – nicht eine Gesetzmäßigkeit. Denn sonst hätte es in Deutschland eine Willkommenskultur des Ausmaßes, wie man sie 2015/16 erlebte, gar nicht geben können. Aber die Konjunkturen und Abwehrreflexe, die in Deutschland ebenfalls zu beobachten sind, werden auf dieser Folie dennoch verständlicher.

Selbst Einstellungen des Kosmopolitismus unterliegen dieser Dialektik emotionaler Schubkräfte, können – wie die deutsche Geistesgeschichte zeigt – in Nationalismus umschlagen.

Dass es völlig aussichtslos ist, der riskanten aber zugleich fruchtbaren Konfrontation mit dem Fremden ausweichen zu wollen, dass vielmehr die lebendig eigene kulturelle Identität immer eine flüssige ist, die sich weitgehend ungesteuert unter dem Einfluss der Konfrontation mit dem Fremden immer schon verändert hat und weiter verändern wird (freilich einschließlich ihrer politischen und rechtlichen Strukturen!), steht auf einem anderen Blatt. Der Fremde, so hatte der jüdische Philosoph Levinas eingeschärft, ist es, der uns mit Forderungen nach der Erweiterung unserer Verantwortlichkeiten konfrontiert. Das geht durchaus nicht ab ohne Krämpfe und Kämpfe, auch wenn es irgendwann auf eine Erweiterung unseres regionalen „Wirbewusstseins“ und damit unseres lebensweltlichen Ethos hinauslaufen sollte. Zwingend ist das nicht.

Nicht nur die jüngsten Entwicklungen in den Ländern Europas bezeugen dieses Schwanken zwischen weitherziger Öffnung und realistisch-besorgter Abschottung. Schon im Alten Israel, so bezeugt es die hebräische Bibel, das „Alte Testament“, sahen sich die Propheten angesichts einer selbstverständlichen Fremdenfeindlichkeit genötigt, dem Volk und seinem Herrscher die Notwendigkeit, den Fremden in seiner Würde zu achten und dessen Recht zu wahren, Klartext redend ins Gewissen zu rufen. – Die absolute Instanz, genannt Gott, die diese Öffnung gegen den inkarnierten Widerwillen absichern sollte, ist der zeitgenössischen Welt Westeuropas von heute, so scheint es, nicht mehr zu vermitteln. Ersatzweise verabsolutiert sie die besagte universale Moral. Diese nimmt den Charakter einer Ersatzreligion an, die ihre normativen Grundsatzüberzeugungen gegen kontingente Infragestellungen, gegen kulturell-historische „reaktionäre“ Kräfte immunisieren möchte.

„Wertesystem“: Universalismus gegen Partikularismus

Der inflationär gebrauchte Begriff des Wertesystems (der westlichen Welt) ist eine Beschwörungsformel, mittels derer man sich rhetorisch den so genannten populistischen Tendenzen, die die nationale Identität in den Vordergrund rücken, entgegenstellt. Anstelle der Leerformel „westliches Wertesystem“, die zumeist in polemischem Kontext verwendet wird, ist die Unterscheidung von „Moral“ und „lebensweltlichem Ethos“ geeigneter, Schneisen durch den aufgeregten öffentlichen Diskurs zu schlagen und die „öffentliche Meinung“ kritisch zu durchleuchten.

