Die Unantastbarkeit der Menschenwürde und warum sie dennoch geschützt werden muss

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Die Würde des Menschen

… ist der zentrale Begriff unserer Verfassung von 1949. In Art. 1 GG heißt es: „(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Und er ist auch schon der zentrale Begriff der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948. Art. 1: „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.“ Aber was genau ist damit gemeint?Der Menschenwürdebegriff ist wohl einer der schwierigsten, die es überhaupt gibt, und ist daher alles andere als leicht zu verstehen. Um ihn zu erfassen, muss man nämlich die Natur des Menschen selbst in ihrem Wesenskern begreifen. Wir müssen hier also ganz tief in die Anthropologie eintauchen.#Würde bedeutet, die Fähigkeit, über sich selbst bestimmen zu können, dergestalt dass die eigenen Wünsche und Interessen von einem selbst einer kritischen Prüfung unterzogen werden.Würde setzt also #Kritikfähigkeit sich selbst gegenüber voraus. Genau das kann das Tier nicht und genau das unterscheidet den Menschen fundamental und kategorial von allen anderen bekannten Lebewesen und macht seine Würde erst aus: die Fähigkeit, sich selbst zu #beurteilen und das heißt immer auch: sich selbst zu verurteilen und zu sich selbst zu sagen: „So, wie du gerade bist, ist es nicht gut. Du musst dich ändern.“ Eine Ameise oder ein Eisbär kann solch einen selbstreflexiven Gedanken nicht fassen, ist zu solch einer Selbstbeurteilung nicht fähig.

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Das göttliche Moment in uns

Um dieses „Du musst dich ändern“ sagen zu können, braucht es #Urteilsvermögen und braucht es #Phantasie, einen Entwurf von sich zu ersinnen, wie man sein möchte. Dazu ist kein anderes Wesen fähig. Nicht einmal die Götter, von denen uns die Mythen und Religionen erzählen, sind dazu imstande, sich selbst zu kritisieren und einen Entwurf von sich zu machen, wie sie sein möchten. Gleichwohl könnte man dies das göttliche Moment in uns nennen, weil wir durch diese Gabe befähigt werden, #Schöpfer unserer selbst zu werden. Doch dazu, Schöpfer und zugleich Geschöpf zu sein, Bildhauer und zugleich das Material des Bildhauers, müssen wir zuerst befähigt werden und zwar durch Erziehung. Dazu müssen wir herangeführt werden. Dazu gleich mehr.

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Wünsche und Ziele zweiter Ordnung

 Das Ganze setzt ein Gewissen voraus und just dieses ermöglicht etwas, was wir Wünsche und Ziele zweiter Ordnung oder Meta-Wünsche/-ziele nennen können. So können wir beispielsweise den Meta-Wunsch entwickeln, mehr Sport treiben zu wollen und das zu genießen, also den Meta-Wunsch, den Wunsch zu verspüren, Sport treiben zu wollen. Oder wir können den Meta-Wunsch entwickeln, weniger aufbrausend zu sein, geduldiger, großzügiger, gütiger usw. Meta-Wünsche beziehen sich also nicht auf etwas Äußeres, was wir haben wollen, sondern beziehen sich auf unsere Wünsche erster Ordnung und auf unser eigenes Sein.

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Giovanni Pico della Mirandolas Grundlegung des Würde-Begriffs

 Einer der ersten, der dies beschrieb, und damit den Würde-Begriff vorbereitete, war Giovanni Pico della Mirandola, der mit seiner Rede „Über die Würde des Menschen“ von 1486 oftmals als Ahnherr der Menschenwürde angesehen wird. In der Tat war es Pico, der das entscheidende anthropologische Element ins Zentrum gerückt hat: die Offenheit jedes einzelnen Menschen für seine jeweils durch ihn #selbst zu #verantwortende #Entwicklung (wichtig: Wir selbst sind für das, was aus uns wird, verantwortlich, nicht „die Gesellschaft“, „die Umstände“, „die anderen“).

Der Mensch kann entsprechend seiner eigenen Wahl und seines eigenen Verhaltens zu einem Tier herabsinken oder zu einem Gott hochsteigen. In einer fiktiven Rede lässt Pico Gott Folgendes zum Menschen sagen:

„Weder haben wir dich himmlisch noch irdisch, weder sterblich noch unsterblich geschaffen, damit du wie dein eigener, in Ehre frei entscheidender, schöpferischer Bildhauer dich selbst zu der Gestalt ausformst, die du bevorzugst. Du kannst zum Niedrigen, zum Tierischen entarten; du kannst aber auch zum Höheren, zum Göttlichen wiedergeboren werden, wenn dein Wille es beschließt“.

Der Mensch als schöpferischer Bildhauer seiner selbst. Das ist der entscheidende Gedanke. Das ist es, was den Menschen zum Menschen macht. Es wird 300 Jahre später Immanuel Kant sein, der den Würde-Begriff dann in aller Klarheit herausarbeitet und ihn von jeder äußeren Legitimation befreit. Würde, so macht Kant klar, bedeutet die Fähigkeit zur #Selbstgesetzgebung, bedeutet #Autonomie.

