Im Spätsommer 1962 wurde ich von Leipzig ins berüchtigte Zuchthaus Waldheim im Kreis Döbeln verbracht. In dieser von Kurfürst August dem Starken 1716 errichteten Strafanstalt waren schon im 19. Jahrhundert Aufständische der gescheiterten Revolution von 1848/49 eingesperrt, unter ihnen der Leipziger Schriftsteller Theodor Oelckers (1816-1869) und August Röckel (1814-1876), Musikdirektor am Dresdner Hof, Jahre später auch, in den Jahren 1870/74, der Lehrer Karl May (1842-1912), der dann als Schriftsteller berühmt werden sollte.
Schon in den ersten Tagen, als ich meine Arbeit im Prüffeld des Elektromotorenwerks Hartha, das im Zuchthaus eine Zweigstelle betrieb, aufgenommen hatte, hörte ich vom Schicksal des einstigen Bitterfelder Streikführers Paul Othma (1905-1969), der wegen „Boykotthetze“ nach Paragraf 6 der DDR-Verfassung am 8. November 1953 vom Bezirksgericht Halle zu zwölf Jahren Zuchthaus verurteilt worden war.
Als ich ihn kennen lernte, war er 56 Jahre alt und ich 25. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass er schon in dem Jahr verhaftet worden war, als ich, 16 Jahre alt, noch Schüler am Gymnasium Casimirianum in Coburg war, der am 17./18. Juni 1953 in Rodach an der thüringischen Grenze am Radio saß und mit Herzklopfen den Reportagen über den Aufstand lauschte. Eines Tages stand er vor mir, den wir Gefangenen, seiner schlohweißen Haarmähne wegen, den „Löwen von Bitterfeld“ nannten. Ich reinigte gerade am Waschbecken im ersten Stock den blechernen Kaffeekübel für meine Mannschaft. Er war aus der Wickelei im zweiten Stock heruntergekommen und sah mir wortlos zu. Er war verschlossen und sprach nicht gern über sich. Alles, was ich über ihn weiß, habe ich von Mitgefangenen erfahren.
Er stammte nicht aus der preußischen Provinz Sachsen, sondern wurde 1905 in Radzionkau im Kreis Tarnowitz/Oberschlesien geboren und war mit seinen Eltern nach dem Ersten Weltkrieg ins mitteldeutsche Industrierevier gekommen, wo er das Elektrohandwerk erlernte und von 1921 bis 1941 im Elektrowerk Bitterfeld und danach in den Dessauer Junkerswerken arbeitete. Seit März 1953 war er im Elektrochemischen Kombinat Bitterfeld als Elektromonteur tätig.
Als in den Abendstunden des 16. Juni 1953 die ersten Gerüchte über die Arbeitsniederlegungen der Bauarbeiter in der Ostberliner Stalinallee die Industriestadt Bitterfeld erreichten, schaltete Paul Othma den Westberliner „Hetzsender“ RIAS ein, denn im DDR-Rundfunk wurde über diesen aus SED-Sicht ungeheuerlichen Vorgang, dass Arbeiter gegen eine „Arbeiterregierung“ streikten, nicht berichtet. Am nächsten Morgen auf dem Betriebsgelände erstieg er das Führerhaus eines Lastkraftwagens und erklärte sich und die 13 000 Kollegen im Elektrochemischen Kombinat für solidarisch mit den Forderungen der Ostberliner Bauarbeiter.
Danach rief er zur Demonstration in die Innenstadt auf. Der später in die Streikleitung gewählte Wilhelm Fiebelkorn, Lehrer für Mathematik und Physik an der Comenius-Oberschule, stand am Straßenrand und sah den Zug der 11 000 Demonstranten herankommen. Jahre später, nachdem er vor drohender Verhaftung nach Westberlin geflüchtet war, hat er darüber geschrieben: „Dann aber, es war gegen 9.30 Uhr, schob sich eine schwarze Wand wogend vorwärts über die Bahnüberführung dicht an unserer Schule. Die Arbeiter kamen! Vor Erregung schlug mein Herz bis zum Hals. Ich sah, dass die Arbeiter sich gegenseitig untergehakt hatten. Ein jeder zog und schob jeden. Die Führung, die Masse, machte sie stark und mutig. Vor der schwarzen Menschenmasse ging ein einzelner Mann: Paul Othma.“
Es war ein gewaltiger Demonstrationszug, der die Streikenden des Elektrochemischen Kombinats Bitterfeld, der Farbenfabrik Wolfen und der Filmfabrik Wolfen miteinander vereinigte. Es waren schließlich 30 000 Arbeiter, die gegen 11.00 Uhr auf der Binnengärtenwiese („Platz der Jugend“) eintrafen. Als Paul Othma zu den Versammelten sprach, konnte er eine Lautsprecheranlage, die an den Stadtfunk angeschlossen war, benutzen: „Liebe Freunde, wenn ich heute eure strahlenden Gesichter sehe, dann möchte ich euch am liebsten umarmen und an mein Herz drücken. Der Tag der Befreiung ist da, die Regierung ist weg, die Tyrannei hat ein Ende.“ Nach ihm trat Wilhelm Fiebelkorn ans Mikrofon und verkündete die Forderungen der Aufständischen, darunter auch „Rücktritt der Ulbricht-Regierung.“
Für wenige Stunden, bevor am frühen Nachmittag der Ausnahmezustand verhängt wurde, herrschten in Bitterfeld die revolutionären Arbeiter, die sich gegen die SED-Diktatur erhoben hatten. Als die Streikleitung im Bitterfelder Rathaus über das weitere Vorgehen beriet, war das Schicksal des Aufstands längst entschieden. Als gegen 16.00 Uhr bekannt wurde, dass Panzer der russischen Besatzungsmacht auf Bitterfeld zurollten, wurde die Versammlung aufgelöst.
