55. Jubiläum: Der letzte Auftritt der Beatles beim „Rooftop Concert“

Vor 55 Jahren war über London ein trister Wintertag aufgezogen. Wolken hingen tief, Regen drohte. Knapp über dem Gefrierpunkt – böiger Themsewind. In einer kleinen Nebenstraße im Westend, in der Savile Row, war es ruhiger, windgeschützt. Wer an diesem unwirtlichen 30. Januar 1969 gegen Mittag hier entlangkam oder in der nahen, wesentlich größeren Regent Street im vornehmen Mayfair, nahe beim Piccadilly Circus, die Ohren recht gut spitzte, vernahm vertraute Klänge. Ei, das war bekannt – das waren doch die Beatles! Und das war live – Fachleute hörten’s sofort! Da spielten doch nicht etwa die Beatles an einem winterlich-zugigen Donnerstag Open Air? Sensationell!

Ja, so war’s! Im Hauses Nr. 3 an der Savile Row hatte die berühmteste Band der Welt ihr Studio, und nun waren sie alle aufs Dach geklettert! Mitarbeiter hatten zuvor ein komplettes Verstärker-Set auf dem Dach ihres Studios montiert. Ringo schraubte am Schlagzeug, Paul stimmte seinen Höfner Violin, den Bass, und wahrscheinlich fragte John seine Yoko, ob ihr auch nicht zu kalt sei. War das so geplant? Natürlich nicht. Ursprünglich hatten sie im antiken Amphitheater von El Djem in Tunesien spielen wollen. Oder doch lieber in der Wüste, oder gleich direkt vor der nur noch teilweise vorhandenen Nase der Sphinx in Gizeh. Oder doch lieber auf der QE 2? Alle Pläne erweisen sich binnen kurzem als unrealistisch. Nicht einmal Londoner Örtlichkeiten wie „The Roundhouse“ oder das „Palladium“ waren mit den ganz unterschiedlichen Planungen der vier inzwischen so unterschiedlich lebenden und arbeitenden Mitglieder der Beatles in Einklang zu bringen.

So war dann Pauls Idee, die Aufnahme einer Konzertszene für den Film „Let it be“ jetzt, gleich, sofort zu machen, eher eine Notlösung. Jefferson Airplane hatten das wenige Wochen zuvor in New York vorgemacht. Der ursprüngliche Schwung der frühen Jahre sollte dargestellt werden, die Kreativität der Band – und das Ergebnis sollte sein, die Relevanz des muskalischen Schaffens der Band zu zeigen. Dahinter stand natürlich auch Pauls ganz ernst gemeinte Idee, endlich mal wieder gemeinsam neue Songs schreiben, zusammen improvisieren, gemeinsam die Produktion gestalten und schließlich alles mit einem Konzert krönen. Ein kreativer Prozess kam dann natürlich auch in Gang – und wurde für eine Filmdokumentation aufgenommen. Der Titel des Projekts war indes mehrdeutig: „Get Back“.

Und nun der Live-Gig für den Film. Ohne Vorankündigung, natürlich überhaupt nicht für die Öffentlichkeit gedacht. Wer sich aber von der Musik leiten ließ, kam bald zum Haus Nr. 3, Savile Row. Nun war die Musik deutlich zu hören. „Get back! Get back to where you once belonged….“ eindeutig die Stimme von John Lennon – sie spielten live in der Öffentlichkeit! Jeder in London kannte die Gerüchte um Streit in der Gruppe, jederman wusste, dass die Beatles im August 196 nach einem Konzert im Candlestick Park in San Francisco verkündet hatten, nie wieder Konzerte zu geben. Weil die Lieder zu komplex waren, um sie in einem Konzert aufführen zu können – oder weil ständig Streit war.

Warum auch immer, rund zweieinhalb Jahren waren vergangen, eisern hatte die Band ihre Abstinenz durchgehalten. Und nun diese Musik! „Don’t let me down“ – Lennon schmachtete jetzt Yoko Ono an, so hörte es sich an. Was die Zuhörer, die sich nun immer zahlreicher unten auf der Straße versammelten, nicht sehen konnten: Yoko war tatsächlich da, oben auf der der Dachterrasse von Nr. 3 Savile Row, John blickte sie  immer wieder an, während er sang. Und weil der Januarwind auf dem Dach schneidend kalt war, gab sie ihm nun ihrerseits ihren schwarzen, flauschigen Mantel; sie selbst hielt’s tapfer aus, an einen Kamin gelehnt. Auch Ringo Starr hatte sich beizeiten in einen knallroten Mantel gehüllt, er war eng geschnitten, stark tailliert – kein Wunder, gehörte er doch seiner Frau Maureen. Tapfer trommelte er, unmerklich in seinen Bewegungen gehindert durch den engen Mantel, gegen den eisigen Nordseewind an, der die Themse hinaufpfiff.

Ja, diese Musik ist uns vertraut. Sie ist zu einem wichtigen Stück unserer selbstdefinierten kulturellen Identität geworden. Wir alle tragen ein Stück „inneres England“ in uns – es müssen nicht die Beatles sein, deren Konzert sich im kalten Januarwind jährt. Es kann auch die Erinnerung an die Kathedralen von Salisbury, Winchester oder Canterbury sein, an ein Weihnachtskonzert in St.-Martin-in-the-Fields mit Neville Marriner am Pult oder selbstgespielter Purcell, wenn man denn ein Instrument beherrscht. Oder ein Besuch im Globe Theatre oder in Stratford upon Avon sein – sie wissen schon, bei wem. Wir alle haben ein „inneres England“ in unserem Herzen. Der Brexit hat daran nichts geändert.

Das Rooftop Concert der Beatles am 30. Januar 1969 war nach 42 Minuten vorbei. Paul McCartney erinnerte sich später: „Es war schon ein seltsamer Auftrittsort. Außerdem hatten wir dort oben kaum Publikum, nur ein paar Leute. So spielten wir buchstäblich das Nichts an. Vor uns war nur der Himmel. Es war schön.“ Unvermittelt kam das Ende übrigens etwas früher als geplant, denn die diensthabenden Beamten des naheliegenden Polizeireviers taten ihre Pflicht und stellten die öffentliche Ordnung akribisch wieder her – oben auf dem Dach und down in the street.

  1. Get Back (fünf Versionen, über das Konzert verteilt)
  2. I Want You (She’s So Heavy)
  3. Don’t Let Me Down (zwei Versionen)
  4. I’ve Got A Feeling
  5. One After 909
  6. Danny Boy
  7. Dig A Pony (zwei Versionen)
  8. God Save The Queen
  9. A Pretty Girl Is Like A Melody

 

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Über Sebastian Sigler 104 Artikel
Der Journalist Dr. Sebastian Sigler studierte Geschichte, Literaturwissenschaft und Kunstgeschichte in Bielefeld, München und Köln. Seit seiner Zeit als Student arbeitet er journalistisch; einige wichtige Stationen sind das ZDF, „Report aus München“ (ARD) sowie Sat.1, ARD aktuell und „Die Welt“. Für „Cicero“, „Focus“ und „Focus Money“ war er als Autor tätig. Er hat mehrere Bücher zu historischen Themen vorgelegt, zuletzt eine Reihe von Studien zum Widerstand im Dritten Reich.