Die damals in Thüringen lebende DDR-Schriftstellerin Inge von Wangenheim (1912-1993) veröffentlichte 1980 den an der Erweiterten Oberschule in Pößneck spielenden Roman „Die Entgleisung“, der ungeheures Aufsehen erregte. Beschrieben wird dort, wie am 31. August eines ungenannten Jahres, es war republikweit der letzte Tag der Sommerferien, in der Nähe von Pößneck ein Güterzug entgleist und aus dem letzten Waggon 500 pornografische Schriften in die saubere DDR-Landschaft gekippt werden. Die Schulkinder sammeln begeistert die illustrierten Hefte ein und bringen sie mit in den Unterricht, im Lehrekollegium und im Pädagogischen Rat herrscht helle Aufregung über diese vermeintliche Provokation des westdeutschen „Klassenfeinds“, bis der rasch herbeizitierte Parteisekretär der volkseigenen Druckerei „Karl-Marx-Werk“, die heute dem Bertelsmann-Verlag in München gehört, kleinlaut eingestehen muss, dass dieser Unflat vor Ort für den Export nach Schweden produziert wird, um Devisen zu gewinnen für den Einkauf teurer Eisenerze aus Kiruna. Eine Glosse darüber mit dem Titel „Polygraph, Pornograph“, die ich am 20. Februar 1981 in der „Welt“ veröffentlichte, erregte den Unmut des DDR-Bücherministers Klaus Höpcke, der dem peinlichen Thema am 15. März auf der Pressekonferenz zur Leipziger Buchmesse eine Viertelstunde widmete.
Nun war der 1933 geborene Journalist Klaus Höpcke von 1973 bis 1989 Leiter der „Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel“ im DDR-Kulturministerium und somit als höchster Zensurbeamter seines Staates letztendlich verantwortlich dafür, ob ein eingereichtes Manuskript die vom Verfasser ersehnte „Druckgenehmigung“ erhielt oder nicht. Über diese schier unbeschreiblichen Vorgänge freilich, wie mit Gutachten und Gegengutachten seit 1946 („Kultureller Beirat für das Verlagswesen“) und dann seit 1951 („Amt für Literatur und Verlagswesen“) bis zum Untergang des SED-Staats 1989 Zensur ausgeübt wurde, wird man auch in der bisher letzten Auflage (1996) der „Kleinen Literaturgeschichte der DDR“ des Bremer Germanisten Wolfgang Emmerich kaum etwas finden. Schließlich waren diese „gigantischen Archivbestände“ ( Seite 7) im ehemaligen Ministerium am Berliner Molkenmarkt erst in den Jahren nach 2000 erschlossen worden. Für die inzwischen verstorbene Germanistin Simone Barck (1944-2007) und den Leipziger Professor für Medienwissenschaft Siegfried Lokatis (1959), die beiden Autoren des vorliegenden Buches, aber wurde der unsägliche Nachlass der 1963 gegründeten „Hauptverwaltung“ zur unerschöpflichen Fundgrube einer Politik zur Verhinderung von Literatur.
Veröffentlicht wurden diese 107 Beiträge als Kolumnen der „Berliner Zeitung“, dem ehemaligen SED-Bezirksorgan, in den Jahren 2003/07 und liegen nun in Buchform vor. Die Sachkenntnis der beiden Autoren, auch die des aus Bochum stammenden Professors, ist frappierend. Sie kennen Namen und Aufgabengebiete von Zensoren und politisch-ideologische Vorgänge bis in die feinsten Verästelungen, und ihre Veröffentlichungen weisen sie als intime Kenner der DDR-Geschichte aus. Für den Leser, der oft, wenn er die hanebüchenen Bewertungen von Literatur liest, nur in brüllendes Gelächter ausbrechen kann, sind die 296 Seiten ein höchst vergnügliche bis spannende Lektüre, eine DDR-Literaturgeschichte, gegen den Strich gebürstet.
Dabei ist der Literaturbegriff weit gefasst, auch Sachbücher aus allen Lebensbereichen wie Reiseführer, Koch- und Tierbücher sind einbezogen, gezeigt wird auch, wie die Zensurpraxis rückwirkend auf Werke des so hochgerühmten „progressiven Erbes“, beispielsweise die Bücher Kurt Tucholskys (1890-1935) , angewandt wurde. Bis vor anderthalb Jahrzehnten hätte auch die Möglichkeit bestanden, die staatlichen Auftraggeber der Zensur wie Bruno Haid (1912-1993), Leiter der „Hauptverwaltung“ 1963/73, und Lucie Pflug (1916-1993), Leiterin der Sektion Verlage beim ZK der SED, zu befragen. Heute aber leben nur noch Ursula Ragwitz (1928), Leiterin der Kulturabteilung beim ZK der SED, und Klaus Höpcke (1933), die sich beide einer solchen Befragung nach ihrem DDR-Vorleben vermutlich verschließen würden.
