Anderthalb Stunden musste ich am Dienstagvormittag, 25. Juli, bei meinem Onkologen Dr. Thomas Zöller (54) warten, bis er den Satz sagte, auf den ich sehnlichst gewartet hatte: „Bei Ihnen ist alles in Ordnung!“ Es war die zweite Nachuntersuchung nach meiner Darmkrebsoperation im Herbst 2021 und der nachfolgenden Chemotherapie. Bei der ersten Nachuntersuchung am 26. April hatte ich ihm von Johannes Frieds Buch „Kein Tod auf Golgatha“ (2023) erzählt und ihm dann eine Kopie des Kapitels geschickt, worin die medizinischen Vorgänge um Jesu Tod beschrieben werden. Das hat ihn offensichtlich so fasziniert, dass er sich das Buch gekauft und gelesen hat, was mich gefreut hat.
Um 9.15 Uhr musste ich am 25. Juli antreten, dann wurden die üblichen Untersuchungen mit mir veranstaltet: Wiegen, Blutentnahme, Durchstoßen des Ports auf der rechten Brustseite, der zugewachsen war. Dann musste ich vor dem Sprechzimmer warten. Gegenüber von mir saß ein Patient aus Löbelstein, mit dem ich mich unterhielt. Wider Erwarten wurde ich vor diesem Patienten aufgerufen und hatte dann mit Thomas Zöller ein anregendes Gespräch von 20 Minuten über das Buch und andere Themen, obwohl draußen auf dem Gang weitere Patienten warteten.
Am Mittwoch, 2. August, muss ich mich fürchterlich erkältet haben! Ich hatte Halsschmerzen, Kopfschmerzen, Husten und Schnupfen. Gestern, 10. August, waren neun Tage vergangen, aber ich leide immer noch an Atemnot in der Nacht. Wenn ich dann wachliege im Morgengrauen, dann denke ich, jetzt müssten eigentlich die ersten Vögel zu hören sein, aber es bleibt alles still! Warum? Weil es keine Vögel, die morgens singen, mehr gibt, nachdem ein gewaltiges Insektensterben eingesetzt hat. Die Singvögel sind, mitsamt ihren Jungen in den Nestern, verhungert. Das erinnert mich an Rachel Carsons Buch „Der stumme Frühling“ (deutsche Ausgabe 1963), besonders an das achte Kapitel „Und keine Vögel singen“. Das Buch erschien vor 61 Jahren in Boston. Bewirkt hat es nichts! Wir sind unaufhaltsam in den Untergang hineingeschlittert.
Wenn ich morgens schlaflos im Bett liege, darin erinnere ich mich an die großartigen Vogelkonzerte in meiner Jugend in Rodach, als ich Fahrschüler war und täglich mit dem Zug nach Coburg zur Schule fuhr. Mein Zimmer lag im zweiten Stock. Wenn ich aus dem Fenster schaute, lagen unter mir die Obstbäume, aus denen mir Dutzende von Vögeln ihre Lieder entgegenschmetterten! Und über der Veste Coburg, in 18 Kilometern Entfernung, ging langsam die Sonne auf! Ein herrliches Bild!
Am 29. Juli stand in der NEUEN PRESSE ein Artikel über die Zukunft des Coburger Landestheaters, das im Juli, nach Beendigung der letzten Spielzeit, auf mindestens zehn Jahre geschlossen werden soll, der Renovierung wegen. Als Ersatz wird am 6. Oktober im Coburger Industriegebiet das globe theater eröffnet, dafür hat der Oberbürgermeister, der begeisterter Radfahrer ist, einen Abstellplatz für Fahrräder errichten lassen, weil er offensichtlich annimmt, die Theaterbesucher kämen alle mit dem Fahrrad, auch bei Regenwetter und Schneetreiben. In den Coburger Zeitungen wurde er dafür heftig kritisiert.
