Als morgens um 4.00 Uhr am 14. August 1964, einem Freitag, unsere Zelle im Zuchthaus Waldheim aufgeschlossen wurde, sagte der Schließer von der „Volkspolizei“ zu mir: „Strafgefangener Bilke, Sie gehen heute nicht arbeiten!“ Eine Begründung wurde nicht gegeben. Am selben Tag noch wurde ich in eine andere Zelle verlegt, wo schon zwei Gefangene auf mich warteten: Ein Westberliner Student, der wegen Fluchthilfe verurteilt war, und ein älterer Arbeiter, der schon zehn Jahre Zuchthaus abgesessen hatte und der, da seine Frau inzwischen in Westdeutschland lebte, nach der Entlassung über die innerdeutsche Grenze hatte fliehen wollen, noch einmal wegen „Republikflucht“ zu anderthalb Jahren verurteilt worden war.
Am 21. August, einem glühend heißen Hochsommertag, holte uns ein Kommando der „Staatssicherheit“ in einem Transportwagen ab, auf dem die Aufschrift „Frische Fische“ zu lesen war, und brachte uns nach Berlin-Hohenschönhausen, wo wir drei Tage blieben. Dort bekamen wir auch unsere Zivilsachen zurück und wunderten uns, wie höflich und zuvorkommend wir von der Wachmannschaft behandelt wurden. Wahrscheinlich hätten sie uns auf Wunsch auch Himbeereis gebracht!
Am 24. August wurden wir ins Gefängnis Magdalenenstraße gefahren, das im Rückgebäude des „Ministeriums für Staatssicherheit“ in der Normannenstraße in Berlin-Lichtenberg lag. Über dieses Gefängnis hat der Schriftsteller Jürgen Fuchs (1950-1999), auch ein politischer Häftling, später das Buch „Magdalena“ (1998) geschrieben. Hier wurden wir einzeln hohen Offizieren der „Staatssicherheit“ zugeführt, die uns erklärten, wir würden morgen „wegen guter Führung“ entlassen und mit Bussen an die „Staatsgrenze West“ gebracht. Sollten wir unterwegs auf Rastplätzen der Autobahn mit westdeutschen oder Westberliner „Transitreisenden“ ins Gespräch kommen, sollten wir sagen, wir wären eine „westdeutsche Reisegesellschaft“, allerdings widersprach dem die Ostberliner Autonummer.
Auf der letzten Bank in unserem Bus saß ein einfacher MfS-Mann mit einem Wäschekorb voller belegter Brote, damit wir nicht halbverhungert im “Kapitalismus“ ankämen, aber niemand von uns kam auf den Gedanken, von diesen Broten zu essen. Bei Jena in Thüringen steuerte der Bus einen Rastplatz an, jetzt stiegen zwei Rechtsanwälte in unseren Bus, Wolfgang Vogel aus Ostberlin und Jürgen Stange aus Westberlin, die uns erklärten, dass wir freigekaufte Häftlinge wären. Wir sollten aber auf keinen Fall darüber sprechen, keine Interviews in Zeitungen, Hörfunk und Fernsehen geben, weil die DDR-Regierung den Freikauf sonst einstellen könnte.
Später hielten unsere beiden Busse in einem Waldstück an der innerdeutschen Grenze, dort wartete auf uns ein Bus mit Hanauer Nummer, in den wir einstiegen. Dann fuhren wir dieselbe Strecke über Wartha-Herleshausen nach Hessen, über die ich 1961 eingereist war. Auf der westdeutschen Seite stieg der Rechtsanwalt Alfred Musiolik in unseren Bus, der uns bis zu unserem Nachtquartier im Schloss Büdesheim begleitete. Es war inzwischen dunkel geworden, wir fuhren jetzt die innerdeutsche Grenze entlang, und Alfred Musiolik sagte einen Satz, den ich nie vergessen werde: „Wenn Sie nach links schauen, wo es so hell erleuchtet ist, das ist die Bundesrepublik Deutschland! Und rechts, wo es finster ist wie in der Seele von Herrn Ulbricht, das ist die DDR, die Sie eben verlassen haben!“
Nach Mitternacht hielten wir noch einmal auf der Autobahn in Mittelhessen und bekamen alle eine Tüte überreicht mit belegten Brötchen, einer Tüte Milch, Apfelsinen und Zigaretten. Warmer Nachtwind strich durch die Felder, Korngeruch lag in der Luft. Da standen wir, „Staatsfeinde“, der Freiheit entwöhnt, aber voller Zuversicht! Ich gab dem Busfahrer meine Zigaretten und die Telefonnummer meiner Eltern und bat ihn, meine Mutter anzurufen. Nach der Ankunft aber im Schloss bat ich ihn, nicht anzurufen. Was macht meine Mutter, wenn sie nachts um 2.00 Uhr erfährt, ich käme morgen zurück?
