„Jedes Kunstwerk ist ein Augenblick“ (Th. Adorno) oder: „… alles Philosophieren ist ein Jonglieren mit Wolken.“ (H. Broch)

Der Schriftsteller Walter Benjamin hat einmal den Begriff der Metamorphose als „Wolkenwandelbarkeit der Dinge“ beschrieben. Dies trifft fürwahr einen zentralen Aspekt im Wesen der Wolken. Ein springender Delphin, ein Pinguin mit Hut oder ein drohender Kobold beim Glühweintrinken: Die bizarrsten Objekte treiben mitunter am Firmament, wenn man auf einer Sommerwiese liegt, den Blick nach oben richtet und seinen Gedanken freien Lauf lässt. Ihre Vielfältigkeit, ihr ständiger Wandel berühren die Seele und bringen uns zum Träumen. Ihr Widerspruch schafft Bewegung im Inneren, aber gleichzeitig strahlen sie auch eine große Ruhe aus. Möglicherweise ist es auch ihre innewohnende Wandelbarkeit und Flüchtigkeit, die sich auf keine bestimmte, endgültige Form festlegen lässt,. Wolken können zwar meteorologisch benannt werden, aber sind genau wie die Sprache nicht greifbar. So flauschig weich und greifbar eine Cumuluswolke auch erscheinen mag, man kann sie nicht berühren. Auch wenn sie uns aus dem Flugzeug betrachtet ein verführerisches Wattebett vor täuschen mögen. Von unten betrachtet erscheinen sie wiederum wie „eine gewaltige Himmelsfestung“.
So ist es nicht verwunderlich, dass diese Himmelsgebilde nicht nur den sommerlichen Wiesenmüßiggänger, den träumerischen Wolkengucker oder vielleicht noch die Meteorologen faszinieren, sondern auch immer wieder eine große Anziehungskraft auf Künstler jedweder Couleur ausüben. Wolken sind „sowohl Zufluchtsort als auch Präsentationsplattform“. Für Tobias G. Natter, der gemeinsam mit Franz Smola im Frühjahr/Sommer 2013 eine „Wolken-Ausstellung“ im Leopold Museum Wien kuratierte, sind sie „faszinierende Phänomene zwischen Erde und der Unendlichkeit.“ Das vorliegende Buch lässt diese leider nicht mehr real erlebbare Darreichungsform im Museumsquartier der österreichischen Landeshauptstadt noch einmal vor dem Auge des Lesers Gestalt annehmen.
Das vorliegende, schwergewichtige Buch präsentiert sich als „breit angelegte Untersuchung entlang der Schnittstellen von bildender Kunst, Naturwissenschaft und Populärkultur“. Wolkenbilder von 1800 bis heute werden dem Betrachter eindrucksvoll vor Augen geführt. Es beginnt mit der sprichwörtlichen „Erfindung“ der Wolken in Kunst und Wissenschaft und einem – „in bewusster Zäsur mit der religiösen Tradition“ – säkularen Blick auf das Wolkenphänomen. Danach werden in zwölf Kapiteln unterschiedlichste Interpretations- und Darstellungsweisen über zwei Jahrhunderte bis in die Gegenwart betrachtet. Ausgewählte Werke von William Turner, John Constable – dem wohl wichtigsten Wolkenmaler überhaupt -, Bilder von Caspar David Friedrich, den Malern der Romantik bis hin zu Adalbert Stifter und vielen anderen markieren den Auftakt. Die Wolkenfotografie findet genauso Eingang wie der „Himmel der Impressionisten“, Wolken als Ornament oder als Metamorphose, Wolkenkratzer bis hin zu den fiktiven Clouds oder den noch „nebulöseren“ Klangwolken. Aber auch die dunkle Seite des scheinbar Lieblichen wird aufgerollt: bedrohliche Gewitterwolken, düstere Industriewolken und auch die Ungeheuerlichkeit eines riesigen Atompilzes.
Neben vorzüglichen Texten, die jedem Kapitel vorangestellt sind, den weiterführenden und ergänzenden Essays oder Aufsätzen der Kunsthistoriker Werner Busch, Johannes Stückelberger und der österreichischen Schriftsteller Franzobel und Thomas Ballhausen besticht das Buch vor allem durch die in ausgezeichneter Qualität gedruckten Abbildungen. 323 Gemälde, Fotografien, Zeichnungen oder Drucke von Max Beckmann, Paul Cézanne, Gustav Klimt, René Magritte, Edvard Munch, Emil Nolde, Gerhard Richter, Egon Schiele und Andy Warhol, aber auch vielen weniger bekannten, bisweilen auch anonymen Künstlern gestalten dieses wunderbare Buch aus der „Welt des Flüchtigen“.
Fazit: Großartig ist es den Herausgebern in Bild und Text gelungen, die Vielfältigkeit, Faszination und immense Formenvielfalt von Wolken, aber gleichzeitig auch ihre Flüchtigkeit zu zeigen. Aber: „Je näher wir ihr kommen, desto undeutlicher wird sie, und wenn wir schließlich in ihr sind, dann sind wir am Anfang alles Lebens, im Nebel der Ursuppe“. Also warten wir auf die nächste warme Jahreszeit und schauen uns die Wolken lieber von unten an, entspannt auf der grünen Blumenwiese liegend. Oder beim Blättern in diesem wunderbaren Buch. Eines ist auf jeden Fall sicher: Irgendwo ziehen sie gerade vorüber, wie auch immer man sie benennen mag: Wolke, cloud, sky, nube, nuage, wolk, re, pilv, nuvola, debesis, chmura, nuvem, moln, mrak,bulut, felhö, ao, σύννεφο, سحابة, 雲, ღრუბელი…

Tobias G. Natter, Franz Smola (Hrsg.)
Wolken – Welt des Flüchtigen
Hatje Cantz Verlag Verlag (Oktober 2013)
368 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3775735887
ISBN-13: 978-3775735889
Preis: 39,80 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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