„Moral “ arbeitet jene Grundsätze und Maximen heraus, die für den einzelnen Menschen als Menschen verbindliche Geltung besitzen (sollten). Also: Imperative von universaler Gültigkeit. (Natürlich verdankt sich diese Sichtweise in letzter Hinsicht den historischen Impulsen einer bestimmten kulturellen Konstellation, genannt Aufklärung.) Um den fundamentalen Differenzen im Blick auf das Ethos einzelner Völker gerecht zu werden, ist es nahe liegend, dem Begriff der universal ausgerichteten Moral denjenigen des „lebensweltlichen Ethos“ (althergebracht: „Sittlichkeit“) – verstanden als jeweils gelebtes partikulares bzw. regionales Ethos einer bestimmten historisch-kulturell formierten Gemeinschaft – gegenüberzustellen. Lebensweltliches Ethos: so bezeichnen wir hier also das Konglomerat sehr unterschiedlicher, normativer Schubkräfte und sedimentierter, historischer Erfahrungen, die eher unterschwellig und vorbewusst die kollektiven Einstellungen prägen. Die Grundlagen dieses partikularen lebensweltlichen Ethos (dazu gehört natürlich auch die Leitbild-Diskussion) sind erfahrungsbedingt in ständiger Bewegung und Veränderung unter dem Druck der Verhältnisse.
Ganz grob ließe sich die Begründung einer Moral mit universalistischen Geltungsansprüchen eher einer Philosophie des Typs „Kant“ zuordnen, während die reflexive Vergegenwärtigung der komplexen konkreten sittlichen Lebensverhältnisse eher einem Denken des Typs „Hegel“ zuzuordnen wäre.
Die klare Gegenüberstellung dieser beiden Orientierungsbegriffe – „universale Moral“ versus „lebensweltliches Ethos“ – erfolgt hier in verdeutlichender schematisierender Absicht. Denn im Alltagssprachgebrauch werden die Begriffe „Moral“ und „Ethos/Sittlichkeit“ nicht klar unterschieden. So redet man zum Beispiel von einer bestimmten Berufsmoral oder gar dem Moralkodex einer Verbrecherorganisation wie der Mafia. Zudem wirkt das Wort „sittlich“ auf viele altertümlich und angestaubt. Auf höherer Diskursebene redet man gern von einer Gesinnungsmoral bzw. von einer Verantwortungsethik. Der Alltagssprachgebrauch ist mithin sehr diffus.

Die Ausnahmesituation von 2015 – kein allgemeines Ethos der EU!

Die hier angezeigte Differenz zwischen den alle Menschen als Menschen betreffenden Imperativen der auf die Menschheit bezogenen Moral und dem in den Demokratien Europas jeweils gelebten unterschiedlichen Ethos bleibt in vielen sehr emotional geführten Debatten unthematisiert. Mit der Entscheidung der deutschen Bundesregierung 2015, die alle Regularien der für Mitglieder der Europäischen Union verbindlichen Gesetze sprengte und sich als moralisch begründeter Alleingang erwies, traten diese Differenzen des jeweiligen kulturell und historisch geprägten nationalen Ethos offen zu Tage. Alle Staaten der EU verstehen sich im Traditionshorizont der griechisch-römischen und christlichen Weltdeutung („Menschenbild“). Ein erster großer Differenzpunkt könnte sich schon bei der Frage nach dem Stellenwert der Aufklärung im jeweiligen regionalen Ethos herauskristallisieren.

Es scheint übrigens so zu sein, dass auch die christlichen Kirchen in den europäischen Ländern sich innerhalb dieses jeweiligen nationalen Ethos bewegen, während zum Beispiel die deutschen Kirchen, insbesondere die evangelische (EKD), bei ihren politischen Interventionen den abstrakten Standpunkt der universalistischen Moral einnehmen und die Begrenzungen des lebensweltlichen Ethos ignorieren. Ohne sich dessen bewusst zu sein, bestätigen sie damit eine Weichenstellung, die in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts von dem Theologen David Friedrich Strauß programmatisch formuliert wurde: der Gedanke der Menschwerdung Gottes solle nicht mehr exklusiv auf jenen einzelnen Mann Jesus aus Nazareth, sondern auf die gesamte Menschheit, in der Gott Fleisch geworden ist, bezogen werden! Die Menschheit selbst und die Liebe zu ihr sei als das Absolute aufzufassen. Dem folgte Ludwig Feuerbach mit seiner Forderung, im Zeichen der Liebe zur Menschheit müsse die Politik nun selbst religiöse Qualität annehmen! – In politischer Perspektive werden so die Grenzen zwischen „Kirche“ und „Pro Asyl“ fließend. Dazu passt, dass die Kirchenleitungen die ständigen Drangsalierungen und Bedrohungen von orientalischen Christen in den deutschen Flüchtlingsunterkünften nur peinlich berührt zur Kenntnis nehmen und am liebsten mit Schweigen übergingen. Sich nachdrücklich und mit der erklärten Absicht, diesen Verfolgten Glaubensschwestern und -brüdern privilegiert beizustehen, kollidiert mit dem höheren Ideal der keine Unterschiede zulassenden Liebe zur ganzen Menschheit.

