1. Auszüge aus Fries‘ Lebensbild
Sein Standbild steht am Fürstengraben, zwei Philosophenschulen beriefen sich auf seine Lehren, berühmte Mathematiker und Naturwissenschaftler nahmen Stellung zu seinen Werken und doch ist sein Name verhältnismäßig wenig bekannt: Jakob Friedrich Fries. Wer war Jakob Friedrich Fries und was machte seine Philosophie gerade für Mathematiker und Naturwissenschaftler so attraktiv?
Jakob Friedrich Fries wurde am 23. August 1773 in Barby an der Elbe geboren. Da Fries‘ Vater aufgrund seiner vielen Reisen wenig Zeit hatte, gab er seine beiden Söhne, deren ältester Jakob Friedrich war, 1778 in die Herrnhutischen Lehranstalten in Niesky. Aus dieser Zeit weiß Jakob Friedrich zu berichten: „Durch die mathematischen Studien erhielt ich das feste Maß von Sicherheit und Gewißheit, welches nachher auch in philosophischen Dingen meinem Geiste die Richtung gab.”[1]
Fries kam im Herbst 1792 an das theologische Seminar in Niesky, daß er in drei Jahren durchlief. Dort erhielt er erste Anregungen, Kant zu studieren. Die Lektüre der Kantschen Werke verschaffte ihm erstmals in der Philosophie eine tiefe Befriedigung. Die Begeisterung für Kant ist sicherlich auch in erheblichem Maße aus der Art und Weise heraus zu verstehen, in der Kant seine Philosophie auf einleuchtende Sätze gründet, was in analoger Weise auch in der Mathematik geschieht: „Das war eine andere Art zu philosophiren, als ich sie noch nirgendwo gefunden hatte; hier war, wie in der Mathematik, bestimmte und einleuchtende Wahrheit zu finden.”[2] In dieser Zeit las er auch Jacobis Romane sowie Werke der erwachenden klassischen deutschen Literatur, insbesondere Schillers Arbeiten. Fries löste sich von den Herrnhutern und kam 1795 an die Leipziger Universität, um Rechte zu studieren. Während seiner Leipziger Zeit wurde er mit Fichtes Philosophie bekannt. Schließlich siedelte er im Herbst desselben Jahres nach Jena über, um selbst bei Fichte zu hören, war aber schon bald darauf mit ihm fertig.
Während seiner ersten Jenaer Zeit -im Jahre 1796- wurde Fries mit dem Chemiker Scherer bekannt, der sich für die Chemie von Lavoisier begeisterte. Fries entdeckte auf Scherers Anregung hin das Gesetz der stöchiometrischen Reihen. Da er merkte, daß er noch nicht so bald zu fertigen Resultaten seiner geistigen Arbeit kommen würde, zog er sich als Hauslehrer nach Zofingen (in der Schweiz gelegen) zurück. Dort arbeitete Fries an seinem kritischen Hauptwerk und studierte Newtons „Philosophiae naturalis principia mathematica”. Er blieb zeitlebens ein großer Bewunderer Newtons, den er als Vollender der Astronomie lobte. Den Endzweck seiner mathematischen Naturphilosophie sah Fries in der Vereinigung von Newtons Mathematik mit Kants Philosophie.
Mit dem Ziel als Dozent aufzutreten, kehrte er 1800 nach Jena zurück. Fries wurde nun durch eigenständige Schriften wie „Reinhold, Fichte, Schelling”, „System der Philosophie” bekannt. Zu Reinhold , Fichte, Schelling und Hegel äußerte er sich oft in recht unsanfter Weise. Die Schellingsche Philosophie kritisierte er, weil sie bei der Anwendung auf „äußere Naturlehre” keinen Gebrauch von mathematischen Methoden mache, stattdessen verwende sie sehr unbestimmte Begriffe. In einem vertraulichen Brief äußerte er sich über Schelling: „In Schelling ist die philosophirende Vernunft rein toll geworden; kümmere dich auf mein Wort um den Bettel gar nicht; er ist wieder hier und wird täglich alberner.”[3]
Auch das Verhältnis zwischen Hegel und Fries war sehr gespannt. Es finden sich bei Hegel nur sehr wenige, abschätzige Bemerkungen über Fries. So ist von „der Seichtigkeit seiner Wissenschaft”[4] und von „äußerster Borniertheit, die großtut”[5] die Rede. Auf der anderen Seite hat sich auch Fries nicht gerade wohlwollend über Hegel geäußert. Davon zeugen Schriften wie „Nichtigkeit der Hegelschen Dialektik” (1828). In seiner Geschichte der Philosophie schreibt er u.a.: „uns scheint dagegen deine Kunst zu philosophieren nur die Kunst, den Unsinn auf den kürzesten Ausdruck zu bringen.”[6] Dennoch setzt sich Fries gerade in diesem Werk sehr sachlich mit Hegel auseinander. Fries kritisiert u.a. das Hegelsche Geschichtskonzept, weil er der Auffassung ist, daß Hegels „unglücklicher Notwendigkeitsaberglaube”[7] das Spiel verdirbt.
