Herr Professor Nida-Rümelin, Sie haben als Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie dem diesjährigen Kongress das Thema „Welt der Gründe“ vorangestellt. Warum sollten wir 2011 darüber reflektieren und was ist diese „Welt der Gründe“?
Die Frage ist, was eigentlich im Zentrum philosophischer Forschung, philosophischen Nachdenkens steht. Da gibt es verschiedene Antworten, aber eine, die mir ganz plausibel erscheint, ist: im Zentrum der gesamten Philosophie, auch wie sie sich heute darstellt, steht die Frage nach der Vernünftigkeit, Vernünftigkeit des Handelns, Vernünftigkeit des Urteils, der Überzeugung, vielleicht auch eine Vernünftigkeit der Gefühle, es gibt gegenwärtig eine Renaissance der Philosophie der Gefühle. Von daher eint dieses Thema viele sehr unterschiedliche Forschungsbereiche und auch Ansätze.
Daher trägt die Kongressüberschrift auch nicht den Titel „Raum der Gründe“, um das Thema nicht zu stark an Wilfrid Sellars, John McDowell, Robert Brandom anzubinden, also an eine analytische, aber zugleich von Hegel und Kant beeinflußte Strömung in der amerikanischen Philosophie – die Sellarsschule, zu der auch Richard Rorty gehört. Das hier gewählte Thema ist zentral für den Pragmatismus.
John Dewey hat einstmals für viele irritierend gesagt, dass man Demokratie als große Forschungsgemeinschaft verstehen muss, dass man gemeinsam, möglichst objektiv und fair, zu erfahren sucht, wie die Realität ist, um daraus Perspektiven für die Gemeinschaft in einem öffentlichen Gespräch zu entwickeln. Auch John Deweys Konzeption der Philosophie ist ganz auf die Welt der Gründe ausgerichtet.
Der Kantianismus, der Neukantianismus, der deutsche Humanismus des 19. Jahrhunderts, man kann den ganzen Deutschen Idealismus als eine Philosophie der Gründe interpretieren, aber auch in der analytischen Philosophie, zu der ich mich im weitesten Sinne zähle, spielt der Begriff eine zentrale Rolle.
Ein spezifischer Anlass, dieses Thema zu wählen, war und ist eine Feuilletondebatte, genauer: die Debatte zwischen Neurowissenschaft und Philosophie. Dabei geht es letztendlich auch um die Frage nach der Königsdisziplin. Ich selbst halte diese Diskussion für ziemlich abwegig, es gibt keine Königswissenschaft mehr, jede Wissenschaft hat ihre eigenen Paradigmen und Methoden. Obgleich die Philosophie im 19. Jahrhundert noch diese Leitbildfunktion hatte – mittlerweile haben sich die Einzelwissenschaften aus ihr jedoch herausgelöst und emanzipiert. Unterdessen ist die Philosophie eine Disziplin neben anderen, allerdings mit einem sehr spezifischen Profil. Eine der wichtigsten Aufgaben, die die Philosophie heute leistet, ist die Klärung der Fragen: was ist ein guter Grund etwas zu glauben, was ist ein guter Grund etwas zu tun, was ist ein guter Grund für bestimmte Emotionen. Diese normativen und auch logischen Fragen kann die Neurowissenschaften nach meiner festen Überzeugung mit Sicherheit nicht übernehmen, nie – auch wie sie heute aufgestellt ist. Insofern habe ich in einem Streitgespräch mit dem Hirnforscher Wolf Singer gesagt: es gibt keine Königswissenschaft, die Neurowissenschaft ist genausowenig Königswissenschaft wie die Philosophie, aber beide haben eine wichtige und integrierende Rolle, sie müssen sich wechselseitig befruchten.
Der abgedruckte Text ist ein Auszug eines längeren Interviews mit Professor Dr. Julian Nida-Rümelin, Staatsminister a. D., das demnächst in voller Länge hier erscheint.
Interview: Dr. Stefan Groß
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