Carsten Gansel: Biografie über DDR-Schriftstellerin Brigitte Reimann

Ich bin so gierig nach Leben – Brigitte Reimann Die Biographie Autor:in: Carsten Gansel

Ein solches Buch wie diese Biografie der DDR-Schriftstellerin Brigitte Reimann (1933-1973) konnte nur ein DDR-Germanist schreiben wie der 1955 in Güstrow/Mecklenburg geborene Carsten Gansel. Nur er brachte die Voraussetzungen mit, die ihn befähigten, dem Leben und dem literarischen Werk der frühverstorbenen Autorin gerecht zu werden. Er allein konnte die entlegensten Archive mit biografischem Material ausfindig machen; er konnte Beziehungen aufnehmen zu den drei überlebenden Geschwistern und den Briefpartnern, ohne dass ihm, wie einem Westgermanisten, Misstrauen entgegen- geschlagen wäre; und nur er konnte das Werk, weil er über DDR-Erfahrungen verfügte, im Kontext der gesellschaftlichen Entwicklung interpretieren. Ein Westgermanist hätte hier gnadenlos versagt!

Carsten Gansel wurde 1981 an der Pädagogischen Hochschule in Güstrow mit einer Arbeit zur „antikommunistischen Wertung“ der DDR-Literatur promoviert und habilitierte sich 1989 an der „Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED“ in Ostberlin. Nach Gastprofessuren in Bielefeld und Frankfurt/Main lehrte er seit 1995 deutsche Literaturgeschichte in Gießen und lebt heute in Neubrandenburg. Er hat mehr als 350 wissenschaftliche Aufsätze verfasst und 2004 unter dem Titel „Hunger nach Leben“ eine Auswahl der Tagebücher Brigitte Reimanns 1955/70 ediert. Seit 2020 ist er Vorsitzender der Christa-Wolf-Gesellschaft. Was er den Lesern mit diesem umfangreichen Buch bietet, ist weit mehr als eine Lebens-beschreibung Brigitte Reimanns, es ist auch eine kleine Geschichte der DDR-Literatur 1955/73. Denn fast überall in den 44 Kapiteln, die oft nur wenige Seiten umfassen, blendet der Verfasser Ausblicke auf andere Autoren ein wie Christa Wolf (1929-2011) oder Stephan Hermlin (1915-1997) ein.

Rezeptionsgeschichte ungewöhnlich in der deutschen Nachkriegsliteratur

Die Rezeptionsgeschichte Brigitte Reimanns ist höchst ungewöhnlich in der deutschen Nachkriegsliteratur. Was bei ihrem Tod am 20. Februar 1973 an Veröffentlichungen vorlag, waren ein halbes Dutzend Prosatexte und Hörspiele, die Erzählung „Ankunft im Alltag“ (1961) und der Republikfluchtroman „Die Geschwister“ (1963). Im Jahr nach ihrem Tod erschien, von der Zensur gekürzt, ihr unvollendet gebliebener Roman „Franziska Linkerhand“ (1974). Noch vor dem Mauerfall 1989 erschien eine Auswahl aus Tagebüchern und Briefen (1983), vermutlich bearbeitet und politisch entschärft. Nach dem Untergang des SED-Staats und dem Wegfall der Zensur wurden von verschiedenen Verlagen acht Briefbände veröffentlicht und vier Bände mit Tagebüchern. Das nichtfiktionale Werk, in dem sich das authentische Leben der DDR-Autorin widerspiegelt, beginnt nun, allein, was den Umfang betrifft, das fiktionale zu überwuchern. Und ein Ende ist, da der im Literaturzentrum Neubrandenburg lagernde Nachlass offensichtlich noch nicht ausgeschöpft ist, nicht abzusehen!

Brigitte Reimann, geboren am 21. Juli 1933 von bürgerlichen Eltern in der Kreisstadt Burg bei Magdeburg in der preußischen Provinz Sachsen, wuchs mit drei jüngeren Geschwistern auf und erkrankte 1947 an Kinderlähmung. Als Mitglied der „Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren“ in der Bezirkshauptstadt Magdeburg versuchte sie, ihrem Berufsziel „Schriftstellerin“ näherzukommen, arbeitete aber nach dem Abitur zunächst zwei Jahre als Grundschullehrerin, bevor sie mit ihrem zweiten Ehemann, dem aus Schlesien stammenden Schriftsteller Siegfried Pitschmann (1930-2002), am 6. Januar 1960 nach Hoyerswerda ins Industriekombinat „Schwarze Pumpe“ zog.

