Die dramatischen Ereignisse in Japan, minütlich nahegebracht durch die modernen Medien, scheinen erste Auswirkungen auf hiesige Debatten zu haben: Jene Stimmen werden wieder laut und lauter, die einen sofortigen Ausstieg aus der Atomenergie fordern. Der Schwall der Erregung ist offenbar so stark, dass sogar aus Regierungskreisen bereits eine Aussetzung der Laufzeitverlängerung für die deutschen Atomkraftwerke in Aussicht gestellt wird.
Aktuell befasst sich mit dieser Frage auch das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Genauer geht es dabei darum, ob der von der Regierung durchgeboxte Kompromiss der Laufzeitverlängerung auf verfassungskonforme Weise zustande gekommen ist. Dieselbe Regierung, die sich aktuell einer Klage ausgesetzt sieht, will nun angesichts der Katastrophe in Japan und eines möglicherweise heraufziehenden Sturms in der Bevölkerung von selbst einen Rückzieher machen.
Ob die Verlängerung der Laufzeit der deutschen Atommeiler rational ist oder nicht, ist eine Frage, die sich angesichts der politischen Grabenkämpfe und Debatten nur schwer beurteilen lässt. Experten haben jedoch darauf hingewiesen, dass die fehlenden Kapazitäten aus Atomstrom kurz- und mittelfristig mit Strom aus Kohlekraftwerken überbrückt werden müssten. Außerdem ist zu bemerken, dass die halbe Welt (u.a. USA, Frankreich, Japan und China) weiterhin oder sogar verstärkt auf Kernenergie setzt. Der sofortige Ausstieg wäre also in jedem Fall ein neuer „deutscher Sonderweg“ inmitten einer globalen Prävalenz der Kernenergie. So gesehen spricht einiges dafür, dass der Atomausstieg tatsächlich verfrüht wäre – und die Entscheidung nicht bloß jene lobbyistische Konzession an die Energiekonzerne, als die sie gebrandmarkt wurde.
Andererseits wäre das idealistische Voranschreiten der viertgrößen Volkswirtschaft der Welt in Sachen Energie ein nicht zu unterschätzendes Fanal für die sogenannte „Weltgemeinschaft“. Dies ist wohl auch der Grund für die allseitige Entrüstung und den Gang nach Karlsruhe – dass die Regierung im Begriff ist, eine einmalige Chance zu verpassen, um Zeichen zu setzen für eine lebenswerte, zukunftsfähige Gesellschaft.
Wenn nun also– und danach sieht es zur Stunde aus – die politische Stimmung in Deutschland kippen wird und der Ausstieg aus dem Ausstieg aus dem Atomausstieg kommt, so mag dass die richtige oder die falsche Entscheidung sein. Was einzig fest steht, ist ihr irrationales Zustandekommen: Denn erst die diffuse, auf weite Teile der Bevölkerung und der Politik überspringende Angst vor dem Japan-GAU führt nun vielleicht dazu, eine Entscheidung zu revidieren, die offenbar bisher nicht ausreichend gerechtfertigt werden konnte und deshalb der Mehrheit der Bevölkerung irrational erscheint.
Was dabei übersehen wird – „Angst ist ein schlechter Ratgeber“, sagt ein Sprichwort –, ist die geringe Parallelität zwischen dem japanischen Ereignis und unserer Lage. Die Wahrscheinlichkeit eines solch starken Erdbebens, begleitet von einem Tsunami, tendiert für Deutschland gegen Null. Die Katastrophe in Japan sollte uns also zwar menschlich berühren und im Idealfall zu spontaner Hilfe veranlassen, aber ihr sollte rationalerweise kein Einfluss auf die Entscheidung pro oder contra Atomkraft verstattet werden. Überdies wird etwa das Problem der Endlagerung von der Frage nach dem Gefahrenpotential eines laufenden Atommeilers gar nicht tangiert.
Es ist letztlich ein armseliges Bild von Politik, das sich hier abzeichnet: Die Sorge um Nachhaltigkeit und der Wunsch nach einer zukunftsfähigen Gesellschaft werden geflissentlich ignoriert, die eigene Unsicherheit und Angst jedoch umstandslos auf das Volk projiziert. Im besten Fall ließe sich die Funktionsweise deutscher Politik in der Energiefrage noch in Anlehnung an eine Regel aus der Mathematik illustrieren. So wie minus mal minus plus ergibt, so – bleibt zu hoffen – ergibt irrational plus irrational vielleicht rational.
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