Das Demokratie-Postulat – abstrakt-universal?
Demokratie ist kein abstrakter Wert, der im Kontext einer universalen Menschenrechtsmoral zu installieren wäre: siehe die fatalen Resultate des arabischen Frühlings.

Ausschlaggebend sind vielmehr langfristige kulturelle Impulse der jeweiligen partikularen Geistes- und Politikgeschichte. Das Ringen um eine Ordnung der Freiheit erfolgt doch stets in einem historisch-kulturell verdichteten Raum. Wahrscheinlich ist selbst in unseren Breiten die rechtsstaatlich verfasste Demokratie eher selten ein direkt vom Volk in revolutionärem Aufschwung Erkämpftes. Oftmals sind institutionalisierte Prozesse rechtsstaatlich-demokratischer Art ein Resultat der Einsicht von Führungseliten, die in Strukturen der Partizipation eine Stabilisierung der Affirmation des Staates erkannten. Das deutsche Beispiel seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts (Einführung des allgemeinen Wahlrechts usw.) ließe sich hier nachzeichnen.
Das durchaus glaubhafte Entsetzen in den Medien über das allenthalben zu konstatierende Scheitern von Demokratisierungsbemühungen in vielen Teilen der Welt, also nicht nur in den muslimischen Ländern, ist in dem Glauben verankert, „Demokratie“ sei eine Lebens-und Herrschaftsform, die eigentlich jeder politisch-kulturellen Gemeinschaft ein hohes Gut sein sollte. Die Abhängigkeit der Stabilität solcher Strukturen von historisch-kulturellen langfristigen Konstellationen wird als Argument beiseite gewischt, weil man an die Konvergenz der Kulturen glaubt.
Im übrigen ist auch in Ländern, die bereits einen bestimmten Stand an ausdifferenzierter Gewaltenteilung, mit unabhängiger Justiz und freier Presse und autonomem Kulturleben, „kennen gelernt“ hatten, auch in Mitteleuropa der Rückbau von demokratischen Errungenschaften zu beobachten (Ungarn, Polen).
War die Türkei ein Land, das wie kein anderes aus dem muslimischen Kulturkreis säkulare rechtsstaatliche Strukturen entwickelt hatte, so ist nun der massive Rückbau zu beobachten zu Gunsten eines religiösen Autokratismus.
Kategorial ist festzuhalten, dass die Demokratie, als Ausdruck der höchsten Wertschätzung von Freiheit und Recht, ihren Ort in dem dynamischen (wenn man so will: pulsierenden oder atmenden) Gefüge des lebensweltlichen Ethos hat und nicht auf der Ebene des abstrakt universalen Systems der Moral zu platzieren ist, in welchem Regeln imperative Gültigkeit für alle Menschen beanspruchen, die als schlechthin unveränderlich und kontingenzunabhängig erachtet werden. Sich dies zu vergegenwärtigen, kann eine illusionsfreiere Sicht auf geschichtliche Abläufe ermöglichen.
Schließlich sind im Blick auf Monopolisierung der Exekutivmacht (Entscheidung über den Ausnahmezustand!), Gewaltenteilung, Rang der Verfassung und Bedeutung eines Verfassungsgerichts, Einbau und Gewicht von Plebisziten die geschichtlich und kulturell bedingten Unterschiede allein schon innerhalb der EU von enormer Tragweite.

Die Wirksamkeit des partikularen Ethos. Beispiele zur Verdeutlichung
Im Folgenden werden Beispiele zur Sprache gebracht, die zeigen, dass entscheidende Weichenstellungen zur Regelung fundamental-ethischer Probleme sich nicht in letzter Hinsicht einer prinzipiellen rationalen Rechtslogik verdanken – obwohl dies natürlich behauptet wird –, sondern normativen Festlegungen, die in einer bestimmten nationalen Kultur vor dem Hintergrund bestimmter geschichtlicher Erfahrungen einer Gesellschaft getroffen werden.

Schächten von Tieren
Die Mehrheit der Deutschen lehnt das Schächten von Tieren ab; dennoch hat der Gesetzgeber einen Weg gefunden, partikularen kulturellen Gemeinschaften mit ihren religiösen Vorschriften diese Möglichkeit zu konzedieren.

