Jörg Bernhard Bilke schreibt an Helmut Markwort

offener brief brief umschlag, Quelle: schoelper, Pixabay License Freie kommerzielle Nutzung Kein Bildnachweis nötig

Lieber Helmut,

                           ein Freund von mir in Berlin, auch Ex-Häftling, schickte mir gestern Dein Tagebuch aus dem neuen FOCUS, wo Du mich erwähnst. Dafür möchte ich Dir danken!

Als ich am 21. Januar 1962 als Angeklagter vor dem Bezirksgericht Leipzig stand, rechnete ich mit acht Jahren Haft. Ich hatte drei Delikte:

  1. Staatsgefährdende Hetze: Das waren die sieben Artikelchen vom Juni/Juli 1961, die ich in der Mainzer Studentenzeitschrift „nobis“ veröffentlicht hatte. Niemand der 17 Millionen DDR-Einwohner hatte diese Artikel gelesen und konnte somit auch nicht von mir „aufgehetzt“ werden, dennoch bekam ich zweieinhalb Jahre dafür.
  2. Erich Loest war 1957 verhaftet und 1958 zu siebeneinhalb Jahren Zuchthaus verurteilt worden. Ich habe im Oktober 1959 heimlich seine Frau Annelies in der Leipziger Oststraße 5 besucht, weil ich besuchsweise bei meiner Tante in der Oststraße 9 wohnte. Als ich am 9. September 1961, meinem Verhaftungstag (Samstag), Annelies Loest wiederum aufsuchen wollte, um Grüße von Gerhard Zwerenz (Leipziger Freund Loests, war im Sommer 1957 vor drohender Verhaftung nach Westberlin geflohen und lebte jetzt in Köln) zu bestellen, kam ich vergebens, weil sie nicht zu Hause war. Dennoch wurde mir das als „Verleiten zum Verlassen der DDR“ (Abwerbung) ausgelegt. Bezirksstaatsanwalt Albert Holzmüller sagte vor Gericht, in dem Moment, wo ich die Türklinke des Hauses Oststraße 5 berührt hätte, um den „Auftrag“ des Kölner „Renegaten“ Gerhard Zwerenz auszuführen, hätte ich mich strafbar gemacht.
  3. Anderthalb Stunden danach ging ich noch durch die Leipziger Innenstadt und besuche auch die Universität. Dort fand ich am Schwarzen Brett einen Aufruf an die Studenten aller Fachrichtungen und aller Studienjahre, einen Vortrag zu besuchen über „Die humanitäre Funktion des antifaschistischen Schutzwalls“. Das notierte ich mir belustigt. Das war aber „Sammlung von Nachrichten“

Für die beiden letztgenannten Delikte bekam ich anderthalb Jahre, also insgesamt vier Jahre. Da das aber Tatmehrheit war und nicht Tateinheit, wurden es dreieinhalb. Nach knapp drei Jahren, am 25. August 1964, wurde ich freigekauft. Ich bin am 25. August 2014 in den Tagesthemen aufgetreten und habe zum 50. Jahrestag des Beginns der Freikaufaktionen darüber berichtet. Die DDR hat zwischen 1964 und 1989 insgesamt 33755 Häftlinge an die Bundesregierung verkauft und dafür 3.4 Milliarden Westmark kassiert.

Das, was Du Verharmlosung der SED-Diktatur nennst, bereitet uns Ex-Häftlingen seit Jahren große Sorgen und raubt uns den Nachtschlaf. Es ist eine auf lange Sicht angelegte Strategie der LINKEN, die Ergebnisse und Wirkungen des Mauerfalls umzukehren. Die Hoffnung ist, dass Zeitzeugen wie wir aussterben, und die letzten Überlebenden wird man als „Lügner“ und „Hetzer“ bezeichnen. Es gibt eine VP- und MfS-Untergrundzeitschrift „Rot-Fuchs“, die man im INTERNET aufrufen kann. Vor Jahren hatte ich dort einen Disput mit dem letzten DDR-Innenminister, der auch für die Strafanstalten zuständig war. Ich schilderte ihm, wie ich und Hunderte Mitgefangener am 20. Mai 1962 im Innenhof des Zuchthauses Torgau mitangesehen hätten, wie zwei Häftlinge, die in der Nacht zuvor ausgebrochen waren, von neun Volkspolizisten mit Gummiknüppeln zusammengedroschen worden waren. Das Blut floss über ihre Schädel, sie waren wehrlos, da sie Handschellen anhatten und ihre Füße in Holzschuhen steckten. Sie schrieen vor Schmerz und bekamen dann 30 Tage Arrest und einen neuen Prozess wegen „Republikflucht“. Denn es wurde unterstellt, dass sie die innerdeutsche Grenze durchbrechen wollten. In der der nächsten Rot-Fuchs“-Ausgaben stand dann über diesen Vorfall ,den ich als Augenzeuge miterlebt hatte: „Was Bilke da gesehen haben will…“.