Aber auch ohne diese Täterbefragung ist der Aktenberg höchst aussagekräftig. Allein die Begriffe „Begutachtung“ und „Druckgenehmigungsverfahren“, die für die sozialistische Zensurpraxis verwendet wurden, zeigen, wie schamlos und nur kümmerlich getarnt man das weiterführte, was in den deutschen Kleinstaaten im 18./ 19. Jahrhundert bis ins Königreich Preußen zur Hochform aufgelaufen war, vom „Dritten Reich“ ganz zu schweigen. So war der westdeutsche Journalist Paul Distelbarth (1879-1963) von der „Heilbronner Stimme“, kein Kommunist, aber ein linker Protestant, im Mai 1953 sympathisierend durch die Sowjetunion gereist und hatte dann seinen unkritischen Reisebericht „Russland heute“ im Rowohlt-Verlag veröffentlicht. Sein Ostberliner Reisegefährte Günter Wirth vom DDR-CDU-Vorstand wollte dieses Buch in einem DDR-Verlag unterbringen, wo es aber drei Jahre mit immer neuen Verdikten liegen blieb, zuletzt gab es 117 „negative und dubiöse Stellen“. Schließlich erschien das Buch 1956, stark zensiert als „Russland. Bericht einer Reise“ und „nur für den CDU-internen Vertrieb zugelassen.“
Die Geschichte der Kurt-Tucholsky-Editionen in DDR-Verlagen ist ein besonderes Kapitel nachträglicher Zensur. So war Fritz J. Raddatz, Lektor beim Verlag „Volk und Welt“, bei seinen fünf Auswahlbänden zu Streichungen verpflichtet. So musste der fingierte Schüler-Aufsatz „Der Mensch“ wegen des Schlusssatzes entfallen: „Neben den Menschen gibt es noch Sachsen und Amerikaner, aber die haben wir noch nicht gehabt und bekommen Zoologie erst in der nächsten Klasse.“
Von Theodor Plivier (1892-1955), einem „anarchistisch-linksradikalen“ Schriftsteller, erschien 1945 im frisch gegründeten Aufbau-Verlag der Kriegsroman „Stalingrad“, der wegen seiner realistischen Schilderung bei den Lesern beliebt war und bis 1949 eine verkaufte Auflage von 170 000 Exemplaren erreichte. Nach seiner Flucht 1948 von Weimar nach Hamburg wurde der Erfolgsroman auf den Index gesetzt, auch die Folgeromane der Trilogie „Moskau“ (1952) und „Berlin“ (1954) erschienen in keinem DDR-Verlag.
Bertolt Brechts „Kriegsfibel“ (1955), von der Zensur des „reinsten Pazifismus“ bezichtigt, durfte nur in gereinigter Ausgabe und minimaler Auflage erscheinen, die vollständige Fassung lag erst 1994 vor. Das Kinderbuch „Tito, die Präriewölfin“ (1948) musste zurückgezogen werden, weil Assoziationen befürchtet wurden auf einen abgefallenen Kommunistenführer in Belgrad. Die Lizenzausgabe des Jugendromans „Die Unberatenen“ (1963) des Westautors Thomas Valentin wäre fast nicht erschienen, weil an zwei Stellen Walter Ulbricht als „Spitzbart“ bezeichnet wurde. Ein Abgesandter des Verlagsleiters Klaus Gysi fuhr mit ideologischem Gepäck nach Bremen, um die leidige Angelegenheit mit dem Autor zu klären. Wegen einer DDR-kritischen Stelle wäre auch der Roman „Irrlicht und Feuer“ (1963) des westdeutschen Bergarbeiters Max von der Grün (1926-2005) fast nicht erschienen: „Gearbeitet wird überall. Bonzen sind auch überall, die den Arbeiter ausnutzen. Drüben sind es die Funktionäre, hier sind es bestimmte Unternehmer, die nicht genug verdienen können.“
Selbst der längst verstorbene Aufklärer Denis Diderot (1713-1784) aus Frankreich blieb mit seinem Schlüsselroman „Die geschwätzigen Kleinode“ (1748) von kleinlicher Kritik nicht verschont. Die 1965 eingereichte Übersetzung des Romanisten Manfred Naumann blieb bis 1976 liegen. Wo man auch nachschaut in diesem Buch: Verbote, Streichungen, Umschreibungen! Den schlimmsten Fall staatlicher Zensurpraxis, die Nichtauslieferung nämlich bereits gedruckter Titel, wird hier nicht einmal erwähnt: Der Westschriftsteller Joachim Seyppel (1919) lebte von 1973 bis 1979 in Mecklenburg und wurde dann ausgebürgert. Mit seinem noch gültigen DDR-Pass fuhr er Wochen später nach Leipzig, um nach seinem gedruckten, aber, weil der Autor zum „Klassenfeind“ übergelaufen war, nie ausgelieferten Buch „Weit hinten in der Türkei“ (Westausgabe 1983) zu fahnden. Er fand , nach schwierigem und nicht ungefährlichem Suchen, 10 000 Exemplare davon, vom Verlag ausgelagert , im Schweinestall eines sächsischen Bauern. In seinem Buch „Ich bin ein kaputter Typ“ (1982) hat er darüber berichtet.
Simone Barck/Siegfried Lokatis „Zensurspiele. Heimliche Literaturgeschichten aus der DDR“, Mitteldeutscher Verlag, Halle 2008, 296 Seiten, 20.00 Euro.