Dass die Finnen und die Esten in Nordosteuropa verwandte Sprachen benutzen und einander verstehen können, ist bekannt. Den Sowjetbehörden in der Estnischen Volksrepublik war das bis zum Fall der Berliner Mauer 1989 ein ständiges Ärgernis, weil die „sozialistisch“ erzogenen Esten jeden Tag das „kapitalistische“ Fernsehen aus Finnland einschalteten und dort erfuhren, dass es jenseits des Finnischen Meerbusens alles zu kaufen gab, was in Estland über Jahrzehnte bitter entbehrt wurde.
An der 1400 Kilometer langen innerdeutschen Grenze gab es für die ununterbrochen im „Klassenkampf“ stehenden SED-Ideologen weit schlimmere Schwierigkeiten zu überwinden: Neben der gemeinsamen Sprache gab es die in Jahrhunderten gewachsene deutsche Geschichte und Kultur und die zahlreichen Verwandtschafts-verhältnisse, die den „Aufbau des Sozialismus“ behinderten.
Der Würzburger Journalist Eberhard Schellenberger ist 1957 in Zeil am Main, 25 Kilometer von der innerdeutschen Grenze entfernt, geboren und aufgewachsen. Nach dem Abitur 1978 arbeitete er als Volontär beim „Hassfurter Tagblatt“, wechselte 1980 zum Regionalstudio „Mainfranken“ des „Bayerischen Rundfunks“ in Würzburg und wurde dort 1996 Redaktionsleiter, im Herbst 2020 ging er in den Ruhestand. Jetzt endlich fand er die Zeit, die bei der Bezirksverwaltung Suhl der „Staatssicherheit“ über ihn seit 1984 geführten Akten aufzuarbeiten.
Wer in der Nähe der DDR-Grenze aufwuchs, blieb nicht unberührt davon, was jenseits dieser Grenze ablief. Er erfuhr von gelungenen oder gescheiterten Fluchtversuchen, von Grenzdurchbrüchen und Verhaftungen. Irgendwann versuchte er dann, sich selbst ein Bild zu machen von diesem Staat und seinen Einwohnern. Eberhard Schellenberger fuhr am 31. Oktober 1984 zu Freunden seiner Eltern nach Bautzen und blieb fünf Tage. Da war er schon vier Jahre Mitarbeiter des Würzburger Fernsehens, also kein „unbeschriebenes Blatt“ mehr, weshalb die „Staatssicherheit“ in Cottbus unter dem Stichwort „Journalist“ eilfertig eine Akte über ihn anlegte. Ins Blickfeld der Grenztruppen geraten war er, als er im Sommer 1984 für die „Welle Mainfranken“ an der DDR-Grenze bei Trappstadt im Landkreis Rhön-Grabfeld über den Abbau von Selbstschussanlagen berichtete. Die DDR-Grenztruppen ersetzten während der Reportage die Minenbergungspanzer, um ein friedliches Bild an der Grenze vorzutäuschen, kurzfristig durch Traktoren mit Pfluggeräten. Später nahm er an der Übergabe eines abgetriebenen DDR-Wetterballons durch den Bundesgrenzschutz am Grenzübergang Eußenhausen-Meiningen teil. Die Atmosphäre war „eisig“, außer „Guten Tag“ und „Danke“ wurden keine Worte von der Gegenseite gewechselt.
Dass die DDR-Behörden genau wussten, wer Eberhard Schellen-berger war, als er 1984 nach Bautzen fuhr, erwies sich beim Antrag auf ein Einreisevisum. Es wurde genehmigt, er hatte als Beruf lediglich „Journalist“ angegeben, aber die DDR-Behörden hatten ergänzt: „Bayerischer Rundfunk, Rotkreuzstraße 2a, 8700 Würzburg“.
Was den DDR-Behörden immer höchst unangenehm war, das war die unvoreingenommene Berichterstattung durch Westjournalisten über ihr Land. Die „Reise in ein fernes Land“ (Buchtitel 1964), die die drei Hamburger Journalisten Marion Gräfin Dönhoff, Rudolf Walter Leon-hardt und Theo Sommer im März 1964 unternahmen, führte in einen sozialistischen Musterstaat, den es nicht gab. Eberhard Schellen-berger ist in Franken geboren und demokratisch erzogen worden, er fuhr ohne Scheuklappen zu Freunden in die DDR-Provinz und schrieb auf, was er gesehen und gehört hatte, zum Beispiel die Sache mit dem Hund und der westdeutschen Leberwurst.
Schon während seiner zweiten Privatreise aber in die Oberlausitz wurden Eberhard Schellenberger, seine mitreisende Ehefrau Monika und die Bautzener Gastgeber ständig überwacht. Als sie in der Nähe Zittaus von einem unbekannten Auto verfolgt wurden, suchten sie eine Gaststätte auf, worauf die beiden Insassen des Autos am Nachbartisch Platz nahmen. Während sich diese Begegnung noch wie ein Räuber- und Gendarm-Spiel anfühlte, war die unter strengen Auflagen ablaufende Dienstreise 1985 nach Dresden weit gefährlicher. Es ging um die Zerstörung Dresdens durch anglo-amerikanische Flugzeuge in der Nacht des 12./13. Februars 1945 und den Wiederaufbau der Stadt. Nach zähen Verhandlungen wurden dem Würzburger Journalisten die Einreise am 19. Juni gestattet und die Drehgenehmigung erteilt.