Im April 1964 war ich auf einer Zelle in Waldheim mit Werner Trost (1939 geboren) aus Thüringen. Er war im Februar 1963, als, was ganz selten vorkam, die Ostsee zugefroren war, von Leipzig nach Rostock gefahren.  Damals sind bei Boltenhagen an der Ostseeküste 200 DDR-Leute aufs Eis gestiegen und nach Lübeck gelaufen. Wenn man sich ein Bettlaken übergeworfen hatte, wurde man nach 200 Metern nicht mehr gesehen. Werner hatte ein Bettlaken im Kofferraum und wurde erwischt! Dafür hatte er vier Jahre bekommen. Im April 1964 war er gerade nach einem Ausbruch gestellt worden. Er hatte sich einen Nachschlüssel für die Zellentür gemacht (er war Schlosser) und hatte und musste dann in Waldheim auf dem Dach der Anstaltsküche liegen, weil drei Meter unter ihm ein Liebespaar knutschte. Gegenüber war die Gaststätte „Ernst Schneller“. Er sprang dann hinunter, wollte das Auto des Anstaltspfarrers knacken, der aber nahm immer abends die Batterien mit nach Hause. Werner knackte dann auf dem Waldheimer Marktplatz ein Moped, fuhr nach Oschatz und brach bei seinem früheren Chef ein, um sich mit Lebensmitteln zu versorgen. Dann stahl er ein Auto und fuhr Richtung Harz, an die innerdeutsche Grenze. Er fuhr immer nachts, tagsüber schlief er. An einer Kreuzung wurde er geschnappt und verprügelt. Dann brachte man ihn zurück nach Waldheim, wo er dem Anstaltsleiter, Hauptmann Schönfeld, zugeführt wurde. Der sagte zu ihm: „Trost, warum sind Sie denn ausgebrochen? Gefällt es Ihnen denn nicht bei uns?“

Im Februar 2013, ein halbes Jahrhundert, nachdem die Ostsee zugefroren war, schrieb ich an die OSTSEE-ZEITUNG in Rostock, die von nichts wussten. Dafür konnten sie nichts, denn es stand ja 1963 in keiner DDR-Zeitung, wo man gefahrlos in den Westen fliehen konnte. Aber in den LÜBECKER NACHRICHTEN stand dann doch ein Gedenkartikel: Zwei junge Musiker vom Stadttheater Rostock waren übers Eis gegangen. An der Fahrrinne Travemünde/Trelleborg holt der eine seine Trompete aus dem Rucksack und blies: „Hol über“!

Ich habe Dutzende solcher Geschichten im Kopf! Aber ich schränke mich ein. Sonst wird es uferlos. Ich kenne Bodo Ramelow privat, er ist mit einem Mithäftling von mir befreundet. Ich habe ihn 2004 und 2019 getroffen: Hochzeit und 75. Geburtstag meines Mithäftlings. Er ist ja Westdeutscher, macht aber linke Politik. Das mit dem Unrechtsstaat, was die DDR nicht gewesen sein soll, nehme ich ihm übel und werde es ihm auch noch schreiben. Das hat ihm Manuela Schwesig eingeredet. Die ganze Diskussion kommt von Gregor Gysi, der argumentiert: In der DDR gab es viel Unrecht, aber die DDR war kein Unrechtsstaat! Diese Dialektik verstehe, wer will. In den fünfziger Jahren gab es eine vierbändige Dokumentation „Unrecht als System“, erstellt vom „Untersuchungsausschuss freiheitlicher Juristen“. Diese vier Bände habe ich hier: Während wir im Westen das Wirtschaftswunder genossen, wurden demokratische Bürger in der Zone vor DDR-Gerichten zu unmenschlich hohen Strafen verurteilt, für nichts. Ich habe sie doch getroffen in Waldheim, sie hatten acht, zehn, zwölf Jahre Zuchthaus bekommen, weil man ihre Betriebe verstaatlichen (also stehlen) wollte.

