Die empiristische Philosophie von Gilles Deleuze ist in Deutschland bislang wenig rezipiert worden. Immer wieder wurde diesem postmetaphysischen Denker Obskurantismus und platter Nihilismus seitens seiner Kritiker vorgeworfen. Deleuze setze alle begrifflichen Regeln außer Kraft, stelle lediglich Spurenelemente, Verschiebungen, Differentes an den Anfang seiner Spekulationen und deshalb kulminiere sein Denken in einer Aufhebung der Philosophie als Wissenschaft. Dieser Vorwurf mag sicherlich zu einem Teil berechtigt sein und auf den späten Deleuze zutreffen, für den Deleuze von Differenz und Wiederholung und Logik des Sinns ist dieser Vorwurf unberechtigt, denn hier unternimmt er den Versuch einer kritischen Destruktion sowohl des Transzendentalismus Kantischer Prägung als auch des Empirismus von Hume. Anstelle von Transzendentalphilosophie und Empirismus setzt er seinen transzendentalen Empirismus, der den Kantischen Dualismus und den reinen Empirismus einer kritischen Analyse unterzieht. Statt einer repräsentierenden Einheit, durch die die lebensweltlichen Erscheinungen geordnet werden, setzt Deleuze die Differenz, die er aus dem Bannkreis von Identität und Negation zu befreien sucht. Die Lebenswelt, die Erkenntnis derselben, läßt sich nicht unter eine synthetische Einheit subsumieren, sondern zeigt sich als differentes Gebilde, das an die Stelle des Einen das All-Eine setzt, da die moderne Alltagswelt die der Simulakren ist. In dieser existiert kein universeller Code, sondern das „informelle Chaos“.
Die Umwelt oder Lebenswelt ist damit nicht gegeben, sondern befindet sich in permanenter Verschiebung, in einem zeitlichen Werdensprozeß, in einer ewigen Wiederkehr, sie hat es stets und ständig mit veränderten Ereignisketten, mit sich verändernden Qualitäten und Quantitäten zu tun; sie ist nicht monadisch erklärbar, sondern nomadisch, transversal, unsystematisch strukturiert und erzeugt permanent unerwartete Differenzen. In einer Philosophie der Differenz kulminiert daher der „Sinn des Seienden“, sie ist die transzendentale Voraussetzung um die Lebenswelt zu entschlüsseln, um sie in ihrer Mannigfaltigkeit auszuloten. Die konstitutive Differenz als „begriffloses Denken“ ist aber nicht nur die Voraussetzung begrifflichen Denkens, sie konstruiert erst die Begriffe, wie Deleuze in dem gemeinsam im Guattari verfaßten Werk Was ist Philosophie? von 1991 postuliert.
Die konstituierende Funktion, die der Differenz als „Immanenz“ zugrunde liegt, führt unweigerlich zu einer Genealogie des Wissens, zu einer Genesis des Begriffs, die unabschließbar ist. Die Frage, die sich dabei stellt, ist: Was bringt das Immanenztheorem für das Ich der modernen Lebenswelt? Was kann ein transzendenter Empirismus leisten?
In einem 2008 bei diaphanes erschienenen schmalen Buch wird sich dem Thema Deleuze wieder angenähert, auch dies geschieht nicht seitens des deutschen-akademischen Diskurses, sondern von zwei Kennern der französischen Tradition – Jean-Luc Nancy und René Schérer, zwei Emeriti, die in Frankreich höchstes Ansehen genießen. Nancy (geb. 1940) und Scherér (geb. 1922) sind Zeitzeugen, Schérer lehrte wie Deleuze an der Universität Paris 8 (Vincennes). Deleuze zu verstehen, so wird auch hier wiederum deutlich, ist schwierig, seine Texte entziehen sich dem Zugriff, sobald sich der Interpret ihnen nähert. Ouvertüren zuGilles Deleuze – unter diesem Titel liegen die sehr persönlich gehaltenen Versuche einer Annäherung an die Thematik Deleuze vor. Während Nancy vom Deleuze’schen Begriff der Falte ausgeht, um sich aus ganz anderer Sicht diesem Denken zu nähern, analysiert Schérer Deleuze als Lehrer, als einen, dem es primär um das Fragen geht, der Lernen als einen unabschließbaren Prozeß versteht, der sich stets und ständig konstituiert, zugleich auch wieder de- und reterritorialisiert. In dieser Öffnung eines ewigen Lernprozesses, der bei Deleuze selbst Ereignischarakter hat, sieht Schérer die gewaltige Kraft dieses Denkens, das sich nicht im statischen Wissen zu verbergen sucht, sich im Kognitiven einnistet, sondern permanent aus sich heraus treibt, permanent auf dem Weg zum Wissen ist, das sich in seiner Unendlichkeit ausfaltet, einfaltet und wieder von neuem anfängt. Mit dieser Offenheit des Lernens verfängt sich Deleuze, so Schérer, keineswegs in einem diffusen Lern- und Verstehensprozeß, sondern stellt die unermüdliche Arbeit des Denkens heraus, die sich an der Lebenswirklichkeit abarbeitet. Es sind die großen Fragen der Existenz, die den Fragenden vorantreiben, die ihn im Strudel des Fragens permanent zu neuen Öffnungen, Ereignissen und Rhizomen führen. Das Leben erweist dann tieferen Sinn, wenn es in dieser Offenheit steht, wenn es sein Wissen ständig auf neue Fragen hin entwirft. „Denn das Problem des Denkens ist eben die Erfindung von Gedanken, mehr als ihre Organisation in Propositionen und Urteilen, die man über sie fällt. (59) […] Das Lernen folgt dem Weg der Begegnungen und der Liebschaften – und nicht den Methoden einer stets ohnmächtigen Pädagogik ohne Leidenschaft“ (62). Deleuzes Philosophie war selbst ganz dieser Offenheit des Lernens verpflichtet, auch und gerade dort, wo er sich der Geschichte der Philosophie zuwandte. Für ihn galt es nicht die unendlich oft gestellten Fragen der abendländischen Geistesgeschichte aus dem Kontext ihrer geistigen Väter zu ergründen, sondern an den Randstellen, an den Falten und an den Brüchen ihres Denkens weiterzudenken, lernen als Differenzierung des Wissens, als Weiterdenken oder zumindest Weiterfragen. Seine Schriften zu berühmten Philosophen, sei es zu Spinoza, Kant, Nietzsche, Bergson und Foucault sind dieser Offenheit des Lernprozesses gewidmet. All diese Werke sind keine Biographien, sondern originäre Leistungen eines weiterführenden Fragens. Die Offenheit des Denkens – dies ist es, was wir von Deleuze lernen können, und wozu uns das Buch von Nancy und Schérer eine schöne Anleitung gibt.
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