Johann Michael Sailer – Der große Gegenspieler von Immanuel Kant

Grabstätte des Bischofs Johann Michael Sailer von Regensburg
Grabstätte des Bischofs Johann Michael Sailer von Regensburg

Vor über 200 Jahren wurde die katholische Welt durch die Aufklärung in ihren Grundfesten bedroht und auch damals standen die Zeichen auf Krise. Ein Blick in das Denken des Regensburgers Bischofs Johann Michael Sailer verrät, wie aktuell der einstige „bayerische Kirchenvater“, der „Heilige der Zeitenwende“ und der bedeutendste Brückenbauer der damaligen Zeit auch heute noch ist. Eine vom Glauben entkoppelte Vernunft verkürzt die menschliche Existenz, war sein Credo.

Ob Corona-Pandemie, Hyperinflation oder Ukraine-Krieg – die Menschheit ist im Dauerkrisenmodus. Doch die Geschichte wiederholt sich und die Krisen erweisen sich als das existentielle Kontinuum des Daseins. Dass Leben Krise ist, musste auch der 1829 zum Bischof von Regensburg geweihte Johann Michael Sailer (1751-1832) von Jugend an erfahren. Der Theologe, Universitätslehrer, Prediger und Priester wuchs in Zeiten buchstäblicher Umbrüche auf, in einer Zeitenwende – vergleichbar den modernen Unübersichtlichkeiten und Diskontinuitäten. Der Jesuitenorden war verboten, die Französische Revolution zündete die Kerze der Vernunft und des Terrors zugleich an. Napoleon erkämpfte sich die Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit durch das Blut von Millionen. Die Schlachtfelder quollen von einer entgrenzten Freiheit getragen über, die im unmenschlichen Feuer keine Grenzen mehr kannte. Die Säkularisierung wuchs zu einem allesbestimmenden, die barocke Frömmigkeit buchstäblich zerfressenden Ungeheuer heran, das die alte katholische Ordnung von Innen und Außen fast auffraß. Im Zuge der Aufhebung der Reichstände (1803) kam es dann zur Schließung von Klöstern und Stiften sowie katholischen Universitäten und Bildungseinrichtungen.  Die Vermessung der neuen Welt im Sinne der religionskritischen Aufklärung einerseits und der romantischen Transzendentalpoesie andererseits legten das Rasiermesser an den Glauben und an einen transzendenten und persönlich gedachten Gott.

Die Philosophie des Königsberger Philosophen Immanuel Kant geriet fast zum Fallbeil des Glaubens. Die Vernunftreligion als der alles räsonierte Zeitgeist verkürzte Gott zum „Als ob“. Selbst die Religion wurde buchstäblich vom Himmel in die Endlichkeit geholt und feierte ihren Siegeszug lediglich als Moral, die sich nicht mehr auf Gott und die göttlichen Gebote berief, sondern sich mit dem von aller Metaphysik losgelösten kategorischen Imperativ eine Gesinnungsethik an die Hand gab, mittels dessen die Wahrheit und die Freiheit ganz dem Individuum überantwortet wurden. Nur das sollte bekanntlich nach Kant „wahre Religion“ sein, was der Mensch selbst aus reiner Vernunft heraus nachzuvollziehen vermag. Und auch an die Offenbarung hatte der Philosoph die Klinge gelegt. Zwar würdigte er ihre Bedeutung für den geistigen Fortschritt der Menschheit, betrachtete sie letztendlich aber als eine zu überwindende Stufe. Dem Königsberger galt bekanntlich diese nur noch als eine Art Stütze, die ihre Geltungskraft dann verliert, wenn der Mensch zum Vernunftglauben gekommen sei. Verabsolutierte Kant den vernünftigen „reinen“ Glauben, so war Religion für den evangelischen Theologen Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher ihrem Wesen weder Denken noch Handeln, sondern hatte „eine eigene Provinz im Gemüt“. Entweder Vernunft oder Gemüt – die Aufklärung hatte den Menschen damit endgültig gespalten.