An diesem Abend ging Paul Othma, der ahnte, was ihm bevorstand nicht nach Hause zu seiner Frau Hedwig, sondern versteckte sich bei seinen Eltern. Nach Mitternacht klopfte er bei seiner Frau ans Fernster und erklärte ihr flüsternd, dass ihn Freunde zu seinem Bruder nach Rudolstadt in Thüringen bringen wollten, von wo aus er über die grüne Grenze nach Bayern fliehen wollte. Die geplante Flucht war aber verraten worden, in der Nähe der Stadt Delitzsch wurde Paul Othma am 20. Juli 1953 von der „Volkspolizei“ festgenommen und der „Staatssicherheit“ übergeben.
Nun begannen in der Bezirkshauptstadt Halle wochenlange Verhöre, in denen, freilich ohne Erfolg, versucht wurde, aus dem Arbeiterführer Paul Othma einen politischen Verbrecher zu machen, der durch eine „Konterrevolution“ den SED-Staat hatte beseitigen wollen. In der Urteilsbegründung wurde er deshalb als „Feind unserer demokratischen Ordnung“ bezeichnet.
Dass er seiner Überzeugung, als gewählter Arbeitervertreter nur seine Pflicht getan zu haben, während der Haftjahre treu blieb, zeigt, dass er im Zuchthaus Waldheim ständig zu Gesprächen mit der Anstaltsleitung vorgeladen wurde, wo man ihm versprach, er könnte sofort entlassen werden, wenn er widerriefe und eingestehe, am 17. Juni 1953 Verbrechen begangen zu haben. Da er nicht widerrief, blieb er ein „Staatsverbrecher“ und musste die zwölf Haftjahre fast vollständig absitzen. Die Begründung der Staatsanwaltschaft Halle gegenüber Hedwig Othma, die mehrere Gnadengesuche eingereicht hatte, war immer, dass der „Umerziehungsprozess nicht abgeschlossen“ wäre. Noch am 21. Juli 1964 schrieb ihr das Bezirksgericht Halle, dass die „volle Strafverbüßung erforderlich“ wäre. Vier Wochen später, am 21. August 1964, schrieb ihr dasselbe Gericht, dass der „Verurteilte…entsprechende Lehren aus seinem strafbaren Verhalten gezogen“ hätte und deshalb das „Erziehungsziel …als erreicht anzusehen“ wäre.
In Wirklichkeit war Paul Othma an Leberzirrhose erkrankt, und die DDR-Justiz wollte auf keinen Fall, dass er im Zuchthaus stürbe. Was er bis zu seinem Tod am 20. Juni 1969 nicht erfuhr, war, dass er von der Bundesregierung in die Freikaufaktion politischer Häftlinge im Sommer 1964 einbezogen, aber am 1. September 1964 nach Bitterfeld entlassen wurde.
Als zum 50. Jahrestag des 17. Juni 2003 in mehreren DDR-Städten, so auch in Bitterfeld, Ausstellungen stattfanden, besuchte ich Hedwig Othma in Sandersdorf. Sie erzählte mir, dass ihr Ehemann die DDR hätte verlassen wollen, was ihm aber von den Behörden verwehrt worden wäre, offensichtlich wusste er zu viel über den Aufstand in Bitterfeld und seine Niederschlagung. Als Paul Othma 1969 gestorben und sie mit 60 Jahren Rentnerin geworden war, zog sie zu ihrer Schwester nach Sendenhorst bei Münster und blieb dort bis zum Mauerfall 1989, wobei sie vermied, der Westpresse Interviews zu geben, weil sie befürchtete, danach nicht mehr nach Bitterfeld zurückkehrten zu dürfen. Nach dem Untergang des SED-Staates zog sie wieder nach Sandersdorf, um Pauls Grab zu pflegen.
Heute wird Paul Othma in seiner Heimatstadt geehrt. Am 17. Juni 1999 stand er im Mittelpunkt einer Veranstaltung der „Bundeszentrale für politische Bildung“ im Walther-Rathenau-Gymnasium, am 17. Juni 2003 enthüllte Hedwig Othma am Bitterfelder Rathaus eine Gedenktafel für ihren verstorben Mann, und das Sport- und Gemeindezentrum in Sandersdorf wurde in „Paul-Othma-Haus“ umbenannt.
Das traurige Schicksal des Bitterfelder Streikführers Paul Othma steht gleichnishaft für den Untergang der deutschen Arbeiterbewegung im SED-Machtbereich. Bis 1933 hatte diese starke politische Kraft ihre Hochburgen in Erfurt, Halle, Leipzig und Magdeburg. Hier waren auch die Pläne für eine Zukunft ohne die Kommunisten am weitesten fortgeschritten. Nach der Niederschlagung des Aufstands wurde die Geschichte im SED-Sinn umgeschrieben. Im siebten Band der von Walter Ulbricht überwachten „Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung“ (Ostberlin 1966) wird der Arbeiteraufstand unter der Überschrift „Das Scheitern des konterrevolutionären Putschversuchs gegen die Arbeiter- und Bauernmacht am 17. Juni 1953“ auf 24 Seiten abgehandelt. Geboten wird dem Leser eine unsägliche Ansammlung von Schlagworten ohne jede Beweiskraft. Die Namen der Streikführer werden nirgendwo erwähnt.