Im Jahre 1805 wurde Fries als Professor für Philosophie nach Heidelberg berufen. In seine Heidelberger Zeit fällt die Heirat mit Caroline Erdmann. Er schloß in dieser Zeit Freundschaft mit de Wette und Jacobi. Jacobi gehört zu den Zeitgenossen Fries‘, die ihn besonders stark beeindruckten. Während seiner Heidelberger Zeit entstanden die „Neue Kritik der Vernunft” und sein Roman „Julius und Evagoras”.
Im Jahre 1816 kehrte Fries nach Jena zurück. Als 1817 das Wartburgfest stattfand, befand sich Fries unter den Gästen. Er hielt unvorbereitet eine kleine Rede auf der Wartburg. Das Jahr 1819 war für Fries das sogenannte „tolle Jahr”. Seine Frau Caroline starb. Der Student Karl Sand, ein ehemaliger Hörer von Fries, erdolchte den Schriftsteller und Rußlandspion Kotzebue. Aufgrund eines entstellten Briefes mit politischem Inhalt erhielt Fries Lehrverbot für Philosophie. Er bekam dennoch eine Professur für Physik und Mathematik. Erst nach Jahren und unter beschränkten Umständen durfte er auch wieder Philosophie lesen. Von politischer Einflußnahme war Fries nun ausgeschlossen. Den Rest seines Lebens widmete er sich wieder philosophischen und physikalischen Studien. Es entstanden die „Psychische Anthropologie” (1820/21), die „Mathematische Naturphilosophie” (1822), die „Geschichte der Philosophie” (1837/40).
Fries erlitt am Neujahrstag 1843 einen Schlaganfall und am 10. August 1843 einen zweiten, der seinem Leben ein Ende setzte.
2. Das Fries’sche Werk
Fries hat ein äußerst reichhaltiges Werk hinterlassen. Die Universalität seines Denkens verrät bereits ein Blick auf die von ihm bearbeiteten Themengebiete. Zu diesen gehören: psychische Anthropologie, Psychologie, reine Philosophie, Logik, Metaphysik, philosophische Rechtslehre, Ethik, Politik, Religionsphilosophie, Ästhetik, Naturphilosophie, Mathematik, Physik, medizinische Themen – davon zeugt z.B. die Schrift „Ueber den optischen Mittelpunkt im Auge nebst allgemeinen Bemerkungen über die Theorie des Sehens” – , Geschichte der Philosophie und popularphilosophische Schriften, zu denen der Roman „Julius und Evagoras” und die Arabeske „Sehnsucht und eine Reise ans Ende der Welt” zählen.
Am Anfang seiner Philosophie steht die psychische Anthropologie. So schreibt er: „Also darin besteht unser Vorschlag für die Philosophie, daß wir alle unsre Erkenntnisse erst einer solchen anthropologischen Beobachtung unterwerfen wollen, ehe wir über ihre Wahrheit und Tauglichkeit zu urtheilen wagen… . Unsre Untersuchung beginnt auf dem vorsichtig zu wählenden Standpunkt der empirischen Psychologie………wo wir aber doch nicht……stehen bleiben.”[8]
Für das Studium seines Werkes gibt Fries folgenden didaktischen Hinweis: „Will jemand nach diesem Leitfaden die Philosophie studiren, so rathe ich nach der psychischen Anthropologie ein strenges Studium der Logik folgen zu lassen, hierauf die Metaphysik und die angewandten Lehren schneller durchzulesen , nunmehr das strenge Studium der Kritik folgen zu lassen und nach demselben noch einmal genauer an die Metaphysik und die angewandten Lehren zurück zu gehen.”[9] Zur angewandten Philosophie gehören Schriften zur Rechtslehre, Ethik, philosophische Staatslehre, Religionsphilosophie.