Beschneidung von Neugeborenen
Auch die Beschneidung von Kleinkindern ließe sich anführen, die durchaus als unverantwortliche Körperverletzung rechtlich abgelehnt werden kann; dennoch hat die Gesellschaft einen Rechtsweg gefunden, trotz des sehr kritischen öffentlichen Diskurses und der menschenrechtlichen Bedenken diese Praxis für bestimmte religiöse Gemeinschaften zuzulassen.
Man hat davon auszugehen, dass die Einräumung einer solchen Praxis nicht einfach von der Logik des Rechts diktiert wird (etwa: Wahrung der Religionsfreiheit), sondern sich aus historisch bedingter Rücksichtnahme auf das Judentum ergibt, dem Deutschland sich mit seiner Staatsraison auf spezifische Weise verpflichtet weiß. Diese lebensweltlich-historische Vorgegebenheit hat – auch nach Auffassung des Bundesverfassungsgerichts – formierende Kraft auch für die Gesetzgebung und die Auslegung des Grundgesetzes!
(Es ist schwer vorstellbar, dass man ähnlich tolerant bei der Clitoris-Beschneidung verfahren wird; aber auf die zur Beschneidung der männlichen Babys kontrastierenden Argumente darf man gespannt sein.)

Sterbehilfe
viele Menschen wollen, wenn es ans Sterben geht, den Zeitpunkt, da ihr Leiden ein Ende haben soll, selbst bestimmen; was ein würdevolles Sterben sei, könne kein Außenstehender definieren. Der deutsche Gesetzgeber nun tut alles Erdenkliche, um die Möglichkeit des Suizids auch in solchen Extremsituationen zu unterbinden, obwohl das Volk in dieser Frage zutiefst gespalten ist. In Nachbarländern wie Belgien, Niederlande, Schweiz werden ganz andere normative Prioritäten gesetzt, obwohl man auch dort die Würde des Menschen in den Mittelpunkt stellt und sich im Großen und Ganzen auf die griechisch-römisch-christliche Tradition beruft.

Abtreibung
Ähnliches gilt für die Einstellung zur Abtreibung. In vielen europäischen Ländern gilt das Recht der Frau, unter bestimmten Bedingungen (die sich wiederum in den Ländern mit entsprechender Gesetzgebung unterscheiden!), die Leibesfrucht abtreiben zu lassen, als eine menschenrechtliche Errungenschaft, die als Ausdruck einer universalen Moral aufgefasst werden muss. In anderen Ländern der EU herrschen sehr restriktive gesetzliche Regelungen, die man gemäß einer neuen nationalistischen kulturalistischen Vorstellung von dem Ethos, welches in der Nation gelten solle, weiterhin einschränken möchte.

Wer ist krank, wer gesund?
Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) legt eine universal-abstrakte Definition von Gesundheit ihrer Arbeit zu Grunde: „Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“ Der Un-Sinn liegt auf der Hand: es gibt danach keinen gesunden Menschen auf der Welt … Eine normative Illusion des Universalethos.
Die Lebensferne solcher Übertreibungslogik kommt vielleicht auch darin zum Ausdruck, dass mehr als 90 % der in den UN versammelten Staaten keine finanziellen Beiträge zur Hilfe bei Hunger- oder Flüchtlingskatastrophen o.ä. zu leisten gewillt ist…

Liebe zu den Nächsten versus Fernstenliebe
jemand spendet eine Niere für einen nahestehenden Menschen. Dieser Altruismus lässt sich nicht in eine Forderung des universalen Menschheitsethos übersetzen.
Ein Chirurg folgt einem moralischen Impetus und lässt sich von „Ärzte ohne Grenzen“ immer wieder in gefährliche Bürgerkriegsgebiete entsenden. Nachdem er eine Familie gegründet und Kinder bekommen hat, stellt er aus Verantwortungsgefühl gegenüber seinen eigenen Kindern die sein Leben gefährdenden Aktivitäten ein. Das ist ethisch plausibel.