Dort schrieb sie dann die Erzählung, die sie beim Publikum bekannt machte und die einer ganzen Literaturrichtung den Namen gab, der „Ankunftsliteratur“. In den acht Jahren, sie dort als Schriftstellerin und Leiterin eines „Zirkels schreibender Arbeiter“ verbrachte, lernte sie, völlig unvorbereitet, die harte Realität an der „ökonomischen Basis“ kennen und veröffentlichte ihre niederschmetternden Erfahrungen als „Offenen Brief“ unter dem Titel „Entdeckung einer schlichten Wahrheit“ am 8. Dezember 1962 in der SED-Zeitung „Neues Deutschland“. Das, was sie in ihrem Artikel vortrug, entsprach dem, was eine ganze Schriftstellergeneration erlebt hatte, die nach der „Bitterfelder Konferenz“ vom 24. April 1959 in die Betriebe gegangen waren, um die Geburt des „neuen Menschen“ zu beschreiben. Aber den gab es nicht! Und Brigitte Reimanns „Offener Brief“ war nichts weiter als das Protokoll einer tiefen Enttäuschung. In Erik Neutschs Roman „Spur der Steine“ (1964) kann man auf 916 Seiten nachlesen, dass der „neue Mensch“ lediglich eine Erfindung des SED-Politbüros war!

Die literarische Frucht dieser schweren Enttäuschung war der Roman „Franziska Linkerhand“ (1998), der in nichtzensierter Fassung erst ein Vierteljahrhundert nach ihrem Tod erschien. Dieser Roman, an dem sie schon in Hoyerswerda zu schreiben begonnen hat, trägt autobiografische Züge. Es geht um eine junge, idealistisch gesinnte Architektin, die nach dem Studium nach „Neustadt“ (gemeint ist Hoyerswerda) zieht, um menschenwürdige Wohnungen für Arbeiter zu bauen, wobei es zum Konflikt mit den SED-Planvorgaben kommt, wonach Arbeiterwohnungen schnell und billig errichtet werden sollen.

Drastische Schilderung des DDR-Alltags

Was an diesem Roman auffällt, ist, ähnlich wie bei Erik Neutsch, die drastische Schilderung des DDR-Alltags. Der Unterschied: Bei Brigitte Reimann fehlt der Parteisekretär, der rettend eingreift. Besonders die Figur des Journalisten Dr. Wolfgang Trojanowicz, der aus Masuren stammt, fällt aus dem Rahmen. Vorbild für diese ungewöhnlichen Menschen war Brigitte Reimanns dritter Ehemann Hans Kerschek (1932-1995). Genosse Trojanowicz spricht im Roman am 17. Juni 1953 als „roter Agitator“ zu den aufständischen Arbeitern in Leipzig. Nach dem Ungarnaufstand 1956 wird er wegen „konterrevolutionärer Umtriebe“ zu vier Jahren Zuchthaus in Bautzen verurteilt. Wie man heute weiß, hat sie die Schicksale der DDR-Schriftsteller Erich Loest (1926-2013) und Reiner Kunze (1933) mit dieser Romanfigur verwoben. Dieser Roman ist ein Vermächtnis, das noch nicht ausgeschöpft ist.

Carsten Gansel „Ich bin so gierig nach Leben. Brigitte Reimann. Die Biographie“, Aufbau-Verlag, Berlin 2023, 704 Seiten, 30.00 Euro

Ich bin so gierig nach Leben – Brigitte Reimann
Die Biographie
Autor:in: Carsten Gansel

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Über Jörg Bernhard Bilke 263 Artikel
Dr. Jörg Bernhard Bilke, geboren 1937, studierte u.a. Klassische Philologie, Gemanistik und Geschichte in Berlin und wurde über das Frühwerk von Anna Seghers promoviert. Er war Kulturredakteur der Tageszeitung "Die Welt" und später Chefredakteur der Kulturpolitischen Korrespondenz in der Stiftung ostdeutscher Kulturrat.