In den Nachkriegsjahren, als ich Schüler war am Casimirianum, gab es alle 14 Tage Schülervorstellungen, die um 19.00 Uhr begannen. Wir sind also mit dem Nachmittagszug um 14.30 Uhr in Rodach angekommen, erledigten unsere Hausaufgaben und fuhren mit dem Abendzug wieder nach Coburg. Wenn man zu spät im Landestheater ankam und aus dem Orchestergraben schon die Ouvertüre ertönte, durfte der Saaldiener die Besucher nicht mehr zu ihren Plätzen lassen. Die mussten warten, bis die Ouvertüre beendet war. Im Sommer gab es auch Freiluftaufführungen im Innenhof der Veste Coburg. Dort habe ich einmal den Schauspieler Günter Mack (1930-2007) in Heinrich von Kleists Stück „Prinz Friedrich von Homburg“ (1810/11) gesehen. 1972 traf ich ihn zufällig auf der Koblenzer Straße in Bonn, wo er am Theater engagiert war. Später hatte er eine eigene Fernsehserie. Einmal zeigten sie auf der Veste auch den „Wilhelm Tell“ (1804). Als Vater Tell mit Pfeil und Bogen auf seinen Sohn zielte, um den Apfel auf dessen Kopf zu treffen, zog der Sohn rasch einen zweiten Pfeil aus der Tasche, durchstach den Apfel damit und schrie: „Getroffen!“ Wir haben alle schrecklich gelacht! Einmal sah ich die Schauspielerin Herta Schon, die in Coburg gestorben ist, in Gerhart Hauptmanns Stück „Der Biberpelz“ (1893), sie spielte die Waschfrau Mutter Wolfen. In der ersten Szene steht sie mit einem Waschzuber vor dem Vorhang und schrubbt Hemden auf der Rumpel. Mit einer unvergleichbaren Geste führt sie die rechte Hand zum Gesicht und wischt sich mit dem Ärmel den Rotz von der Nase! Das Publikum tobte vor Begeisterung.
Johannes Fried, 1942 in Hamburg als Sohn eines Pfarrers geboren, war zuletzt (1982-2009) Professor für Mittelalterliche Geschichte in Frankfurt/Main. Er hat 2019 im Beck-Verlag/München das Buch „Kein Tod auf Golgatha“ veröffentlicht, das 2021 vom Deutschen Taschenbuch-Verlag übernommen wurde. Es wurde ein Bestseller in der SPIEIGEL-Ranking-Liste. Es ist ein streng wissenschaftlich erarbeitetes Buch, und auch der Verlag zeugt von Seriosität. Johannes Fried versucht mit den Mitteln der Geschichtsschreibung den Beweis zu führen, dass Jesus nicht am Kreuz gestorben ist, sondern überlebt hat. Für gläubige Christen ist das ein Anathema! Denn das Christentum steht und fällt mit der Auferstehungslehre. Dem Autor ist aber anzurechnen, dass er klar und deutlich sagt, was man beweisen kann und wo man auf Hypothesen angewiesen ist. Auch für den Laien ist die Lektüre des zweiten Kapitels „Medizinische Beobachtungen und ihre Konsequenzen“ (Seite 25-48) ein Vergnügen. Kurzfassung: Aus römischer Sicht ist Jesus am Kreuz gestorben. Deshalb ging Joseph von Arimathia, ein Pharisäer, der den Urchristen nahestand, zu Statthalter Pontius Pilatus und bat darum, den Leichnam bergen und in seine eigene Grabstätte bringen zu lassen, was ihm erlaubt wurde. Da er von den römischen Soldaten unterm Kreuz für tot erachtet wurde, zerschlugen sie ihm auch nicht die Beine, wie es bei anderen Gekreuzigten praktiziert wurde. Als er noch am Kreuz hing, wurde ihm von einem römischen Soldaten mit der Lanze in die Seite gestochen, was dafür sorgte, dass er am Leben blieb. Denn im Lungenraum war ein Lungenflügel ausgefallen, es hatte sich Kohlen-Monoxyd gesammelt, was zum Tod hätte führen können, wenn nicht der Lanzenstich erfolgt wäre. Im Grab lag er drei Tage und erholte sich dort. Maria Magdalena, die am dritten Tag zum Grab ging und ihn suchte, wurde von drei Männern in weißen Gewändern angesprochen, die sie für Engel hielt, und die sie fragten: „Was suchst du den Lebendigen bei den Toten?“
