Die Generalstrategie zum WIR-Gefühl

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Es wäre viel gewonnen für das Wir-Gefühl im Lande, wenn wir nur endlich zuverlässig wüssten, was zu tun ist. Dann könnten mächtige Energien generiert werden. Unser Land lechzt nach Wegweisern, die in überzeugender Weise orientierungsstiftend wirken und die Menschen wieder mit einem „Volle Kraft voraus!“ mitzunehmen wissen. Es ist problematisch, dass viele schwächelnde Politiker die Problemursachen selbst noch nicht richtig erkannt haben und zudem in schwierigen Koalitionen blockiert werden. Gleichwohl: Die Problemlösung soll sich aus einer seriösen Analyse der Problemursachen ergeben. Dafür müssen wir uns zunächst den Sachstand vergegenwärtigen. Wenn wir uns bewusst machen, was im Argen liegt, schärfen wir sogleich den Blick für die Lösungen.

Überforderungen und Streitunlust

Bekanntermaßen resultiert unser Wehklagen nicht aus einer einzigen Krise. Anfangs war es nur die Flüchtlingskrise, aber dann schoben sich machtvoll die Pandemie, der Ukraine-Krieg, die Energiekrise und die Rezession mit teilweise dramatischen sozialen und wirtschaftlichen Folgen darüber. Das überfordert viele Menschen – auch politisch Verantwortliche, denen es schwer fällt, in diesem Wirrwarr Orientierung zu bieten. Mangelhafte Empathie und Hilflosigkeit bewirken wutschnaubende Eskalationen von Diskursen, die immer mehr in isolierte Parallelwelten abgleiten. Die Streitparteien entfremden sich zusehends. Konstruktive Streitkultur sieht wahrlich anders aus. Viele haben sie leider nie gelernt. Das ist wohl das größte Problem überhaupt, dass so wenig kreative Streitkultur stattfindet und dass viele Menschen Streit mittlerweile lieber aus dem Wege gehen, weil er sie müde gemacht hat und überfordert.

Stigmatisierung unschuldiger Bürger und hilflose Apparate

In dieser Gemengelage breiten sich politischer und auch religiöser Extremismus aus. Unter Bezugnahme auf Extremismus-Analysen des Verfassungsschutzes werden mit sogenannten Brandmauern Barrikaden gebaut. Antifaschisten wollen mit denjenigen, die sie hinter ihre Mauern vergattern, nicht mehr reden. In der trügerischen und bereits widerlegten Hoffnung, dass diese Abschreckungspolitik Menschen davon abhält, radikal zu wählen, werden Massen von unschuldig orientierungslosen Mitbürgerinnen und Mitbürgern wie Aussätzige geächtet. Die politisch Verantwortlichen lassen es derweil ziemlich planlos laufen, in der Hoffnung, dass sie sich zugunsten ihres Machterhalts durchwurschteln können. Sie verweisen darauf, dass der Verfassungsschutz gesicherte Erkenntnisse habe, dass bestimmte Bestrebungen eindeutig verfassungsfeindlich sind.  Ohne diese Erkenntnisse negieren zu wollen bedarf es aber doch Konzepte, wie man mit den Menschen umzugehen hat, die abdriften. Diese Konzepte wirken nicht, wenn es sie denn gibt. Aber oftmals sind es auch komplizierte Koalitionen, die dafür mitverantwortlich sind, wenn der Bundeskanzler und die Ministerpräsidenten mit ihren Behördenapparaten (maßgeblich dem Bundeskanzleramt bzw. den Staats- und Senatskanzleien) in Agonie erstarrt wirken. Das was im Sinne ihrer Richtlinienkompetenz an löblichem Bemühen dennoch stattfindet reicht hinten und vorne nicht aus, um die Menschen zu erreichen und auf Pfade der Tugend zu führen.

Die Aufklärung braucht eine Werteoffensive

Kommerzialisierung und unkontrollierte Digitalisierung führen zu wachsender Verdummung (TikTok erweist sich bisher nicht als seriöse Bildungsplattform). Die Bildungseliten sorgen sich hinsichtlich der Frage, ob das Rad der Aufklärung etwa zurückgedreht werden könnte. So drängt sich die Frage auf: Wie resilient werden sich diejenigen gegen alle Untugenden erweisen, die das Glück hatten, in engagierten Elternhäusern und Schulen eine einigermaßen ordentliche Bildung zu erfahren und jetzt an unseren schwierigen Kommunikationsfronten stehen? Viele stehen mit dem Rücken an der Wand und sind entsprechend defensiv. Aber wir brauchen mit großer Solidarität Kämpfer für eine starke Werteoffensive.