Wer wird behandelt – der Attentäter oder das Opfer?
Das spezifische ärztliche Ethos kennt keine Präferenzen ethnischer oder politisch-nationaler Art. Im Fokus steht der hilfsbedürftige Mensch. Nun vergegenwärtige man sich den Fall eines palästinensischen Selbstmordattentäters, der zahlreiche Menschen zu Tode gebracht und vielen schwere Verletzungen zugefügt hat. Der Täter selbst hat überlebt und liegt in seinem Blut. Und die herbei geeilten Ambulanzen und Notärzte kommen nach der Triage- Logik, die übernational gilt, zu dem Ergebnis, dass in der Bedarfsanalyse dem Attentäter als erstem die medizinische Hilfe gelten muss (auch wenn womöglich durch diese menschenrechtliche Priorisierung weitere Opfer sterben werden).
Auf der Ebene des lebensweltlichen, national-kulturell bestimmten Ethos sträubt sich alles gegen eine solche Forderung. Allerdings ist es eine Tatsache, dass die höchste medizinische Autorität in Israel sich ausdrücklich auf die Seite der universalen menschenrechtlichen Moral gestellt hat. Ob diese Priorisierung auch in der israelischen Gesellschaft geteilt wird, ist eine offene Frage.

Der Vorwurf mangelnder Empathie

Nehme ich die Perspektive der universalen Moral ein, versage ich in jeder Sekunde meines Lebens, werde ich „schuldig“. Mit schuldhaftem Versagen im engeren Sinne hat das nichts zu tun. Parallel lässt sich auch die Begrenztheit der Hilfsbereitschaft in ganz konkreten Herausforderungen nüchtern konstatieren. Die Entscheidung über mehr Abschottung zum Beispiel gegenüber aus Afrika aufbrechenden Massen inklusive der Gleichgültigkeit gegenüber den Meldungen über die extremen Gefahren dieser Migration entscheidet sich eben nicht auf der Ebene der Betroffenheit als Mensch, sondern auf der Ebene des gelebten Ethos. So wird nachvollziehbar, wie Menschen, die sich an der Willkommenskultur-Arbeit beteiligt haben (und noch weiter beteiligen), zugleich, weil sie in ihrer Arbeit mit Migranten ganz konkrete Eindrücke von den abgründigen kulturellen Differenzen, Motivationen, Erwartungen gewonnen haben und damit auch realistisch die Schwierigkeiten einer Integration einzuschätzen wissen, skeptisch geworden sind und einer strikten Begrenzung des Zuzugs das Wort reden. Gemäß der Bemerkung des Bundespräsidenten, „unser Herz ist weit, aber unsere Möglichkeiten sind endlich“.

Wobei es hier, bei der Metapher Herz, auf einen Komparativ („weiter“) ankäme; denn keineswegs ist ja eine universale Bereitschaft gemeint, allen Bedürftigen in der Welt zu helfen. Letzteres wäre die Forderung der universalen Moral. Man erinnert sich: genau diese Perspektive nahmen jene Persönlichkeiten ein, die Präsident Gauck wegen seiner Bemerkung sofort öffentlich kritisierten.
Dabei drückt sich in jenem Satz die klare Erkenntnis aus, dass wir selbst im Falle tatkräftigen Helfens vielen vieles schuldig bleiben. (Die christliche Religion nennt diese unaufhebbare Grundstruktur des Daseins übrigens „Sünde“.)
Was Bundespräsident Gauck allerdings wohl nicht zu thematisieren beabsichtigte, war die Grundsatz-Frage, ob wir tatsächlich ethisch verpflichtet sind, „allen“ Menschen gleichermaßen zu helfen. Anders gesagt: unter wie viel universalistischen Forderungsstress kann man den Altruismus setzen, ohne dass es zu Gegenreaktionen kommt?

