Ende der Vierziger, Anfang der fünfziger Jahre war Fürnberg als Kututurattaché der ČSR mehrfach mit einer „Nuckelpinne“ (einem Škoda) in der DDR unterwegs, so in Naumburg und Jena – nicht selten auf den Spuren der Hussiten.
Sieben Jahrzehnte später, Ende Juni 2021 war der slowakische Botschafter Marián Jakubócy in Alt-Lobeda zu Gast. An einen Ort war er gekommen, der für die Slawen, namentlich für die Slowaken, von besonderem Interesse ist. Als der Gast in seiner Limousine von der Autobahn aus nur Neubaublöcke sah, war er verdutzt, zunächst enttäuscht. Enttäuscht war er auch, da der Oberbürgermeister Jenas den höchsten Repräsentanten eines des EU-Landes in der Bundesrepublik nicht begrüßt hatte. Dies überließ er dem Ortsteilbürgermeister. Als der Diplomat mit einem Blumengebinde vor dem alten Pfarrhaus stand und die Kollár-Tafel erblickte („Slowakischer Dichter / Jenaer Student“), kam Freude auf. Ursprünglich (seit 1983) stand dort zu lesen: „Zur Erinnerung / an den slowakischen Dichter JAN KOLLAR, / der als Jenaer Student 1817/1819 FRIEDERIKE SCHMIDT, / das Urbild der Slavy Dcera / kennen und lieben lernte.“ Auch den Gedenkstein für den Dichter (1984 geweiht) sowie das historische Gasthaus „Zum Bären“ bekam der Botschafter zu Gesicht. **(TLZ, 29.6.21)
Der slowakische Gelehrte und romantische Dichter genießt in seiner Heimat bei manchem Literaturfreund den Ruf wie ihn Goethe für die Deutschen hat. Einige der Arbeitsfelder Ján Kollárs seihen hier genannt: Er sammelte slowakische Volklieder, er erforschte die slowakische und tschechische Sprache. Seine Sprachstudien waren ein wesentlicher Beitrag zu slawischen „Wiedergeburt“. Kollárs Ideen zum Panslawismus, die sich auf Beispiele der Kunst und Literatur bezogen, fügte er in seinem Hauptwerk „Sláva dcera“ („Die Tochter der Slava“) zusammen, das in der letzten Fassung 615 Sonette umfasste.
Der Ort Lobeda wurde von Slawen nicht selten mit Sessenheim (Goethes schrieb Sesenheim) verglichen: Liebten die beiden jungen Dichter doch jeweils eine Pfarrerstochter mit dem Vornamen Friederike – und dies am Rande einer größeren Stadt.
Der slowakische Theologiestudent hatte im Frühjahr 1818 übergangsweise die Sonntagspredigten in Lobeda gehalten. Er verliebte sich in die hübsche Tochter des schwerkranken Vaters. Nach dessen Tode bot man dem Vertreter dauerhaft die Pfarrstelle in Lobeda an. Sollte er sich 1819 für sein privates Glück und die „kleine“ Pfarrstelle mit „Philister Abschluss“ oder für seine Mission entscheiden? Er schlug den schwereren Weg ein, den der Rückkehr in die Heimat, die noch zu Ungarn gehörte: „Ich bin kein Deutscher, ich bin ein Slowake …ich will meine schwachen Kräfte und mein Leben meinem vernachlässigten und ungebildeten Volke opfern.“ (** Steiger,161)
Die biedere Pfarrerswitwe wollte unter keinen Umständen, dass ihre 24-jährige Tochter mit dem zwei Jahre älteren, armen Pfarrer in das weitentfernte „Ungarn“ ging. Sechszehn Jahre waren die Liebenden getrennt. Erst 1834 kamen sie wieder zueinander und heirateten ein Jahr später in Weimar. Bis zu Kollárs Tod im Jahre 1852 führten sie eine glückliche Ehe. In Wien hatte Ján Kollár bis an sein Lebensende eine Professur für slawische Altertumskunde inne.
Kollár hatte in Jena begriffen, wie wichtig es ist, dass unterjochte Völker ihre Peiniger besiegen müssen, um ihre Souveränität zu erlangen. Sein wesentlicher Jenaer Lehrer war der Historiker Professor Heinrich Luden. Quellen belegen, dass der wissbegierige Student 1817 am Wartburgfest teilnahm. Sein Lehrer gilt bis heute als spiritus rector dieser Veranstaltung. Luden wiederum hat betont, dass er von seinem – später berühmten Schüler – wesentlich Anregungen erhielt, um die Geschichte der slawischen Völker, ihre Kultur und Literatur zu begreifen. 1835 wird Luden einen einstigen Studenten seinen „slawischen Lehrer“ nennen.