Der Rechtsstaat bedarf einer deutlichen Stärkung

Verrohung, Gewalt, Vandalismus, Diebstähle und die achtlose Verdreckung von Stadtquartieren werden als erschreckende und frustrierende Merkmale eines systemischen Versagens deutlich, bei dem immer mehr Menschen immer eingeschränkter regelkonform funktionieren. Auch hier gilt: Unsere Polizei und unsere Ordnungsdienste tun ihr Möglichstes, aber es wäre noch viel mehr nötig, um den Menschen wieder Sicherheit und Zufriedenheit zu schenken. Es bedarf auf allen Ebenen einer Stärkung der sicherheits- und ordnungsrelevanten Institutionen des Rechtsstaates, auch bei den Gerichten und dem Bundeskriminalamt. Die geforderte Werteoffensive könnte auch hier flankierend helfen.

Die Verantwortlichen sollten mehr Brückenbauer einbeziehen

Es wirkt abstoßend, wenn in einer derart komplexen Gemengelage Politiker unsympathische parteipolitische Profilneurosen erkennen lassen, mit denen potentielle Fähigkeiten blockiert werden, die wir für mehr Miteinander dringend brauchen. Es gibt sehr viele Menschen, die sich parteilos und ehrenamtlich engagieren und die frustriert fragen, warum die politisch Verantwortlichen kaum Räume schaffen, wo sie im politischen Geschäft als parteilose Brückenbauer mitwirken können. Kein Wunder, wenn unter diesen Umständen immer mehr Menschen den etablierten Parteien, wozu seit Jahren auch die Grünen gehören, den Rücken kehren.

Man muss sich vorstellen, dass die Grünen in Sachsen im Rahmen der 2019 gebildeten Kenia-Koalition (CDU, Grüne, SPD) das Justizministerium zugesprochen bekamen, das fortan auch für die Politische Bildung und die Gleichstellung zuständig sein sollte. Nachdem deutlich wurde, dass es kein wichtigeres Politikfeld als die Politische Bildung gibt, konnte man 2020 mit Genugtuung registrieren, dass im Ministerium eine neue Abteilung Demokratie konstituiert werden sollte. Aber dann passierte das Unfassbare: Keiner der besten Politikmanager in ganz Deutschland hätte eine Chance gehabt, die edle Aufgabe der Abteilungsleitung infolge des organisierten Auswahlverfahrens übertragen zu bekommen – denn die Abteilungsleitung sollte ausweislich der Ausschreibung nur jemandem zugesprochen werden können, der über profunde Kenntnisse und Erfahrungen im Gleichstellungsrecht verfügt.

Vom Sündenbekenntnis zu neuen Weichenstellungen

Der vormalige Sächsische Ministerpräsident Stanislav Tillich hat am 14.11.2017 in Gegenwart von Bundespräsident Steinmeier eine große politische Sünde bekannt. Wir sollten uns die Tragweite dieses Sündenbekenntnisses bewusst machen. Seinerzeit eskalierte die Flüchtlingskrise. Die Nerven lagen blank und Tillich erklärte: „Wir haben uns in Sachsen zu wenig um die politische Bildung gekümmert.“ Eine schwerwiegende Aussage, die auf die Anfänge der neuen Bundesländer nach 1990 verweist: Nach den Erfahrungen mit Margot Honeckers ideologisierender Bildungsarbeit hat man der politischen Bildung im Zuge der Wiedervereinigung Deutschlands keinen neuen Motor verliehen. In der Logik des Einigungsvertrages musste sie also auf Gedeih und Verderb mit dem alten Motor Westdeutschlands weitertuckern. Genau das sollte sich als ein Webfehler im System des Einigungsvertrages erweisen. Heute wissen wir, dass es wichtig gewesen wäre, politische Bildungsarbeit zur Bewältigung des schwierigen Prozesses der Wiedervereinigung gänzlich neu zu erfinden. Natürlich hat die Bundeszentrale für politische Bildung in Kooperation mit den Landeszentralen so manches innovativ auf den Weg gebracht. Aber es gab keinen großen Wurf. Infolgedessen hat man die Menschen wenig erreicht.

