Juli Zeh. Neujahr

Silvesterfeuerwerk in Cannes, Foto: Stefan Groß

Eine traumatische Geschichte um zwei Kinder, deren Eltern vor mehr als 30 Jahren ihren Urlaub auf Lanzarote verbracht haben und dort in eine Tragödie verwickelt wurden, unter der Henning bei der Rückkehr auf die Insel unbewusst leidet. Er ist mit Theresa verheiratet, Jonas und Bibi heißen ihre Kinder. Und weil Henning ein sehr ehrgeiziger, eigensinniger, und dennoch toleranter Papa ist, hat er den Urlaubsort auf Lanzarote für die ganze Familie im Internet ausgesucht, nach dem Prinzip: keine Villa, nicht zu teuer, solides Essen, Spielplatz für die Kinder, gute Straßen für den Radfahrer Henning. So präsentiert ihn auch die Erzählerin, wie er an einem windigen Januarmorgen auf seinem Leih-Fahrrad hinauf zum Bergdorf Femés strampelt, 500 m über dem Atlantik. Henning quält sich, seine inneren Bilder wechseln ständig zwischen Theresa, seiner lebenslustigen Frau, den Kindern, und vagen Erinnerungen an seine Kindheit. Auch an Werner, seinen Vater, der „etwa in Jonas‘ Alter war, vier oder fünf“, als er aus seiner Wahrnehmung verschwand. Die Erzählerin betont, dass Henning an diese Zeit „keine Erinnerung“ habe. Sie begleitet „ihren“ Protagonisten, kommentiert seine Erinnerungen, zeichnet Hennings Beobachtungen und Eindrücke in markanten knappen Sätzen auf, protokolliert seine Stimmungen und wachsende Unruhe, nimmt sogar seine innere Unruhe wahr. Deshalb kann sie auch den Zeitpunkt lokalisieren, als in Henning dieses ominöse ES wieder zu „rumoren“ beginnt. Obwohl er eine längere Zeit ohne diese innere Unruhe gelebt habe, so die Erzählerin, tauchte es plötzlich wieder auf, obwohl es, so Henning, „sich zurückgezogen hatte, lauerte“. Aber dieser geheimnisvolle Trieb wartete nur darauf, ihn zu quälen, ihm sein Lebensglück zu nehmen. Lag es daran, dass Henning alles in seinem Alltag kontrollieren wollte, dass er immer Erster-Erster sein wollte, dass er den Flirt seiner Theresa mit einem Franzosen im Speisesaal des Feriendomizils missbilligte, dass er sogar seiner nicht verheirateten Schwester Luna gerne vorschreiben würde, wie sie zu leben habe. Kurzum, Hennings ES steht im Widerspruch zu seinem Über-Ich. Doch so weit geht die Erzählerin nicht in ihrer Suche nach den Ursachen der neurotischen Störungen ihres Helden. Sie schickt ihn an den Ferienort seiner frühen Kindheit zurück. Mit Fahrrad natürlich. An einen Ort, hoch über Femés. Und dort steht er, heftig atmend, um urplötzlich zu erkennen: „Das wirklich Erschreckende ist aber, dass er kennt, was er sieht“. Er folgt einem Schild mit den Aufschriften „Artesania/ Arts Gallery / Kunst“, landet mit einem starken Gefühl der Verwirrung vor einem Haus, an dessen Außenwand sich Unmengen von Spinnen befinden, lernt Lisa, die Galeristin und Künstlerin kennen, die das Haus in einem verwahrlosten Zustand 1987 erworben hatte. Und je länger er Lisa zuhört, desto mehr zeichnet sich in seiner Psyche etwas ab, von dem er, wie die Erzählerin betont, bislang keinen Zutritt gehabt habe.

Die nun einsetzende Entschlüsselung einer unerhört-dramatischen Geschichte wird durch Lisas Anmerkung ausgelöst, hier habe man mal vor langer Zeit zwei kleine Kinder halbtot aufgefunden. Henning reagiert auf diese Bemerkung mit sporadischen visuellen Erinnerungen an bestimmte geheimnisvolle Örtlichkeiten im Haus und im Garten. Zunächst sind es erotische Versatzstückchen, an die sich Henning zu erinnern glaubt. Sie leiten über zu Erlebnissen während der Flugreise nach Lanzarote und dem Aufenthalt auf der Insel. Es ist eine bruchstückhafte Erzählung, in der das Verhältnis zwischen Mama und Papa zunächst als freundlich und liebevoll beschrieben wird. Doch plötzlich, ausgelöst durch den Joint rauchenden Papa und dessen Eifersucht gegenüber dem Gärtner Noah, der ein Techtelmechtel mit der Mama beginnt, passiert etwas ein Schreckliches, was Henning 30 Jahre danach endlich aufarbeiten kann.

Juli Zehs literarische Umsetzung einer psychopathologisch aufgeladenen Alltagsgeschichte zeichnet sich durch eine Erzähltechnik aus, die aufgrund des ständigen Wechsels zwischen erlebnisgeladener Gegenwart und vielschichtiger Vergangenheit dem Leser ständig das Bewusstsein übermittelt, er sei nicht nur Zeuge einer mysteriösen Handlung, sondern Akteur, der fieberhaft nach den Hintergründen einer schicksalhaften Verwicklung sucht. Er wird dabei ständig mit dem Schlüsselwort ES konfrontiert, das ihn – ebenso wie den leidenden Protagonisten Henning – zumindest bis zur Hälfte der Erzählhandlung begleitet. Irritierend ist seine Verwendung von Anfang an, weil die Erzählerin ihn mit dem vagen Wissen um die Dimension des Freud’sche Begriffs ausstattet, ihm jedoch keine Gewissheit über die Hintergründe seines Leidens gibt. In eben diesem Spannungsbogen zwischen dem neurotisch aufgeladenen Alltag zweier deutscher Familien und dem dramatisch zugespitzten psychopathologischen Konflikt ist der Plot des Romans angesiedelt. In kurzen, pointierten Sätzen treibt Juli Zehs Erzählerin die Handlung voran, lässt ihre Figuren zwischen der unbewussten Gewissheit eines unerhörten Ereignisses, der unterbewussten Gewissheit von der Auflösung des Dramas und dem alltagsbewussten Handeln so geschickt agieren, dass der Leser gleichsam atemlos der Lösung des Konflikts entgegeneilt. Ein meisterhafter Roman, brillant in der Umsetzung des narrativen Gefüges und der umrisshaften Konturierung der Figuren!

Juli Zeh. Neujahr. Roman. München (Luchterhand) 2018, 192 S., 20,00 EURO, ISBN 978-3-630- 87572-9.

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