3. Fortsetzung des Fries’schen Werkes durch die Fries’schen Schulen
Besonders aufgrund der großen Wertschätzung der Mathematik fand Fries‘ Philosophie bei Naturwissenschaftlern und Mathematikern große Beachtung. Anhänger der Fries’schen Schule waren deshalb in erster Linie Naturwissenschaftler und Mathematiker. Zu ihnen gehören der Biologe Schleiden, der mathematisch-naturwissenschaftlich versierte Philosoph Apelt, der Zoologe Schmidt, der Mathematiker Schlömilch. Zwischen den Jahren 1847 und 1849 erschienen die Abhandlungen der Fries’schen Schule. Die Herausgeber schreiben im Vorwort: „Jede Philosophie, die mit den exakten Wissenschaften übereinstimmt, kann wahr sein , jede, die diesen widerstreitet, muß notwendig falsch sein. Wir wissen aber, daß die Kantisch-Friesische Philosophie, und nur diese allein, diese Probe der Wahrheit bestehen kann.”[10]
Die Geschichte der Neufries’schen Schule beginnt im Jahre 1903. In diesem Jahr sammelte Nelson in Göttingen um sich einen kleinen festen Diskussionskreis. Zu den Gründungsmitgliedern dieses Kreises gehören: Rüstow, Brinkmann und Goesch. Im Jahre 1904 reisten Nelson, Rüstow, Goesch und der Student Mecklenburg nach Thüringen, um verschollene Fries-Schriften ausfindig zu machen. Noch im selben Jahr gaben Hessenberg, Kaiser und Nelson das erste Heft des ersten Bandes der „Abhandlungen der Fries’schen Schule, Neue Folge” heraus.
Die Schule hatte sich zum Ziel gesetzt, verschollene Fries-Schriften aufzusuchen, sie durch Wiederveröffentlichung bekannt zu machen und sich mit der Fries’schen Philosophie auseinanderzusetzen. Die Mitglieder des Kreises trafen sich regelmäßig zu Diskussionen im kleinen Kreis in Nelsons Wohnung in Göttingen. Zusätzlich fanden, meist während der Semesterferien, größere Tagungen statt. Als Redner traten auf: O. Apelt, Berg, Bernays, Fraenkel, Grelling, Hessenberg, Kronfeld, Meyerhof, Nelson, Otto.
Am 1. März 1913 wurde die Jakob Friedrich Fries-Gesellschaft gegründet. Während sich die Fries’sche Schule weiter wie bisher mit der Weiterentwicklung der Kant-Fries’schen Philosophie beschäftigte, übernahmen die Mitglieder der Jakob Friedrich Fries-Gesellschaft die Verbreitung der Publikationen der Fries’schen Schule. Mai/ Juni 1914 war beiden Organisationen die letzte gemeinsame Tagung vergönnt. Der Ausbruch des 1. Weltkrieges bedeutete einen großen Einschnitt. Etliche Mitglieder kamen im Krieg um. Andere kehrten als Krüppel oder anderweitig geschädigt zurück. Die erste Tagung fand erst wieder 1919 statt. Es folgte eine weitere Tagung 1921. Eine so intensive Arbeit wie zwischen 1903 und 1914 war jedoch nicht mehr möglich.
Im Oktober 1927 verstarb Nelson. Oppenheimer, Meyerhof und Specht begannen 1927 mit der Herausgabe des 5. Bandes. Auch der 6. Band erschien noch, obwohl die Herausgeber aus Deutschland emigrieren mußten.[11]
4. Über die mathematischen Naturphilosophie
Im Jahre 1822 erschien Fries‘ „mathematische Naturphilosophie”. Fries knüpft unmittelbar an Kants „Metaphysische Anfangsgründe der Naturwissenschaft” sowie an die naturphilosophischen Arbeiten von Kepler, Newton, Leibniz und an die der französischen Mathematiker Lagrange, Lacroix, Legendre, Lalande, Laplace, Arago u.a. an. Die spekulative Naturphilosophie seiner Zeit – vor allem die Schellingsche Naturphilosophie – weist er zurück. Eine auf diese Philosophie gegründete Naturlehre sei eher durch die kombinierende Methode gekennzeichnet, die bei der Sammlung, Zusammenstellung und Anordnung von Erfahrungstatsachen stehenbleibt.