Für Johannes Fried ist das Johannes-Evangelium der historischen Wahrheit am nächsten. Danach lebte Jesus nach seiner „Auferstehung“ weiter in Israel, wurde aber von der römischen Besatzungsmacht, die gehört hatte, er hätte überlebt, gesucht. Um die Suche zu beenden, erfanden die Urchristen die Legende von der Himmelfahrt Christi. Nach einem zum Himmel Aufgefahrenen kann man steckbrieflich nicht mehr fahnden! Jesus Christus soll noch in Dekapolis, was noch keine römische Provinz war, in Ägypten und in Indien gelebt haben.
Vorgestern, am Freitag, 11. August, besuchte ich Prof. Dr. Johannes Kraft, der im Klinikum die Geriatrie leitet. Er ist 1960 geboren, aus meiner Sicht also ein junger Mann. Er ist seinen Patienten gegenüber sehr menschlich, hört sich in Ruhe alles an, was man vorzubringen hat. Er erzählte mir von seinen Söhnen: der älteste ist Arzt, der zweite arbeitet beim Fernsehsender „pro 7“ und schreibt Drehbücher, der dritte besucht gerade China, um sich seinen zukünftigen Schwieger-eltern vorzustellen. Der Bruder seiner Frau, der irgendwo in Franken lebt, ist der Erfinder des Namens „Das grüne Band“ für den Todesstreifen an der DDR-Grenze. Er heißt Kai Frobel, ist 1959 in Hassenberg bei Coburg (an der innerdeutschen Grenze) geboren und aufgewachsen und hat eine Professur für Geoökologie. Dann erzählte mir Johannes Kraft von dem DDR-Schauspieler Dietrich Körner (1929-2001), der von ihm im Klinikum Coburg 1988, noch vor dem Mauerfall am 9. November 1989, behandelt wurde. Es gab damals die Möglichkeit für prominente DDR-Leute, sich gegen Devisen im Westen behandeln zu lassen, wenn DDR-Kliniken dazu nicht in der Lage waren. Dietrich Körner hätte aber immer noch in der Rolle Augusts des Starken (1670-1733) gesteckt, der seit 1694 Kurfürst von Sachsen und seit 1697 in Personalunion auch König von Polen und Großfürst von Litauen gewesen war. Er wäre aus seiner Rolle nicht mehr herausgekommen und hätte sich wie ein König aufgeführt. Es hätte, so Johannes Kraft, nicht mehr viel gefehlt und sie hätten ihn als „Königliche Hoheit“ angesprochen. Das erinnerte mich an den britischen Schauspieler Peter Sellers (1925-1880), der noch Tage und Wochen nach Beendigung der Dreharbeiten nicht mehr aus seinen Rollen herauskam, weshalb seine Frau sich scheiden ließ.
Die ärztliche Behandlung Dietrich Körners in Coburg erinnert mich an eine Geschichte, die Iris Bleeck (geboren 1944 im Sudetenland) mir erzählt hat. Sie kam als Kleinkind mit ihren Eltern, die aus dem Sudetenland vertrieben waren, auf die pommersche Insel Rügen. Dort wuchs sie auf und sah Rügen als ihre Heimat an. Da sie den aus dem Rheinland stammenden Bundesbürger Klaus Jürgen Bleeck heiraten wollte, durfte sie 1977 ausreisen und kam nach Bornheim, zwischen Bonn und Köln gelegen. Ich wohnte damals in Bonn und arbeitete als Redakteur bei der BUNDESZENTRALE FÜR POLITISCHE BILDUNG. Im DEUTSCHLANDFUNK hörte ich damals Iris Bleeck sprechen, die von Rügen erzählte und davon, dass sie, wenn sie morgens aufwachte, immer noch die Ostseewellen plätschern hörte.