Damit ist gemeint: selbstgewählte moralische Maximen zu formulieren, an denen ich mein Handeln ausrichte, Maximen, die zugleich dem Anspruch genügen sollten, verallgemeinerbar zu sein, dergestalt dass ich wollen kann, dass jeder meine Maxime übernehmen und nach ihr handeln würde (kategorischer Imperativ). Ich gebe also meinem Handeln selbst ein Gesetz vor, einen Grundsatz, an dem ich mein Tun messe und mein Handeln und damit zugleich mich selbst entsprechend beurteile, bewerte, ob und inwieweit ich meinem eigenen Gesetz, meinen eigenen Grundsätzen und Wertvorstellungen gerecht geworden bin oder nicht.

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Die Unantastbarkeit der Menschenwürde und warum sie dennoch geschützt werden muss

 Zu dieser inneren Freiheit und Autonomie müssen Menschen erst befähigt werden. Die Fähigkeit hierzu ist zwar in uns angelegt, das macht unsere Würde als Mensch aus und weil diese Anlage immer in uns da ist, ist diese Würde auch unantastbar. Diese potentielle Fähigkeit, die uns zum Menschen macht, kann nicht verloren gehen oder weggenommen werden, deswegen unantastbar. Das Mensch-sein kann man niemandem rauben. Aber die Würde, die Anlage zur Selbstbestimmung, muss geschützt werden, um sich entwickeln zu können und um ausgeübt werden zu können. Wenn jemand diese Fähigkeit zur Selbstbestimmung entwickelt hat, kann ein anderer ihm diese Fähigkeit nicht wegnehmen (unantastbar), aber andere können ihm die Verwirklichung der Selbstbestimmung unmöglich machen, indem sie ihn unterdrücken und ihn an der freien Entfaltung hindern. Die Fähigkeit dazu geht dann nicht verloren, aber sie kann sich dann nicht verwirklichen. Wird jede Verwirklichungsmöglichkeit dieser Autonomie verhindert, so widerspricht dies geradezu dem Wesen des Mensch-seins. Deshalb muss die Würde mit aller Macht geschützt werden, weil es um das Menschliche im Menschen geht.

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Erziehung zur Autonomie

 Diese Anlage muss hierbei erst allmählich entwickelt werden, sie ist in dem kleinen Kind schon da, aber noch nicht entfaltet. Und diese Entfaltung ist ein sehr langwieriger und schwerer Weg, dessen Ergebnis zudem immer kontingent bleibt. Selbst wenn man alle möglichen Anstrengungen unternimmt und alles richtig macht, stellt dies keine Garantie dar, dass es bei jedem einzelnen gelingt, ihn zu einem autonomen, verantwortungsbewussten, zivilisierten und für die Gesellschaft wertvollen Wesen zu erziehen, welches a) zur Freiheit und Eigenverantwortung fähig ist, welches b) die Menschenrechte anderer achtet und c) neben der Selbstverwirklichung auch das Gemeinwohl nicht aus den Augen verliert und versucht, beides so gut als möglich in Einklang zu bringen und d) mithilft, die nächste Generation wiederum entsprechend zu erziehen, mit dem Ziel, dass jede Generation diesem hohen, nie ganz zu erreichenden Ideal immer ein bisschen näher kommt und das bereits Erreichte nicht wieder verloren geht.

Aus dieser potentiellen Befähigung zur Freiheit, zur Autonomie, die unser Wesen als Mensch geradezu essentiell ausmacht, entsteht zugleich die #Pflicht, die nächste Generation zu just solchen aufgeklärten, menschenrechtsorientierten Wesen zu erziehen. Sie also nicht wie Tiere abzurichten und zu dressieren – das würde ihrer Würde als Mensch widersprechen -, sondern ihnen durch Erziehung ermöglichen, emanzipierte Wesen zu werden, die sich nicht von anderen blind lenken lassen, sondern zu solchen, die in freier Selbstbestimmung über ihr Leben und auch über das der Gesellschaft, in der sie leben, frei bestimmen, sich hierbei aber nicht vollkommen egoistisch verhalten, sondern über ihre Vernunftfähigkeit lernen, sich dem Allgemeinwohl zumindest partiell unterzuordnen, das aber wiederum nicht durch äußeren Zwang oder permanente Manipulation, beides widerspräche wiederum der Würde des Menschen, sondern aus innerer Einsicht.

Diese innere Einsicht ist wiederum nur deshalb möglich, weil wir grundsätzlich dazu fähig sind, uns selbst kritisch zu reflektieren und zu bewerten, weil wir also Menschenwürde besitzen, also die Fähigkeit zur Selbstreflexion, zur Selbstbewertung, zur Selbstbestimmung, zur Selbstgesetzgebung, zur Autonomie.

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Schlusswort

Aber ist das nicht enorm anspruchsvoll? Müssen wir daran letztlich nicht scheitern, weil das zu schwer ist? Ja, das ist anspruchsvoll. Sehr sogar. Aber das ist uns angelegt. Dazu sind wir grundsätzlich fähig. Sicherlich werden wir immer ein Stück weit daran scheitern, aber vielleicht kommt es darauf an, auf welchem Niveau wir scheitern. Und: dass wir uns darum überhaupt bemühen, dem was in uns angelegt ist, gerecht zu werden.

„Es irrt der Mensch so lang er strebt.“ (Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Der Tragödie erster Teil).

Aber: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“ (Johann Wolfgang von Goethe, Faust. Der Tragödie zweiter Teil).

Quelle: Jürgen Fritz

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