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Mir ist nicht bekannt, dass Louis Fürnberg – auch nicht als Diplomat der ĆSR (1949-1952) – in Lobeda, dem Städtchen am Rande Jenas, weilte. Die Spuren des wohl wichtigsten Brückenbauers zwischen der slawischen und der deutschen Literatur und Kultur im des 19. Jahrhundert verfolgte Fürnberg in jenen frühen Jahren nicht unmittelbar, nicht im topographischen Sinne. Zur Einordnung des Sachverhalts sei ergänzt, dass die Jenaer Universität selbst erst sehr spät damit begann, sich öffentlich des berühmten Slowaken zu erinnern. Dies begann erst in den frühen achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts.
Als ein Mittler zwischen den Kulturen hat sich auch Fürnberg ein Leben lang verstanden.
In seinem Nachwort zu einer volkstümlichen tschechischen Ausgabe des „Faust- Erster Teil“ kommt Fürnberg 1953 zum wiederholten Male auf Goethes Affinität zu slawischen Literaturen zu sprechen. Umgekehrt zeigt er, wie sehr sich Übersetzer, Theater und Forscher aus slawischen Ländern für Goethe interessierten. „Zu den berühmten Geistigen der slawischen
Völker, die Goethe persönlich nähertraten, gehören Jan Kollár und Purkyné.“ Fürnberg weist darauf hin, dass Kollár Gedichte von Goethe übersetzt hat. (**Werke 5, 235)
Der slowakische Student hat Goethe in Jena (wohl am 17. November 1817) und ein Jahr später in Weimar besucht. Der Weimarer Geheimrat hielt den Besucher für einen Ungarn. Kollár korrigierte: „Herr, ich bin ein Slowake oder wenn sie wollen, ein Slawe…“ Für Goethe beschaffte Kollár slowakische Volkslieder und übertrug einige davon ins Deutsche. Rückblickend sagte der slowakische Pfarrer über Goethe. „Ich würde alles diesem Mann verzeihen, aber daß er in Sesenheim, eine unschuldige Seele, Friederike Brion, eine Pastorstochter, zuerst unglücklich machte und sie dann sitzen ließ und in Verzweiflung stürzte, das lag mir immer schwer am Herzen.“ (**Vgl. Schaumann, 93, S.52)
Es ist folgerichtig, dass Jan Kollar in Fürnbergs umfangreicher Erzählung „Begegnung in Weimar“ 1952 einen besonderen Platz erhält. Schildert dieser Text doch ein deutsch-slawisches Dichtertreffen auf höchster Ebene. Zum 80.Geburtstag Goethes begegnen sich im August 1829 der Jubilar und der spätere polnische Nationaldichter Adam Mickiewicz. In einer Szene vor dem „Gipfeltreffen“ heißt es:
„Der Salon war von zahlreichen Menschen erfüllt. Mickiewicz machte die Bekanntschaft des Historikers Luden, dessen, ,Geschichte des Mittelalters‘ er mit Genuß gelesen hatte. Der in Jena wirkende Gelehrte war ein Mann anfangs der Fünfzig, er wehrte bescheiden das Lob ab, mit dem ihn Mickiewicz überschüttete. Mickiewicz‘ Name war ihm keineswegs fremd, wenn er auch gestand, noch nie etwas von ihm gelesen zu haben. Mickiewicz stieß sich durchaus nicht daran, er meinte nur lächelnd, es wäre ihm vielleicht deshalb doch lieb gewesen, um sich dem verehrten Autor des berühmten Geschichtswerkes besser legitimieren zu können. Luden erwiderte, dass es dessen nicht bedürfe, im übrigen sei er der mannhafte Vorkämpfer der ebenso edlen wie unglücklichen polnischen Nation bei einem alten Freunde der slawischen Völker genügend legitimiert. ,Ein alter Freund‘ wiederholte Luden mit größter Wärme und erzählte von dem innigen Verhältnis, das ihn mit einem ehemaligen Schüler verknüpfe, einem inzwischen gleichfalls berühmt gewordenen Kämpfer für die Ideale der Slawenvölker, mit dem Slowaken Jan Kollár, dem Dichter des Sonettenkranzes ,Die Tochter Slávas‘. Dieser sei es gewesen, der ihm für die heroische Vergangenheit und die ruhmreiche Geschichte der Slawenvölker erst die Augen geöffnet und sie bewundernd zu verfolgen gelehrt habe. Mickiewicz freute sich dies zu hören, er bedauerte die Bekanntschaft Kollárs gelegentlich seines kürzlichen Aufenthaltes in Böhmen nicht gemacht zu haben, sosehr er es gewünscht hätte. ,Es ist doch wunderbar‘, sagte er mit unverhohlenem Stolz zu Luden, ,wie es allenthalben Blüten treibt, wie an unserem Baume junge Knospen hervorbrechen.“ Luden sah ihn freundlich an. ,Es ist bemerkenswert‘, sagte er. ,Ich wollte es fände sich der gleiche selbstlose nationale Enthusiasmus auch bei unseren Menschen – im ganzen nicht nur im einzelnen, wie es leider bisher der Fall war.“
Im Umfeld seiner Goethe-Erzählung kommt Fürnberg nochmals auf Heinrich Luden zu sprechen. Dabei gibt er einen Blick in seine Schreibwerkstatt frei. „Übrigens stehe ich in bezug auf den Jenenser Historiker Luden, der ein Lehrer Kollárs war, ganz im Gegensatz zu Nejedlý. Nejedlý (ein tschechischer Gelehrter und Politiker – U.K.) macht in seiner Kollár-Broschüre (die er gemeinsam mit Alexander Fadejew geschrieben hatte – erschienen 1952 in Prag – U.K.) zu einem Reaktionär. Das ist falsch. Ich glaube, Nejedlý hat übersehen, was Kollár selbst in seinen Jugenderinnerungen von Luden erzählt. Freilich scheint es damit zusammenzuhängen, daß Nejedlý zu der Zeit, als er seine Kollár-Broschüre schrieb, die Bedeutung der Freiheitskriege gegen Napoleon in Deutschland unterschätzte.–“ (**Briefe I,556)
Fürnberg hatte bis ans Ende seiner Tage Pläne. Im Februar 1956 machte er seinem Prager Freund, dem tschechischen Dichter, Übersetzer und Chefdramaturgen des Rundfunks in Prag, Valter Feldstein, einen Vorschlag. Dieser zeigt, dass Kollár in Fürnbergs Denkhorizont ständig präsent war: „Ich würde vorschlagen, daß das tschechoslowakische Radio auch in Jena eine Reportage machen sollte, und zwar auf Grund der Beziehungen, die zwischen den deutschen Klassikern und den tschechischen und slowakischen bestanden. Du weißt ja auch, daß man zwischen Jena und Weimar sehr schön den Spuren Ján Kollárs folgen kann. Seine Frau, die Heldin seiner Sonette, liegt in Weimar begraben, und er lernte sie in der Nähe Jenas kennen. Sein ‚Jugenderinnerungen‘ erzählen überhaupt viel vom alten Jena und von der Weimarer Goethe-Zeit.“ (** Briefe II, 229)
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Auf dem Historischen Friedhof in Weimar liegt, wie gesagt, die 1871 verstorbene Ehefrau des Dichters und Gelehrten begraben – unweit der Goethe-Schiller-Gruft. „Das stille Grab des Mädchens aus Lobeda, das als ‚Mina‘ und ,Tochter der Sláva‘ eine Gestalt der Weltliteratur wurde“ ist heute fast vergessen. (*Steiger,162) Der „Führer“ für den Historischen Friedhof nennt das Grab der Pfarrerstochter bei dem vorgeschlagenen „Rundgang“ 2005 nicht.
Einer kannte Friederike Kollár genauer und er führte seine Gäste – vor allem die aus der Tschechoslowakei – stets an ihr Grab: Es war der Dichter Louis Fürnberg.
Warum, kann man fragen, hat Louis Fürnberg die Romanze der Liebe zwischen Friederike Schmidt und Ján Kollár niemals geschrieben? Private steht hier in einem großen kulturgeschichtlichen Kontext. Der Historiker Günter Steiger, Kustos der Jenaer Universität, hat diese Geschichte in der Geschichte, diese „Romanze der Liebe in Lobeda“, faktengestützt und spannend erzählt. (** Steiger, S. 157-162)