Als wir am nächsten Morgen aufwachten, sahen wir seit Jahren ein Fenster ohne Gitter! Ein herrlicher Anblick! Im Frühstückraum saßen wir frisch Entlassenen an gedeckten Tischen, es gab frische Brötchen, Wurst und Butter und Bohnenkaffee, von dem wir Herzklopfen bekamen, weil wir ihn nicht mehr gewöhnt waren. Drei offizielle Herren waren auch erschienen: von der Lagerleitung, von der Landesregierung in Wiesbaden, von der Bundesregierung in Bonn. Und alle drei Herren sprachen mit Hochachtung von uns, dass wir uns in einer Diktatur für Demokratie und Freiheit eingesetzt hätten. Wir waren gerührt. Neben mir saß ein Häftling aus Bautzen II, der Erich Loest kannte. Erich, dessen Frau ich im Oktober 1959 in Leipzig heimlich besucht hatte, war 1958 zu siebeneinhalb Jahren wegen „konterrevolutionärer Gruppenbildung“ verurteilt worden und wurde vier Wochen nach mir zu seiner Frau Annelies nach Leipzig entlassen.
Und dann ging alles ganz schnell! Vor einer Kommission musste ich Angaben über meine Haft und die Haftgründe machen, bekam 600 Mark in die Hand gedrückt: Begrüßungsgeld, Kleidergeld, Fahrgeld. Ich bestellte mir ein Taxi und ließ mich in das zwölf Kilometer entfernte Dorf Bruchköbel bei Hanau fahren, wo meine Eltern und meine drei Schwestern wohnten. Als wir vor dem Haus hielten, war alles verschlossen und niemand anzutreffen. Aber unsere Boxerhündin Bella stand hinterm Hoftor und wedelte vor Freude mit ihrem Schwanz. Als ich meine Hand über das Tor streckte, um sie zu streicheln, leckte sie meine Hände. Ich hätte fast geheult! Ich kam mir vor wie der griechische Sagenheld Odysseus, der zehn Jahre vor Troja gekämpft hatte und zehn Jahre durch die Ägäis geirrt war, bevor er auf seine Insel Ithaka zurückehren konnte. Als er seinen Hof betrat, erkannte ihn sein Hund Argos und starb.
Ich ließ mich zu unserem Hausarzt fahren, der aus Leipzig stammte und die DDR-Verhältnisse kannte. Der sperrte sofort seine Praxis ab, lud mich zum Frühstück ein und fuhr mich dann zum Hanauer Gymnasium, das meine Schwester Martina (14) besuchte. Sie kam ahnungslos die Schultreppe herab, sah mich stehen, warf ihre Tasche weg und fiel mir um den Hals. Meine Mutter, die als Krankenschwester arbeitete, holten wir dann im Krankenhaus ab. Ich musste ihr, als sie mich sah, entlegen laufen, weil ihr die Beine wegsackten. Auf der Rückfahrt nach Bruchköbel sagte sie dann: „Du gehst sofort in die Badewanne, Du stinkst nach Zuchthaus!“
Eine Woche später kam ein Brief aus Waldheim, dass im September wieder der nächste Besuchstermin für meine Mutter anstünde! Ich habe nur den Kopf geschüttelt.