Ich rief sie damals an, seitdem sind wir in herzlicher Freundschaft verbunden. Sie hat an mehreren Tagungen zur DDR-Literatur, die ich veranstaltete, teilgenommen, und hat zu großzügig ausgestalteten Parties in ihr Haus nach Bornheim eingeladen. Nach dem Mauerfall von 1989 erzählte sie mir folgende Geschichte: Der Kontakt zu ihren Freunden auf Rügen wäre auch nach dem Wegzug 1977 nicht abgerissen. Eine Freundin schrieb ihr, ihr Ehemann wäre an Krebs erkrankt, die Möglichkeiten, ihn zu heilen, wären aber an DDR-Kliniken erschöpft. Iris erkundigte sich in Bonn, ob es da Möglichkeiten gäbe zu helfen, und erfuhr von Dr. Marianne von Weizsäcker, der Frau des Bundespräsidenten, die Ärztin war, dass im Grundlagenvertrag vom 21. Dezember 1972 vorgesehen sei, dass auch DDR-Bürger an westdeutschen Kliniken behandelt werden könnten. Das teilte sie ihrer Freundin mit, der es, gegen den Willen der Staatssicherheit, gelang, die Ausreise für einige Wochen bewilligt zu bekommen. Der Mann wohnte bei der Freundin seiner Frau in Bornheim, wurde in der Bonner Universitätsklinik operiert und kehrte geheilt auf die Insel Rügen zurück. Die Jahre vergingen, die Mauer fiel, und Iris Bleeck konnte ihre Stasi-Akten einsehen. Dort stellte sie fest, dass der Ehemann ihrer Rügener Freundin „inoffizieller Mitarbeiter“ der Staatssicherheit gewesen war und jeden Augenblick, den er in Westdeutschland verbrachte, fein säuberlich für die „Genossen von der Sicherheit“ protokolliert hat. Als Iris ihn anrief und zur Rede stellte, kamen die üblichen Ausreden.
Heute Morgen, 16. August, kam im MORGENMAGAZIN die Nachricht, dass Annalena Baerbock, unsere Außenministerin mit dem Kindergesicht, nun doch nicht mit dem Linienflug nach Australien und Polynesien geflogen ist, sondern mit der Taxe von Abu Dhabi nach Dubai gefahren (auf Staatskosten) und von dort nach Hamburg geflogen ist. Eigentlich wollte sie den Völkern Polynesiens die geraubten Kulturgüter zurückbringen! Stattdessen konnte ihr Flugzeug zweimal nicht weiterfliegen, es musste über dem Persischen Golf zweimal 80 Tonnen Kerosin ablassen, der Umwelt zuliebe, und zurückfliegen nach Abu Dhabi. Wie schrecklich das alles!
Am 22. August stand ein Lieferwagen der Firma Bade-Gagel aus Bad Staffelstein auf unserem Hof. Die reparieren bei unserem Nachbarn das Badezimmer. Auf der Rückseite des Autos war ein Reklamebild aufgemalt: Eine Frau im Badeanzug räkelt sich in der Badewanne! Ich habe noch nie eine Frau gesehen, die in ihrer Wohnung im Badeanzug in die Wanne steigt. Ich sagte das auch dem Fahrer, der lachte nur. Wahrscheinlich fürchtet man eine Anzeige, wenn die Frau nackt ist!
