In der ersten Auflage der „Kleinen Literaturgeschichte der DDR“, die der Bremer Germanist Wolfgang Emmerich 1981 veröffentlicht hat, kam der 1954 in Plauen/Vogtland geborene Lyriker und Erzähler Utz Rachowski nicht vor; und auch in der dritten, wesentlich erweiterten Auflage (640 Seiten), die 1996 erschienen ist, sieben Jahre also nach dem Mauerfall, als die Archive längst geöffnet und die Akten der Staatssicherheit längst zugänglich waren, wird sein Name nur in einer langen Reihe von ausgebürgerten DDR-Autoren genannt, ohne dass sein Werk interpretiert würde. Damals hatte Utz Rachowski bereits sechs Bücher veröffentlicht und vier Literaturpreise bekommen. Im Umkreis seines 65. Geburtstags am 23. Januar 2019 erschienen 2018 seine gesammelten Gedichte („Die Dinge, die ich vergaß“) und 2019 seine gesammelte Prosa („Die Lichter, die wir selbst anzünden“).
Utz Rachowski wurde schon als Schüler von 17 Jahren politisch verfolgt, so musste er 1971 wegen „Zersetzung des Klassenkollektivs“ die Erweiterte Oberschule in Reichenbach/Vogtland verlassen und durchlief eine Lehre als Elektromonteur. Nach Ableistung des Grundwehrdienstes in der „Nationalen Volksarmee“ konnte er 1977 an der „Arbeiter- und Bauernfakultät“ in Karl-Marx-Stadt das Abitur nachholen und in Leipzig zwei Semester Medizin studieren, ehe er aus politischen Gründen exmatrikuliert wurde und als Heizer arbeiten musste. Wegen Verbreitung kritischer Texte, eigener und solcher von anderen „Staatsfeinden“ wie Reiner Kunze, Wolf Biermann und Jürgen Fuchs, wurde er 1979, wie der Journalist Christian Daniel Schubart im 18. Jahrhundert, zu 27 Monaten Zuchthaushaft verurteilt, wurde aber schon 1980, nach 14 Monaten, auf Betreiben Reiner Kunzes, der 1977 ausgebürgert worden war, von der Bundesregierung in Bonn freigekauft. Zeugnisse dieser Zeit im Untersuchungsgefängnis der Staatssicherheit in Chemnitz (damals Karl-Marx-Stadt) und im Zuchthaus Cottbus sind die hier abgedruckten „Briefe aus dem Gefängnis“ an seine Mutter und seine Freundin.
Diese 27 Briefe vom 26. Oktober 1979 bis 13 Januar 1981 sind ein autobiografisches Dokument ganz besonderer Art. Man kann jeder Zeile anmerken, dass der Verfasser darum gerungen hat, seinen Angehörigen das mitzuteilen, was er nicht direkt schreiben konnte. In Briefen, die später von den wachsamen Genossen der „Volkspolizei“ gegengelesen wurden, durfte man nicht preisgeben, was einen wirklich bedrückte. Am 6.November 1979 ließ er seine Mutter wissen, dass seine Freundin, eine Buchhändlerin in Greiz, im siebten Monat von ihm schwanger war. Es kam auch vor in sozialistischen Gefängnissen, dass Briefe spurlos verschwanden oder unterschlagen wurden, ausgehende wie eingegangene. Da genügten ein Wort oder ein Halbsatz, die den Zensoren in Uniform nicht gefielen, und die Post ging „zu den Effekten“, ohne dass der betroffene Häftling verständigt wurde. Dieses Verfahren wurde auch bei Paketsendungen praktiziert. So wurde Franz Kafkas Erzählung „Beim Bau der Chinesischen Mauer“ konfisziert, obwohl, was offensichtlich im Zuchthaus Cottbus noch nicht bekannt war, schon 1965 eine umfangreiche Prosaauswahl Franz Kafkas im Ostberliner Verlag Rütten und Loening erschienen war. Der letzte Brief war eine fröhliche Ansichtskarte vom Wannsee, geschrieben am 13. Januar 1981 aus dem Gästehaus des „Literarischen Colloquiums“. Der Autor war ganz überraschend nach Westberlin abgeschoben worden.
Wer die ersten Texte, Utz Rachowski unter dem Titel „Erzählungen, so traurig wie Sie“ (1983) veröffentlicht hat, kennt, weiß, dass er 1981 einen ungeheuren Stoffvorrat mit nach Westberlin gebracht hat, den er aus der Erinnerung heraufholen und in Literatur verwandeln musste. Beispielsweise die aufschreckende Erzählung „Szenen aus Thüringen“, 1981 aufgeschrieben, eine Geschichte, die er im April 1980 von einem Mithäftling „im Durchgangskeller des Kreisgefängnisses Weimar“ erzählt bekommen hat. Diese Erzählung las er im Oktober 1982 beim Treffen der ausgebürgerten DDR-Schriftsteller in Marburg/Lahn. Danach war es so still im Saal, dass „man kein Flüstern mehr hörte.“ Das schrieb er in seinem Erinnerungstext an die Schriftstellerin Helga Maria Novak (1935-2013), die 1961 von Ostberlin nach Reykjavik7Island auswanderte, 1965 zurückehrte und 1966 ausgebürgert wurde.
In diesem Buch werden auch alle Freunde Utz Rachowskis genannt, die aus dem Vogtland, dieser unerschöpflichen Dichterschmiede, stammen. Allen voran steht der 1933 in Oelsnitz geborene Reiner Kunze, zu dessen 80. Geburtstag 2013 er die Festrede in der Universität Dresden halten durfte. Danach folgt der 1935 in Reichenbach geborene Erzähler Hans Joachim Schädlich, dessen 1977 bei Rowohlt in Hamburg veröffentlichter Prosaband „Versuchte Nähe“ zur Ausbürgerung des Verfassers aus Ostberlin führte. Seine 1965 geborene Tochter Susanne Schädlich hat 2014 ein hervorragendes und leider kaum beachtetes Buch „Herr Hübner und die sibirische Nachtigall“ über das Schicksal zweier Häftlinge veröffentlicht. In Greiz geboren ist der viel zu früh gestorbene Lyriker und Erzähler Günter Ullmann (1946-2009), der sich zu DDR-Zeiten alle Zähne aus dem Mund reißen ließ, weil er befürchtete, sein Zahnarzt arbeite für die Staatssicherheit und hätte ihm ein Abhörgerät eingebaut. In Reichenbach geboren wurde auch Jürgen Fuchs, der 1977 ausgebürgert wurde und mit 48 Jahren an Leukämie starb. Der zweitjüngste dieser vogtländischen Autoren ist der 1951 in Elsterberg geborene Lyriker Gerald Zschorsch, der 1972 verhaftet und 1974 ausgebürgert wurde.
Utz Rachowski „Red` mir nicht von Minnigerode. Erzählungen und Aufsätze“ (2006) ; „Die Dinge, die ich vergaß. Gedichte aus fünf Jahrzehnten“ (2018); „Die Lichter, die wir selbst anzünden. Essays, Reden, Porträts, Briefe aus dem Gefängnis“ (2019).