Die Auflagen waren allerdings, keine Einwohner Dresdens für ein Interview anzusprechen und kein Gespräch mit Oberbürgermeister Gerhard Schill zu führen. Aber dann lief alles anders als geplant! Ein Journalist ist immer neugierig auf andere Menschen und ihre Geschichte. Das ist seine Berufskrankheit! In Dresdens Würzburger Straße sprach Eberhard Schellenberger eine ältere Dame im Vorgarten ihres Hauses an und fragte sie, wie sie ihr zerstörtes Haus in den Nachkriegsjahren wiederaufgebaut hätte. Gegen Ende des Interviews erklärte sie mutig, dass sie gerne einmal nach Würzburg führe, aber „hier ja eingesperrt“ wäre. Sein amtlicher Reisebegleiter, der, wie nach dem Mauerfall aus den Akten ersichtlich war, in Diensten der „Staatssicherheit“ stand, erbleichte. Abends erschien diese Frau verstört im Hotel und bat dringendst darum, den letzten Satz ihres Interviews nicht zu senden.
Die von Würzburg in Unterfranken erwünschte und von Suhl in Thüringen widerwillig vollzogene Städtepartnerschaft und die konspirativen Begleitumstände von der Ratifizierung am 9. Juni 1988 bis zum Mauerfall am 9. November 1989 sind ein Paradebeispiel für die Überwachungssucht der „Staatssicherheit“, die der eigenen Bevölkerung zutiefst misstraute. Es begann schon damit, dass Eberhard Schellenberger am 14. März nach Suhl einreisen durfte, um ein Porträt der Stadt Suhl zu erstellen, die in Würzburg niemand kannte. Sofort nach der Einreise schickte die Grenzübergangsstelle Meiningen ein Fernschreiben an die Bezirksverwaltung Suhl und die Kreisdienststelle Suhl der „Staatssicherheit“ mit allen Einzelheiten („Sechs Flaschen Wein sind als Gastgeschenk für den Bürgermeister von Suhl bestimmt.“), die sie über den „Klassenfeind“ aus Würzburg erfahren konnte. Der Reporter war quasi schon von „inoffiziellen Mitarbeitern“ umstellt, ehe er überhaupt eingereist war.
Im Vorfeld der Unterzeichnung und auch noch danach waren die „Tschekisten´“ in Suhl im Dauereinsatz, um den westdeutschen „Klassenfeind“, der die Städtepartnerschaft für seine finsteren Pläne missbrauchen wollte, abzuwehren. Liest man heute, aus mehr als drei Jahrzehnten Distanz, die Überwachungsberichte von damals, so könnte man den Eindruck gewinnen, als hätte die Bundeswehr den Einmarsch in Thüringen geplant.
Am 15. November 1988 fuhr der Suhler Oberbürgermeister Joachim Kunze zum Gegenbesuch nach Würzburg. Vor der Reise war er gewarnt worden, dass das in Würzburg vorgesehene Bürgergespräch „zur Durchsetzung von Übersiedlungsversuchen“ missbraucht werden könnte. Es ging um vier Suhler Familien, die ausreisen wollten, wofür sich ein Ehepaar in Mellrichstadt/Unterfranken vehement einsetzte. Die „Staatssicherheit“ in Suhl konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass man im Herbst 1988 die DDR freiwillig verlassen wollte: „Durch die Verherrlichung der Lebensverhältnisse in der BRD erfolgte bisher durch das Ehepaar W. eine feindlich-negative Beeinflussung im Sinne der politisch-ideologischen Diversion, die zur Verfestigung der Über-siedlungsabsichten führte“.
Als die Bezirksleitung der „Staatssicherheit“ in Suhl erfuhr, dass am 18. September 1988 in Würzburg durch den in Erfurt geborenen Bernd Höland (Kennwort „Drahtzieher“) ein „Freundeskreis Suhl-Würzburg“ gegründet worden war, waren die Thüringer „Tschekisten“, man kann es an ihren „streng vertraulichen“ Einschätzungen der Gefahrenlage erkennen, aufgeschreckt und verunsichert. Nichts war ihnen mehr zuwider als Privatinitiativen unabhängiger Bürger! Jetzt wurden neue Akten angelegt, Überwachungspläne ausgearbeitet, drei Würzburger Studenten angeworben und Mitschnitte von Sendungen Eberhard Schellenbergers angefertigt. Besonders schlimm war, dass auch, so war es von Bernd Höland vorgesehen, auch DDR-Bürger aus Suhl begeistert waren und dem Freundeskreis beitreten wollten.
Wenn man heute, fast 33 Jahre nach der Wiedervereinigung, diese hier ausgebreiteten Dokumente liest, kann man nur den Kopf schütteln über die sinnlosen Aktivitäten eines Geheimdienstes, der seine Existenz dadurch rechtfertigen musste, dass er Zehntausende von DDR-Bürgern verfolgte, anklagte und in die Zuchthäuser brachte. Dem mutigen Journalisten Eberhard Schellenberger aus Würzburg ist es zu verdanken, dass dieses unsägliche Schriftgut veröffentlicht wurde
Eberhard Schellenberger „Deckname Antenne. Als Journalist im Visier der Stasi“, 196 Seiten, 19.90 Euro, Echter-Verlag, Würzburg 2022