Neulich rief mich meine Rodacher Klassenkameradin Ingrid O. aus Ilmenau an. Ich wurde mit ihr im September 1943 eingeschult und ging mit ihr vier Jahre später aufs Casimirianum in Coburg. Im Jahr 1953 starb ihr Vater, und sie zog mit ihrer Mutter, die aus Thüringen stammte, nach Hildburghausen. Im Sommer 1955, zwei Jahre später, als ich meine Ferien bei meinem Patenonkel in Wasungen verbrachte, traf ich sie zufällig in Meiningen in einer Eisdiele. Sie hat dann geheiratet, ist inzwischen geschieden und wohnt heute in Ilmenau. Neulich rief sie mich an und erzählte mir, ihr Vater hätte sein Textilgeschäft in der Coburger Straße einem Rodacher Juden abgekauft. Als ob ich nicht wüsste, was die „Arisierung“ für die Juden in Deutschland bedeutete: Die Juden wurden entschädigungslos enteignet und ihr Besitz nichtjüdischen Deutschen geschenkt! In Rodach gab es zwei jüdische Familien, die Sachs und Strauß hießen. Sie sind nach der „Machtergreifung“ 1933 ausgewandert, Familie Sachs nach Kolumbien, Familie Strauß mach Palästina.
Vorgestern, am 8. Juli, rief mich Ulrike Erdmann an, die jetzt 81 ist. Sie ist die Frau Dr. Jürgen Erdmanns, der viele Jahrzehnte Direktor der Landesbibliothek war. Mit meiner Schwester Marei war sie befreundet. Sie erzählte mir, ihr Mann sei neulich am Schreibtisch umgefallen und hätte sich das Bein gebrochen. Er wäre dann im Klinikum gewesen und wäre jetzt im Pflegezentrum Itzterrassen untergebracht. Er hätte immer noch jeden Tag am Schreibtisch gesessen, um dort wissenschaftliche Aufsätze zu schreiben. Als ich das hörte, wurde mir schlagartig bewusst, wie gut es mir mit meiner Gabriele geht! Ich bin nicht ernsthaft krank, ich schreibe noch Rezensionen und halte noch Vorträge. Und ich bin einige Wochen älter als Jürgen Erdmann.
Neulich bin ich mit meiner Frau durch die Spitalgasse gegangen, das ist Fußgängerzone. Dort hat vor einigen Monaten ein neuer Fleischer einen Laden eröffnet, der Flessa heißt. Mein Zeichenlehrer am Casimirianum hieß auch Flessa, Franz Flessa. Im Jahr 1951, als ich 14 Jahre alt war, lieferte er mich vor der Klasse der Lächerlichkeit aus. Er sagte: „Bilke, aus dir wird nichts. Du stehst einmal mit einem Bauchladen auf dem Coburger Marktplatz und verkaufst Schnürsenkel und Rasierklingen!“ Jahrzehnte später, Pfingsten 1967, habe ich Franz Flessa am CC-Denkmal im Hofgarten wiedergetroffen. Ich war damals noch Mitglied der Landsmannschaft Altschlesien im Coburger Convent. Er war auch mit Band und Mütze gekommen, obwohl er kein CC-Mitglied, sondern Burschenschafter war. Während der Pfingstfeiertage mischte er sich also unter die Landsmannschafter und Turnerschafter und freute sich, wenn er als Nicht-CCer erkannt wurde. Ein armes Schwein, der solches nötig hatte! Der Coburger Fleischer ist übrigens sein Großneffe!