Grenzen der Schuld-Erinnerungs-Kultur
Auch hier wird die unaufhebbare Spannung zwischen nationalen Kulturen des Erinnerns und einer universalistischen moralischen Perspektive greifbar: als Mensch, nicht „als Deutscher“, müssten mich der Völkermord in Ruanda oder die Opfer des PolPot-Regimes oder die Millionen Toten, die Mao oder Stalin zu verantworten haben, genauso bis ins Mark treffen wie der im Namen Deutschlands begangene Völkermord an den Juden. Aber das ist nicht der Fall, wenn man über sich wirklich ehrlich Auskunft gibt. Es ist fast, als hätte man als unfreiwilliges Mitglied einer Nation schon genug damit zu tun, dem Vergessen und Verdrängen dieser Geschichte in der eigenen Lebenswelt entgegenzuarbeiten …

Das kollektive Erinnern der Verbrechen, die im Namen des eigenen Volkes begangen worden sind, ist – wie man allein mit Blick auf die Länder Europas zeigen kann – von ganz unterschiedlicher Prägung, wobei überall kollektive Selbstamnestierung, Amnesien und Schweigekartelle das Profil der jeweiligen Erinnerungspolitik bestimmen. Eine halbwegs wahrhaftige Kultur der Erinnerung kollektiver Schuld setzt in der Regel erst nach mehreren Generationen ein, wenn die Täter wie die Opfer gestorben sind. Aber da es hier um irrationale dynamische Prozesse kollektiver Selbstachtung geht, bleiben diese Impulse in einer Gesellschaft nie ein für alle Mal festgeschrieben.

Auf jeden Fall lässt sich festhalten, dass es vielleicht in der Geschichte noch nie ein Jahrhundert gegeben hat, in dem Öffentliche Personen so häufig Schuldbekenntnisse gegenüber Gruppen und Minoritäten, die über lange Zeiten grausam unterdrückt und ausgebeutet wurden, abgelegt haben. Geschichtlich folgenlos bleibt das hoffentlich nicht – auch wenn es niemanden gibt, der stellvertretend die Zusage von „Vergebung“ aussprechen könnte. Vor allem aber bietet dieser Schub von Schuldbekenntnissen seitens öffentlicher Repräsentanten keinerlei Gewähr gegen Rückfälle in die Barbarei.

Sprachregelungen in den Medien – die Anmaßung des journalistischen Moralismus

Spannend ist es, der Frage nachzugehen, wie in den Massenmedien durch Selektion und vor allem auch durch eine tendenziös wertende bzw. abwertende Semantik die jeweiligen Mitteilungen eingekleidet und zugerichtet werden.

Die abwertende Verwendung des Begriffs „Populismus“ steht hier pars pro toto: Ein Begriff, der in der linken politischen Theorie Lateinamerikas eine beachtliche Rolle gespielt hat und der früher einmal zur neutralen, beschreibenden Kennzeichnung der in einer Massendemokratie, insbesondere in Wahlkampfzeiten, unvermeidlichen abkürzenden Vereinfachung komplexer Sachverhalte taugte, ist zu einem denunziatorischen Begriff mutiert, der für illegitim erachtete normative Auffassungen aus dem rechten politischen Spektrum charakterisieren soll. So dient dieser Begriff dann zur Verstärkung entsprechender widerständiger Gefühle und Einstellungen.

Die Berichterstattung über die Vorgänge in unseren Gesellschaften steckt voller Beispiele für die Spannung zwischen lebensweltlichen, als unvernünftig angesehenen Verhaltensweisen und den für Menschen rechtlich unabweisbar geltenden Ansprüchen und Auffassungen.

Beispiel:

Wenn es richtig ist, dass die Übergriffe in der Kölner Silvesternacht 2015/2016 überwiegend von Männern nordafrikanischer Herkunft ausgegangen sind, dann ist es pragmatisch klug und richtig, ein Jahr später zum gleichen Anlass massenweise anreisende, teilweise aggressiv auftretende Nordafrikaner besonders akribisch zu kontrollieren und zu „begleiten“. Die Polizei musste sich daraufhin von bestimmten politischen Gruppen/Parteien/Menschenrechtsorganisationen rassistisches Vorgehen (racial profiling) vorhalten lassen. Die Massenmedien verstärkten diese Vorwürfe im Rahmen ihrer Berichterstattung.

Das politisch korrekte Paradigma ist das des universalen Menschenrechtsethos. Der Widerstand gegen diese „Logik“ bleibt weithin unartikuliert und waltet als dumpfes Unbehagen, das sich dann bei Wahlen in der Zustimmung zu Protestbewegungen und Protestparteien artikuliert.