Neue Halteseile für den Glauben

In dieser bewegten Zeit, wo die Welt auf den Kopf gestellt wurde und sich in den Geisteswissenschaften sowie in den Köpfen vieler Theologen die berühmte kopernikanische Wende vollzog, war es an Sailer, dem Jesuiten, Hirten, Priester und Wissenschaftler, der Religion ihre spirituelle Kraft zurückzugeben und der Theologie ihr metaphysisches Halteseil über dem Abgrund der Säkularisierung erneut aufzuspannen. Sailer, der sich sein ganzes Leben hinweg mit dem Königsberger „Alleszertrümmerer“ intensiv beschäftigte und diesem sein religiöses Glaubensmanifest entgegenstellte, schrieb: „Wenn ein Menschenkind, wie sich ein Philosoph ausdrückt, erstens discipliniert, zweitens kultiviert, drittens zivilisiert und viertens moralisiert werden muß, so muß es fünftens auch divinisiert, das heißt zum göttlichen Leben gebildet werden, wenn ihm anders das höchste Leben, das eigentliche Leben im Menschenleben, nicht fehlen soll.“

Der Mensch als leib-geistige Einheit

Der philosophisch zuhöchst gebildete Sailer widerspricht damit nicht den Gedanken der Aufklärung an sich, sieht aber deutlich ihre Grenze darin, dass diese den Menschen bloß auf seine Individualität reduziert und letztendlich zum Herrn der Schöpfung macht. Gott hingegen wird entsubstantialisiert und verbleibt als bloß hypothetisches Wesen ein Lückenbüßer einer sich als autonom generalisierenden praktischen Vernunft. Damit aber, so der Theologe aus dem oberbayerischen Aresing, verkürzt sich die Einheit des Menschen auf seine Ratio und löst das existentielle Geflecht mit seiner Leiblichkeit auf. Eine derartige Verkürzung des Menschen auf seine Ratio impliziert schließlich seine Verkleinerung, da sich der Mensch nicht mehr als das Ganze der Schöpfung wahrzunehmen vermag, sondern nur sich selbst als in sich geschlossene Einheit begreift und sich damit autonom und absolut setzt.

Sailer, der klar zwischen Verstand und Vernunft in seinem Werk „Grundlehren der Religion“ unterscheidet, hatte dem Verstand die Fähigkeit zugewiesen, die Welt und sich damit seiner selbst bewusst zu werden. Der Vernunft hingegen attestierte er die Fähigkeit zu, Gott zu vernehmen. „Die Wahrnehmung Gottes durch die Vernunft macht den Menschen erst eigentlich zum Menschen und ist die Möglichkeitsbedingung jeder anderen Wahrheitserkenntnis.  – Weil Gewissen Vernunft in ethischer Hinsicht ist, wird im Gewissen Gott selbst als höchster Gesetzgeber vernommen. – Die Fähigkeit des Wollens wird nicht in erster Linie als Wahlfreiheit verstanden, sondern von der Dynamik der Vernunft und des Gewissens auf Gott hin als Freiheit zum Guten. Die Freiheit des Wollens ist dem Menschen gegeben, damit er die sittliche Freiheit erreiche.“

Was Sailer letztendlich an der Aufklärung kritisiert, ist ein Vernunftbegriff einerseits, der sich vom Transzendenten löst und einen Verstand andererseits, der sich nur an den Prinzipien von Nützlichkeit, Individualismus und Selbstverglückung orientiert. Dieser ethische Eudämonismus, der die endliche Glückseligkeit zum Zweck der ganzen Schöpfung macht, führt letztendlich in den Relativismus als Maß aller Dinge. So nimmt es nicht Wunder, dass der Pastoraltheologe gegen die Auffassung rebelliert, dass es unabhängig vom Gewissen keine objektiv-moralischen Gesetze mehr gibt. Das Gewissen bleibt – gegen die Aufklärung gewendet – nicht der Ort endlicher Selbstzentrierung, sondern erlangt seine Autorität allein durch seine göttliche Begründetheit. Wie das Gewissen für Sailer „gottvernehmende Vernunft“ ist und damit relational und personal verstanden wird, so begründet er auch den Gedanken der Menschenwürde von Anfang theologisch. Die Menschenwürde ist keine vom Menschen erworbene, sondern eine dem Sein mitgegebene göttliche Qualität und damit abgeleitet von Gottes Würde qua „Bild Gottes“. „Alles, was Mensch ist, ist dem guten Menschen ehrenwert. Der gute Mensch ehrt in jedem Menschen die Menschheit und in der Menschheit die Gottheit, deren Bild jene ist.“