Gestern, am 13. September, besuchten wir Ingrid O. in Ilmenau. Schon bei Schleusingen mussten wir laut Navigator die Autobahn verlassen und fuhren über die Dörfer. Das Haus, wo Ingrid wohnt, liegt am Stadtrand in einer bewaldeten Gegend. Es muss wohl schon vor der DDR-Gründung 1949 erbaut worden sein. Es ist ein großes Haus mit mehreren Stockwerken, das sie ganz alleine bewohnt, nachdem sie allen Mietern gekündigt hat. Im Haus roch es nach Lysol, dem DDR-Reinigungsmittel, das ich zuletzt 2000 in der Leipziger DEUTSCHEN BÜCHEREI gerochen habe. Rundherum ist ein großer, aufsteigender Garten mit einem Gartenhaus. Im Wohnzimmer, wo sie uns empfing, stand ein großes Bücherregal mit einer umfangreichen Ausgabe von MEYERS LEXIKON aus dem Jahr 1924. Dieses Lexikon hat der in Gotha geborene Verleger Joseph Meyer (1796-1856) begründet und in Hildburghausen/Thüringen ediert. Sein Enkel Hermann Meyer (1871-1932) ist als Verleger vom ländlichen Hildburghausen, das nur elf Kilometer von Rodach entfernt liegt, in die Buch- und Messestadt Leipzig gegangen. Die großen Nachschlagewerke BROCKHAUS und MEYER sind schon vor Jahren eingestellt worden. Durch das INTERNET waren sie jedes Mal beim Erscheinen schon überholt.
Ingrid erzählte uns von ihren Eltern, ihren Brüdern und ihren drei Kindern. Als 1953 ihr Vater (1888-1953) gestorben war, ist ihre Mutter nach Hildburghausen übergesiedelt. Sie stammte aus Thüringen. Ingrid wollte noch die Tanzstunde in Coburg beenden und wohnte bei einer Familie Ulbrich in Rodach und ging dann nach Hildburghausen. Dort wurde sie zur Krankenschwester ausgebildet. Im Sommer 1955, als ich mehrere Wochen bei meinem Patenonkel Dr. Heinz Witzleb in Wasungen zu Gast war, habe ich sie in einer Meininger Eisdiele zufällig getroffen.
Ingrid ist aber 1959 aus der DDR wieder weggegangen und wohnte dann in Siegen/Rheinland. Da kannte sie aber ihren späteren Mann Günter schon, seinetwegen ist sie 1967 zurückgekehrt in die DDR, hat ihn geheiratet und drei Kinder bekommen, zwei Söhne und eine Tochter. Sie hatte uns mehrere Foto-Alben auf den Tisch gelegt, die wir aber nicht alle durchsehen wollten. Ihr älterer Bruder Karl Heinz, 1933 geboren, ist 2007 gestorben, er war zuletzt Regierungsdirektor in Bayern. Er hat das Casimirianum besucht wie ich. Ihr anderer Bruder Hans Joachim, 1936 geboren, hat das Ernestinum besucht, er war Makler und lebt noch in Hannover.
Als wir uns verabschiedeten, merkten wir, dass Ingrid sich gewünscht hätte, wir wären noch länger geblieben. Sie brachte uns zur Haustür und rief uns dann noch durchs Fenster Abschiedsworte zu. Wir nehmen an, dass sie einsam ist und selten Besuch bekommt. Zurück nach Coburg fuhren wir zunächst einen anderen Weg, der uns lange Strecken durch Waldgebiete führte. Da kamen wir durch ein Dorf, das Allzunah hieß. Kurz vor Schleusingen, wo wir die Autobahn nach Coburg erreichten, fuhren wir durch das Dorf Hinternah, wo Gabriele Zimmer, die PDS-Vorsitzende 2000/03 geboren ist. Jetzt 1989 liegt Thüringen, frei zugänglich, vor unserer Haustür. Warum fahren wir so selten dorthin?