Die Wandlung SED-PDS-Linkspartei-Linke ist schon erstaunlich! Die haben sich nicht gewandelt, selbst wenn Zehntausende ihrer Altkader verstorben sind seit 1989. Ich weiß noch, wie Wolfgang Leonhard, den ich kannte, auf einer SPD-Tagung im Herbst 1985 im Westerwald die SPD vor der SED warnte. Er musste es wissen. Er stammte ja aus der „Gruppe Ulbricht“. Die Fusion, um es mild auszudrücken, mit der SPD sah so aus, dass SPD-Mitglieder, die mit der Vereinigungspolitik Grotewohls (SPD + KPD) nicht einverstanden waren, rücksichtslos verfolgt wurden. Hunderte von Sozialdemokraten wurden verhaftet, 400 sind während der Haft verstorben. Ich schicke Dir mal meine Rezension zu Daniela Dahns vorletztem Buch mit. Das neue „Der Schnee von gestern ist die Sintflut von heute“ (2019) habe ich noch nicht gelesen.

Das Schicksal von Arno Esch ist mir seit Jahren bekannt. Ich bewundere diesen jungen Mann! Was Du nicht weißt, ist, dass der DDR-Schriftsteller Hermann Kant schon zu der Zeit, als er Student der „Arbeiter- und Bauernfakultät“ in Greifswald war, oppositionelle Studenten beim KGB denunziert hat. Einer ist in ein russisches Straflager verschleppt worden und kam Jahre später zurück. Später war er „inoffizieller Mitarbeiter“ der „Staatssicherheit“. Über diese seine MfS-Zeit hat Dr. Karl Corino, mit dem ich befreundet bin, ein kenntnisreiches Buch geschrieben.

Auch Walter Kempowski kannte ich. Sein Buch „Im Block“ (1969) habe ich verschlungen! Ich habe ja unter dem Titel „Unerwünschte Erinnerungen“ für die Enquete-Kommission des DEUTSCHEN BUNDESTAGS 1995 einen langen Aufsatz geschrieben über DDR-Gefängnisliteratur. Damals, 1995, gab es rund 50 Titel, beginnend mit Eva Müthels Bericht „Für dich blüht kein Baum“ (1957). Gebeten hatte mich, diesen Aufsatz zu schreiben, der DDR-Forscher Karl Wilhelm Fricke in Köln, mit dem ich auch befreundet bin. Er ist von der Stasi 1955, als er 26 Jahre alt war, aus Westberlin entführt worden und saß vier Jahre in Bautzen II. Ein anderes Buch zu diesem Thema ist der Erlebnisbericht des Ostberliner Arztes Dr. Joseph Scholmer „Die Toten kehren zurück“ (1954). Vor dem ziehe ich, allein wegen des Titels, meinen Hut! Später trug das Buch den Titel „Arzt in Workuta“.

Jetzt möchte ich Dich zum Abschluss noch mit zwei Leuten bekannt machen, deren Schicksal mir sehr nahegeht: Paul Othma und Dietrich Hübner. Beiden waren Mithäftlinge von mir. Paul Othma, 1906 geboren, war Streikführer in Bitterfeld, gewählt von den Aufständischen am 17. Juni 1953. Als er merkte, dass der Aufstand keinen Erfolg hatte, wollte er über Rudolstadt in Thüringen, wo sein Bruder wohnte, nach Bayern fliehen. Damals war das noch möglich! Er ging auch abends nicht mehr zu seiner Frau, sondern versteckte sich bei seiner Mutter, die neu verheiratet war und einen anderen Namen trug. Um Mitternacht klopfte er bei seiner Frau ans Fenster und erklärte ihr alles, die Stasi war Stunden vorher schon da gewesen. Seine Freunde wollten ihn dann in einem Hundetransportwagen tief in der Nacht nach Thüringen bringen. Aber die Sache war verraten worden: Nach 20 Kilometern sprang die „Volkspolizei“ aus dem Straßengraben und verhaftete ihn. Er bekam zwölf Jahre Zuchthaus dafür, dass er Streikführer gewesen war. Nach kommunistischer Einstellung kann es keinen Streik gegen die Ostberliner Regierung geben, denn die handelt ja im Auftrag der Arbeiterklasse. Angeblich! Strafverschärfend kam hinzu, er war ein besonnener Mann, dass er verhindert hat, dass die jungen Aufständischen die volkseigenen Betriebe zerstörten. Das wurde ihm vor Gericht so ausgelegt, dass er die „volkseigenen“ Betriebe unzerstört den westdeutschen Imperialisten hätte übergeben wollen. Hätte er zugelassen, dass sie zerstört würden, wäre ihm das auch strafverschärfend angerechnet worden. Die Kommunisten haben das immer so gedreht, wie sie es brauchten, das nannten sie „Klassenkampf“.