Johann Michael Sailer als Brückenbauer

Auch im 21. Jahrhundert feiern Aufklärung und Globalisierung ihre Triumphzüge und potenzieren sich in Gender- und Transhumanismus-Idolen, die dem Religiösen kräftig ins Gesicht blasen, weil sie sein traditionelles Wahrheits- und Glaubensverständnis aus den Angeln zu heben drohen. Im Zeitalter, wo eine zunehmende Diktatur des „Alles ist erlaubt“ regiert, wo allein das rationale Argument das einzige zu sein scheint, dem Geltungskraft zugesprochen wird, wo ein theologischer Eklektizismus als Modeerscheinung den Glauben immer wieder vor neue Prüfungen stellt, zeigt uns ein Blick auf das Denken des Regensburger Bischof Sailer: Nur wenn es dem Menschen wieder gelingt, aus sich heraus in enger Beziehung zu Gott zu treten, die Vernunft für das Transzendente zu weiten und sich wider den Zeitgeist aufzurichten, lässt sich das lebendige Feuer des Glaubens erneut neu entzünden. Für diese funkelnde Gabe hat Sailer immer geworben, erweckte eine ganze Priestergeneration damals zu neuer Spiritualität und Mystik. Sein „Vollständiges Gebetbuch Lese- und Betbuch“ sowie seine Übersetzung der „Nachfolge Christi“ sind auch heute keineswegs aus der Welt gefallen, sondern lesenswerte Quellen. In Zeiten, wo der Zeitgeist des Relativismus wütet und alles Wahrhafte, Gute und Schöne, was den Hauch des Religiösen in sich trägt und atmet, aus purer Lust zerstören will, wo er sich also mächtig gegen das Tradierte und Konventionelle, gegen das religiös-konservative Leben wie ein Allesvernichter aufrichtet und seinen Siegeszug durch die weltlichen Institutionen antritt, sollte man sich, wie es einst Sailer predigte, erneut auf den Ursprung des Glaubens konzentrieren, um daraus Kraft zu schöpfen.

Johann Michael Sailer, „der bayerische Kirchenvater“, der weit über die Grenzen Europas hinaus zu den einflussreichsten Denkern seiner Zeit und auch heute noch zählt, hatte nicht zuletzt seinen Mut und seine Energie aus dem Apostolischen Glaubensbekenntnis, dem Gottesdienst, der Feier des Kirchenjahres und dem christlichen Kultur- und Brauchtum geschöpft. Diese tiefe Innerlichkeit einerseits und das Zurück zu den Quellen des Glaubens andererseits waren sein Rettungsanker in einer damals vom Zeitgeist schwer angeschlagenen Kirche in tobend-unruhiger See. Die Zeiten haben sich zwar geändert, die Krisen aber sind geblieben. Unsere Gesellschaft mag zwar ganz anders als die seinige damals gewesen sein, aber auch sie bleibt genauso auf das Heil angewiesen. Auf dieses Heil hinzuarbeiten, macht Sailer auch nach 250 Jahren noch zu einem Brückenbauer. Von ihm können wir lernen, dass selbst eine Kirche, die im Sturm steht, dann nicht untergehen kann, wenn sie die Einsicht trägt, dass wahrhafter Glaube die Vernunft nicht demütigt, sondern diese für ihn öffnet. Dies bleibt damals wie heute ein Dreh- und Angelpunkt für jeden Glaubenden, um nicht in der wütenden See eines uferlosen Relativismus zu ertrinken.

Literaturhinweis

Johann Michael Sailer als Brückenbauer: Festgabe zum 99. Katholikentag 2014 in Regensburg, Verlag des Vereins für Regensburger Bistumsgeschichte 2014, hg. Von Konrad Baumgartner und Rudolf Voderholzer.

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2159 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".