Aber wir müssen auch wegkommen von der Illusion, dass staatliche Behörden die Köpfe und Herzen der Menschen erreichen könnten, wenn es doch darum geht, eine gesamtdeutsche und europäische Werteoffensive zu begründen. Die Vielzahl der staatlichen Institutionen, die unser Gemeinwesen im Rahmen der Gewaltenteilung bereitstellt, definiert zwar das Rückgrat unseres Staates. Und dieses Rückgrat gilt es unbedingt und permanent zu stabilisieren. Aber viel wichtiger als alle staatlichen Akteure sind – jedenfalls im Bewusstsein der meisten Menschen – jene zivilgesellschaftlichen Kräfte, die mit unseren zahlreichen Vereinen und Initiativen die lebendige und kreative Basisarbeit organisieren, mit denen die Köpfe und Herzen der Bürgerinnen und Bürger erreicht werden. Diese Kräfte hätten noch viel intensiver das geistige Fundament unseres demokratischen Staates mitprägen können, wenn man sie intensiver dazu motiviert und gefördert hätte. Denn staatliche Institutionen sind grundsätzlich weniger prädestiniert, Menschen mitzunehmen als jene Organisationen, die Tag für Tag mit den Menschen und für die Menschen leben und arbeiten. Aber hinterher ist man immer klüger.

Tillichs Sündenbekenntnis hat im Freistaat Sachsen durchaus zu einigem Nachdenken und neuen Weichenstellungen im Bildungsbereich geführt – aber diese Aufmerksamkeit währte nicht lange. Tillichs Nachfolger im Amt des Sächsischen Ministerpräsidenten, Michael Kretschmer, darf mit Fug und Recht als personifizierte und wirksamste Instanz politischer Bildungsarbeit in Deutschland bezeichnet werden. Niemand rackert sich im Kampf für die Demokratie mehr und überzeugender ab als er. Aber auch er kann die Probleme nicht in ihrer Gesamtheit als Einzelkämpfer lösen. Er wäre gut beraten, wenn er sein eigenes Handeln zur Maxime neuer Team- und Netzwerkarbeit durchsetzen würde, mit der dann auch die Atomisierung bisheriger ministerieller Zuständigkeiten ein Ende fände. Das Elend währt bereits seit Jahren. Und die Bürger dürfen erwarten, dass die parteipolitischen Zersplitterungen und Blockaden endlich ein Ende finden.

Teamarbeit in Kreativwerkstätten

Unsere Zeit kennt zu wenige Menschen zwischen den Streitparteien, die als Brückenbauer mit Charisma zu integrieren vermögen. Demnach muss unsere Aufmerksamkeit all jenen Menschen gelten, die sich in die notwendige Teamarbeit mit ihren Ideen einbringen wollen. Es braucht konstruktive Impulse für mehr Wir-Gefühl. Dazu bedarf es Kreativwerkstätten und Kooperationen mit Demokratieinitiativen, die natürlich staatlich begleitet und gefördert werden sollten. Aber sie dürfen nicht staatlich gelenkt werden. Wir brauchen keinen zentralstaatlichen Aktionismus, sondern offene Ohren und Augen für die vielen tollen Vorschläge, die bereits im Raume stehen: Zum Beispiel der Vorschlag von Prof. Steffen Mau für neue Runde Tische nach dem Vorbild der Wendezeit, der Vorschlag des nordrhein-westfälischen Ministerpräsidenten Henrik Wüst für einen Einigungsvertrag 2.0 sowie die diversen Modelle und Formate für Bürgerräte und Bürgerforen zu ausgewählten großen Sachthemen. Dabei sollten die Errungenschaften der repräsentativen Demokratie niemals konterkariert werden. Wir dürfen unsere gewählten Repräsentanten nicht aus ihrer Verantwortung entlassen, sondern wir müssen sie fordern, ihre Verantwortung wahrzunehmen und sich einzubringen.

Integrationspolitik als Doppelstrategie mit europäischem Bewusstsein

Bei allem Bemühen um die Integration von Flüchtlingen, das noch große Schwächen erkennen lässt, haben wir die Integration des eigenen Volkes vernachlässigt. Die  Verantwortlichen haben die Sorgen und Ängste vieler Menschen nicht hinreichend ernstgenommen. Die Menschen in Deutschland wollen ohne Störfeuer ihre Heimatliebe leben. Sie sind mit ihrer Reiselust als weltoffen bekannt, aber die Weltoffenheit im eigenen Lande funktioniert nur mit der Durchsetzung der klaren Spielregeln unseres Rechtsstaates. Ein neues Wir-Gefühl in unserem Land hat nur eine Chance, wenn wir ein wirksames Regime schaffen, mit dem zweierlei gelingt:

  1. Es gilt endlich wirksam den Zustrom von Menschen auszubremsen, die in ihren Heimatländern für bessere Verhältnisse kämpfen sollten und bei uns keine Chance auf ein dauerhaftes Bleiberecht haben.
  2. Mit denjenigen, die legal im Lande leben, ist ein gutes Miteinander oder zumindest ein friedliches Nebeneinander zu schaffen. Dafür gilt es noch mehr Ehrenamtliche zu gewinnen. Und es bedarf mit tollen Vorbildern einer starken medialen Unterstützung, so dass auch bisherige Skeptiker, die sich in deutschnationale Duseleien verirrt haben, ihre Herzen öffnen. Denn richtig verstandene Weltoffenheit und Heimatliebe sind keine Widersprüche, sondern Wesenselemente europäischer Friedenspolitik.

Die EU ist von fundamentaler Bedeutung für die Wohlfahrt und den Frieden eines jeden Mitgliedslandes. Je vorbildlicher und engagierter die Staaten der EU jeweils im Innern wirken, umso stärker wirken die Segnungen der großen Gemeinschaft und der Schutz gegenüber Bedrohungen von außen. Nationale Egoismen, die die EU schwächen, sind Gift für den so wichtigen Gemeinschaftsgeist. Politische Bildungsarbeit sollte deshalb immer auch mit europäischem Atem gefühlt und gelebt werden.

Schlussfolgernd erkennen wir, dass die Generalstrategie zur Bewältigung der vor uns liegenden Herausforderungen folgende Erkenntnisse berücksichtigen muss:

  1. Wir brauchen viele Räume und Formate für Streitkultur, die darauf angelegt sind, kreativ und befriedend zu wirken.
  2. Die vom Volk gewählten Repräsentanten sind zu fordern, im Sinne der Herausforderungen zu liefern.
  3. Die relevanten staatlichen Institutionen haben einerseits ihre definierten Aufgaben qualifizierter wahrzunehmen und andererseits die Zivilgesellschaft aktiver zu unterstützen. In diesem Schulterschluss ist im Gegenstromprinzip in guter Kooperation eine Werteoffensive zu entwickeln, die medial und nachhaltig die Köpfe und Herzen der Menschen erreicht.
  4. Die sicherheits- und ordnungsrelevanten Institutionen sind so zu stärken, dass die Menschen die Wahrnehmung verlieren, es gäbe rechtsfreie Räume in unserem Land. Jegliches Unrecht muss zeitnah und wirkungsvoll geahndet werden.
  5. Die demokratischen Parteien und Regierungen sollten stärker mit parteilosen Brückenbauern kooperieren und nicht mit Günstlingswirtschaft parteipolitische Profilneurosen bedienen. Kreativ-Werkstätten sollen neue Ideen generieren, die dann auch umgesetzt werden.
  6. Politische Bildungsarbeit ist in Auswertung der Erfahrungen der Nachwendezeit neu zu erfinden. Dabei gilt es Ressentiments zwischen Ostdeutschen und Westdeutschen abzubauen. Dazu sollten insbesondere Schulen mittels neuer Partnerschaften ihren Beitrag leisten.
  7. Integrationspolitik muss konzeptionell so ausgerichtet werden, dass sie einerseits geflüchteten Menschen, die mit anerkanntem Aufenthaltsstatus bei uns leben, schnellstmöglich hilft, sprachlich und mit Arbeit integriert zu werden. Andererseits muss der einheimischen Bevölkerung geholfen werden, ihre Ängste abzubauen, indem Formen der Begegnung und Zusammenarbeit kreiert bzw. bekannter gemacht werden werden.
  8. Unsere Arbeit für mehr Wir-Gefühl muss den friedlichen und fröhlichen Geist einer vitalen Europäischen Union atmen. Dabei sollen alle relevanten gesellschaftlichen Kräfte mitwirken.
Über Joachim Brockpähler 2 Artikel
Nach seinem Studium der Politologie, Geschichte und Geographie in Münster, Freiburg/Br. und Köln, plädiert er als Patriot und Weltbürger für eine mediative Streitkultur. Der Autor hat seit seinem 18. Lebensjahr bei den Grünen, in der CDU und in der FDP reichhaltige parteipolitische Erfahrungen als „Jamaica-Koalitionär“ gesammelt. Jetzt analysiert er nach beruflichen Stationen in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion, der Staatskanzlei und dem Umwelt- und dem Innenministerium in Sachsen, als berufener Parteiloser und christlicher Gewerkschafter die gesellschaftspolitische Situation Deutschlands.