Diese Woche, am 1^3. September, stand in den Coburger Zeitungen, die Firma HABERMASS in Rodach hätte Insolvenz angemeldet. Jetzt wird endlich öffentlich bekannt, wie tief die Firma in den roten Zahlen steckt! Das Ehepaar Eugen und Luise Habermaass kam 1938 aus Freudenstadt/Schwarzwald nach Rodach, wo sie ihre Spielzeugfabrik gründete. Da waren die älteste Tochter Karin (1935), die „Putzi“ genannt wurde, und Spohn Klaus (1937), der „Bubi“ genannt wurde, schon geboren. 1939 wurde Sigrid, genannt „Didi“ geboren, die heute in Freiburg lebt. Vater Eugen Habermaass, der 1945 im „Volkssturm“ Rodach gegen die anrückenden Amerikaner verteidigt haben soll, starb 1955 im Alter von 49 Jahren an einem Herzinfarkt, weshalb Klaus H. mit 18 Jahren, von seiner Mutter angeleitet, in die Firma einsteigen musste. Klaus Habermaass hat dann irgendwann Gertrud Steitz (1942) geheiratet, die schöne Tochter des Maurermeisters Max Steitz aus der Kirchgasse, der gegen Ende des Krieges Bürgermeister in Rodach war. Gertrud war zuvor mit Klaus Pfeiffer vom Schweighof verlobt, der aber 1962, als ich in der DDR im Zuchthaus Torgau saß, tödlich verunglückt ist.
Die Firma HABERMAASS hat, so stand es in der Zeitung, 1800 Mitarbeiter, von den 650 entlassen werden sollen. Das konnte man im Juli lesen. Die Insolvenz ist wohl die weitaus schlimmere Alternative. Auch der Stadt Rodach geht es schlecht, sie ist mit 800 000 Euro verschuldet und muss Grundstücke und Waldflächen verkaufen. Im Jahr 2024 wird die Stadt Rodach 1125 Jahre alt, eine Feier findet nicht statt, eine Festschrift gibt es auch nicht!
In einem Wald bei Neida, das jetzt zu Meeder gehört, sollen jetzt drei Windräder errichtet werden. Sofort bildete sich eine Widerstandsgruppe aus Neida und den umliegenden Dörfern, auch Dr. Jan Stahl und seine Ehefrau, die einstige Prinzessin Stefanie von Sachsen-Coburg-Gotha, die jetzt in Carlshan bei Breitenau wohnen, sind dabei. In Ahlstadt auf den Langen Bergen dasselbe Vorgehen gegen die Windräder. Alle wollen sie, dass die Kühlschränke laufen und die Mikrowelle, die Spülmaschine, die Waschmaschine und das Fernsehen. Aber wenn drei Windräder errichtet werden sollen, gehen die Leute auf die Barrikaden.
An dieser Mentalität wird auch die Klimapolitik der Bundesregierung scheitern. Die Westdeutschen leben seit 70 Jahren im Wohlstand, jetzt aber werden Einschränkungen verlangt, dazu aber ist niemand bereit. Das, was dieses Jahr an Waldbränden und Überschwemmungen in Südeuropa abgelaufen ist, war nur ein kleiner Vorgeschmack darauf, was uns nächstes Jahr, 2024, erwartet. Die Natur hatte ihre eigenen Gesetze und macht keinen Bogen um Deutschland, auch wenn die Mehrheit hierzulande die Wetterkapriolen für eine Laune der Natur hält, die vorüber geht. Nichts geht vorüber, denn die Erde ist erschöpft! Eigentlich müssten wir schreiend auf die Straße rennen, aber wir tun so, als ginge das Leben so weiter wie bisher. Da wird davon gesprochen, dass 2033 das Coburger Landestheater in neuem Glanz wiedereröffnet wird. Woher weiß ich, ob ich, falls ich noch lebe, in zehn Jahren überhaupt noch ins Theater gehen möchte. Vielleicht sind wir bis dahin alle verhungert, verdurstet, ertrunken oder erfroren. Es ist alles drin!
In der Nähe des Dorfes Spechtsbrunn, nördlich von Sonneberg in Thüringen, haben Wahnsinnige ein riesiges Hakenkreuz in eine Wiese geschnitten. Man kann nur den Kopf schütteln!