Als ich 1962/64 in Waldheim war, habe ich mich mehrmals mit ihm unterhalten. Alle Gefangenen begegneten ihm mit Ehrfrucht und Hochachtung, weil er so standhaft war. Wir nannten ihn, seiner weißen Haare wegen, die ihm wie eine Mähne vom Kopf abstanden, den „Löwen von Bitterfeld“. Vor der Verhaftung war er Mitglied der „Liberaldemokratischen Partei“ (LDPD) gewesen. Er wurde immer wieder in den Waldheimer Jahren zum Anstaltsleiter Hauptmann Schönfeld geholt. Er sollte bekennen, dass er ein Verbrecher wäre, dann würde er sofort entlassen. Aber er weigerte sich. Erich Loest hat sein Schicksal im Roman „Sommergewitter“ (2005) beschrieben.

Im November 1963 kamen er und andere Langstrafer ins Zuchthaus Brandenburg, von dort wurde er im Sommer 1964 nach Bitterfeld entlassen. Dort wohnte seine Frau Hedwig, die elf Jahre auf ihn gewartet hat. Nach seinem Tod 1969 zog sie nach Münster zu ihrer Schwester, nach dem Mauerfall 1989 kam sie zurück nach Bitterfeld, um sein Grab zu pflegen. Als ich 2003 die Ausstellung zum 50. Jahrestag des Aufstandes vom 17. Juni 1953 besuchte, bin ich bei ihr gewesen. Als sie mir erzählte, wie es ihm nach der Freilassung ergangen war, musste ich heulen.

Die SED, das ist offensichtlich, hat in der DDR keineswegs die Traditionen der deutschen Arbeiterbewegung bewahrt und fortgesetzt, sie hat sie vernichtet. Das war Klassenkampf, der bis zur Ermordung Oppositioneller ging, was beweisbar ist. Die siebenbändige „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ aus dem Ostberliner Dietz-Verlag, geschrieben unter Aufsicht Walter Ulbrichts, ist ein Meisterwerk der Geschichtsklitterung!

Dietrich Hübner hat sage und schreibe 16 Jahre in DDR-Zuchthäusern verbracht. Er war einer von uns, die im Sommer 1964 freigekauft wurden. Er wohnte im Siebengebirge bei Bonn, wo ich ihn vor einigen Jahren besucht habe, jetzt ist er schon einige Zeit tot.

 Susanne Schädlich, 1965 geborene Tochter des 1977 ausgebürgerten DDR-Schriftstellers Joachim Schädlich, hat über ihn ein Buch geschrieben „Herr Hübner und die sibirische Nachtigall“. Meine Rezension lege ich Dir bei. Dietrich Hübner war in seiner Studentenzeit ein junger Liberaler aus Dresden, der nicht wie Wolfgang Mischnik geflohen ist, als es gefährlich wurde. Er hat dann in Bonn fünf Jahre studiert, ohne dass sie ein FDP-Mann um ihn gekümmert hätte!

Lieber Helmut, am 6. Januar habe ich bei Deinen FDP-Freunden in der Goldenen Traube bemüht, Hans Röslers Anschrift ausfindig zu machen. Keiner hat mir helfen können. Hast Du wenigstens seine Adresse?

Sei ganz herzlich von mir und meiner Frau gegrüßt, Dein Rodacher Schulfreund Jörg

Finanzen

Über Jörg Bernhard Bilke 258 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.