John Rawls und die Theorie der Gerechtigkeit

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Jürgen Carsten: Gerecht ist … Die Gerechtigkeitstheorie von John Rawls – eine kritische Würdigung. Marburg (Tectum): 2008. 104 Seiten. EUR (D) 24,90. ISBN: 3828897754.

John Rawls (1921-2002), Professor für Politische Philosophie an der Harvard University, gilt als der einflussreichste Vertreter der liberalen politischen Philosophie des 20. Jahrhunderts. Vor allem mit seinen Werken „Gerechtigkeit als Fairness“i und „Eine Theorie der Ge­rechtig­keit“ii versuchte er, das Wesen der Gerechtigkeit genauer fest­zu­legen. Er bestimmte die Rolle der Gerechtigkeit als erste Tugend sozialer Institutionen. Die Aufgabe von Gerechtigkeitsgrundsätzen sah er darin, die Grundstruktur der Gesellschaft festzulegen, d.h. die Zu­weisung von Rechten und Pflichten und die Verteilung der gesamt­ge­sellschaftlichen Güter.

Jürgen Kersten macht den Versuch, die Gerechtigkeitstheorie von Rawls zu analysieren und kritisch zu würdigen. Dabei geht er auf die beiden Grundsätze der „Gerechtigkeit als Fairness“ ein: 1.Jeder Mensch soll ein gleiches Recht auf alle Grundfreiheiten be­sitzen (Wahlrecht, Rede- und Versammlungsfreiheit, Unver­letz­lichkeit der Person, Recht auf Eigentum),

2.Soziale und wirtschaftliche Ungleichheit sind nur dann zu akzeptieren, wenn a) das Prinzip der fairen Chancengleichheit herrscht, b) wenn sie dem am schlechtesten gestelltem Mitglied der Gesellschaft noch zum Vorteil gereichen.

Kersten arbeitet die moralphilosophische Annahme Rawls heraus, dass, wenn die Grundstruktur und die Institutionen einer Gesellschaft gerecht sind, ihre Mitglieder den Gerechtigkeitssinn erwerben, d.h den Wunsch, gerecht zu handeln. Dieser Gerechtigkeitssinn wird über soziales und moralisches Lernen, Gefühle der Freundschaft sowie des Vertrauens entwickelt. Der Gerechtigkeitssinn wird somit zu einem elementaren Bestandteil der Gesellschaft. Weiterhin entwickelt Kersten Parallalen zwischen der Theorie Rawls und dem mittelalterlichen Sachsenspiegel.

Die schon häufig vorgetragene Kritik, dass der Inhalt des Begriffes der Ge­rechtigkeit in Geschichte und Gegenwart von religiösen und welt­an­schaulichen Vorverständnissen bestimmt ist und sich mit dem Wandel der politisch und sozial hegemonialen Wertvorstellungen verändert, wird bei Kersten nicht näher behandelt. Walzer kam zu der Erkenntnis, dass Ge­rechtigkeit ein menschliches Konstrukt ist.iii Kelsen kommt in seiner Erörterung zu derselben Einsicht:iv

„Die Bestimmung der absoluten Werte im allgemeinen und die Definition der Gerechtigkeit im besonderen, die auf diesem Wege erzielt werden, erweisen sich als völlig leere Formeln, durch die jede beliebige gesellschaftliche Ordnung als gerecht gerechtfertigt werden kann.“
Die zweite Schwachstelle der Arbeit ist die fehlende Analyse der von Rawls Theorie ausgehenden Diskussionen in den Rechts- und Kultur­wissenschaften über Gerechtigkeit. Als Reaktion auf Rawls Darlegungen entwickelte sich ab den 1970er Jahren eine intensive Debatte um die Frage der Gerechtigkeit. Darunter finden sich radikale Liberale wie Friedrich Hayekv, Vertreter des Kommunitarismus wie Alasdair Mac Intyrevi oder Charles Taylorvii, die Diskurstheorie des Rechts von Jürgen Habermasviii oder der Capabilities-Ansatz von Amartyra Sen.ix

Insgesamt gesehen kann das untersuchte Buch lediglich als erste Ein­führung in das Werk von John Rawls und der Frage nach Gerechtigkeit dienen. Zentrale Punkte werden entweder nicht ange­sprochen oder nur kurz erläutert; die im Titel angekündigte kritische Würdigung wird nur teilweise eingelöst.

i Rawls, J.: Gerechtigkeit als Fairness, Frankfurt/Main 2004.
ii Rawls, J.: Eine Theorie der Gerechtigkeit, Frankfurt/Main 2003.
iii Walzer, M.: Sphären der Gerechtigkeit. Ein Plädoyer für Pluralität und Gleichheit, Frankfurt/Main/New York 2006, S. 30.
iv Kelsen, H.: Was ist Gerechtigkeit?, Wien 1975, S. 18.
v Hayek, F.A.: Drei Vorlesungen über Demokratie, Gerechtigkeit und Sozialismus, München 1977.
vi Mac Intyre, A.: Der Verlust der Tugend. Zur moralischen Krise der Gegenwart, Frankfurt/Main 2006.
vii Taylor, C.: Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt/Main 1993.
viii Habermas, J.: Faktizität und Geltung, Frankfurt/Main 1992.
ix Sen, A.: Commodities and Capabilities, Amsterdam 1985.

Über Michael Lausberg 572 Artikel
Dr. phil. Michael Lausberg, studierte Philosophie, Mittlere und Neuere Geschichte an den Universitäten Köln, Aachen und Amsterdam. Derzeit promoviert er sich mit dem Thema „Rechtsextremismus in Nordrhein-Westfalen 1946-1971“. Er schrieb u. a. Monographien zu Kurt Hahn, zu den Hugenotten, zu Bakunin und zu Kant. Zuletzt erschien „DDR 1946-1961“ im tecum-Verlag.

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