Es war letztlich die rhetorisch-hypermoralistische Dogmatisierung und Immunisierung der „Willkommenskultur“ durch die Medien, die jede kritische Stimme unter Neonazi-Verdacht stellte und – politisch extrem folgenreich – die Regierung daran hinderte, eine mit moralischen Argumenten begründete Ausnahmesituation nach wenigen Tagen zu beenden und eine wirksame und effektive Kontrolle über die Staatsgrenzen unter Einsatz der Bundespolizei wiederherzustellen. Die – angeblich – „Verantwortlichen“ scheuten vor dem Sturm der Entrüstung, den die Bilder von dramatischen Szenen an der deutschen Grenze entfesselt hätten, zurück und wagten es nicht, durch klare Entscheidung den Ausnahmezustand zu beenden. Das überließ man – sozusagen politisch parasitär – dankbar den Ländern auf der Balkanroute, die man aber zugleich – mediengerecht mit Blick auf die deutsche Öffentlichkeit – für ihre, die „westlichen Werte“ verletzende Politik kritisierte.

Wird die hier beschriebene kulturell-geschichtliche Relativität des Normativen ignoriert, entsteht jenes moralische Überlegenheitsgefühl, welches in der Beurteilung der innereuropäischen oder transatlantischen „Andersartigkeiten“ im Blick auf das so genannte „westliche Wertesystem“ die fremden moralisch-politischen Prioritäten nicht zu verstehen vermag, sondern sich in der moralischen eigenen Rechthaberei gefällt. Kaum ein Bericht im öffentlich-rechtlichen Fernsehen ist nicht durchsetzt von moralischen Urteilen und Aburteilungen anderer Nationen, die offenbar sämtlich permanent an irgendeinem Punkt gegen die Menschenrechte verstoßen.
Die Berichterstattung über den Brexit böte da eine Fülle von Beispielen. Für schlechthin unvorstellbar, ja irrsinnig hielt man die Möglichkeit, dass eine Nation um ihrer kulturellen Identität willen sich für einen Weg entscheidet, der aus einem größeren Verbund zurückführt in eine nationale Welt der kulturellen und politischen Identität, auch wenn dies zumindest extrem ökonomisch riskant, wenn nicht gar absehbar nachteilig ist – als stünde das liberale Modell des homo oeconomicus, lebensweltlich betrachtet, nicht längst auf einem Abstellgleis. Dass Menschen zwar nach Vorteilen für sich immer streben werden, aber von Fall zu Fall Entscheidungen treffen, die nicht dem rein ökonomischen Erfolgskalkül folgen, erschien in der deutschen Berichterstattung als absolut weltfremd.
Die Berichterstattung über Trump wäre ein anderes Feld für entsprechende semantische Untersuchungen.

Fazit

Das lebensweltliche Ethos der Nationen und Kulturen, die durch die Aufklärung hindurch gegangen sind, wird durch zwei Faktoren an einer Selbstschließung gehindert: der eine ist die Vision eines universalen Weltethos, dessen säkulare Grundlagen von Kant und in den seine Anregungen aufnehmenden und ausdifferenzierenden Theorien erarbeitet worden sind; der andere Faktor ist die absolute Instanz des Gewissens, deren Nonkonformität durch keine rechtlich-politische Ordnung (auch nicht durch eine demokratische) gleichgeschaltet werden kann. Diese beiden extremen Faktoren wirken wie Stachel im Fleisch der Selbstgenügsamkeit eines Ethos und halten es in Bewegung. Der partikulare Charakter des lebensweltlichen Ethos einer Nation, welches durch geschichtliche Erfahrungen im Guten wie im Bösen geprägt ist, wird dadurch jedoch niemals aufgehoben.

So ist auch das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und dessen verfassungsrechtliche Weiterentwicklung mit seinen extremen Tendenzen zur Verrechtlichung nicht exklusiv Ausdruck einer höchst rationalen Logik des Rechts, sondern historischer Niederschlag der Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und dem Impetus des „Nie wieder!“.

Gesellschaftlich-politisch-rechtlich sind die mitteleuropäischen Gemeinwesen herausgefordert, auf zivile Weise mit der Spannung zwischen universaler Moral/Menschenrechtsethos und regionalem Lebensweltethos umzugehen.

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