Allein eine mathematische Naturphilosophie könne auch die notwendigen Erklärungsgründe liefern. Das grundlegende Diktum der mathematischen Naturphilosophie lautet: „es müssen sich alle physikalischen Theorien auf rein mathematisch bestimmbare Erklärungsgründe zurückführen lassen.”[12] Fries ist der Auffassung, daß Wissenschaft nur durch Unterordnung der beobachteten Tatsachen unter allgemeine mathematische Gesetze Vollständigkeit erlangen kann.[13] Die Wissenschaft bestehe aus zwei Stufen:
1. empirische Beobachtung
2. Unterordnung der beobachteten Tatsachen unter allgemeine Gesetze
Dreh- und Angelpunkt der Fries’schen Naturphilosophie ist der Gedanke, daß die Mathematik für die Naturwissenschaft fruchtbar gemacht werden muß. Jedoch stellt die reine Mathematik eine leere Abstraktion dar. Um sie auf die sinnliche Welt anwenden zu können, bedarf es noch eines vermittelnden Gliedes. Die Mathematik muß mit der Metaphysik verbunden werden. Daraus ergibt sich die reine Bewegungslehre. Diese besteht in drei Abstufungen:
1. Lehre von der geometrischen Bewegung
2. Lehre von der phoronomischen Bewegung
3. Lehre von der dynamischen Bewegung
Die Philosophie Fries‘ fand u.a. bei Gauß große Anerkennung. Fries erbat sich Gauß‘ Meinung zu seiner Arbeit „Versuch einer Kritik der Prinzipien der Wahrscheinlichkeitsrechnung”. Gauß nahm auch Stellung zur „mathematischen Naturphilosophie” und zu Fries‘ „Geschichte der Philosophie”. In seinen Briefen würdigt Gauß die Fries’sche Philosophie. So schreibt er an Fries: „Ich habe von jeher große Vorliebe für philosophische Spekulation gehabt, und freue mich nun um so mehr, in Ihnen einen zuverlässigen Führer bei dem Studium der Schicksale der Wissenschaft von den ältesten bis auf die neuesten Zeiten zu haben, da ich bei eigner Lektüre der Schriften mancher Philosophen nicht immer die gewünschte Befriedigung gefunden habe.”[14]
In der Literatur wird mitunter behauptet, daß Fries‘ Ablehnung des Aktual-Unendlichen auch die Gauß’schen Ansichten bezüglich des Unendlichen beeinflußt haben könnte. Die Herausgeber der Fries-Werke machen hierzu folgende Anmerkung: „Es ist nicht unwahrscheinlich, daß diese alte aristotelische These: Das Unendliche gibt es nur im `Modus der bloßen Möglichkeit und im Rahmen des Ausschöpfungsverfahrens‘, die ja bei der Bewältigung `moderner‘ Grundlagenproblematiken wieder zu Ehren gekommen ist, über Fries an Gauß vermittelt wurde.”[15] Diese Interpretation entstammt einer Briefstelle von Gauß, ihr ist aber z.B. schon in den 20er Jahren von A. Fraenkel energisch widersprochen worden.
Auch die Neufries’sche Schule setzte sich intensiv mit den philosophischen Problemen der Mathematik auseinander. Zahlreiche Mathematiker des 20. Jahrhunderts würdigten Fries‘ Philosophie der Mathematik. Zu ihnen gehören Bernays, Hilbert, Hessenberg, Heyting. Ausgangspunkt der neuen Fries-Rezeption war der Nelson-Artikel „Die kritische Methode und das Verhältnis der Psychologie zur Philosophie”, der 1904 erschien. Fries geht – ebenso wie Kant – davon aus, daß die Sätze der Mathematik synthetisch a priori sind. Er gibt Kants Kritik der Vernunft eine anthropologische Wendung, indem er sich von der Vorstellung leiten läßt, daß man auf psychologischem Wege untersuchen könne, welche Erkenntnisse a priori wir besitzen und wie diese beschaffen sind. D.h. also, daß wir unsere Erkenntnisse a priori auf empirischem Wege erkennen können.
Nelson hat deutlich auf die Analogie zwischen Fries‘ Deduktion und der modernen Metamathematik hingewiesen. Man kann Nelsons Überlegung stark vereinfacht wiefolgt wiedergeben. Fries versteht unter Deduktion die „Aufweisung der dunkel in uns liegenden nur durch Reflexion zum Bewußtsein kommenden, metaphysischen Grundsätze in der unmittelbaren Erkenntnis.”[16] Nach Fries ist es die Aufgabe der Reflexion, „die in uns liegenden, unbewußten, dunklen Vorstellungen und Tätigkeiten – das sind aber gerade die wichtigsten, allgemeinen Gesetze und a priori’schen Elemente – als in unserer unmittelbaren Erkenntnis vorhanden nachzuweisen”[17] Damit wird eine Trennung von Inhalt einer bestimmten Wissenschaft -bei Fries geht es nur um die Metaphysik- und dem Gegenstand der kritischen Untersuchung vollzogen. Der Inhalt einer Wissenschaft kann also zugleich Gegenstand der Kritik sein. In analoger Weise trennt Hilbert zwischen Metamathematik und Mathematik. Der Inhalt der Mathematik ist der Gegenstand der Metamathematik.
Die Fries’sche Naturphilosophie ist aber auch unter dem Blickwinkel der gegenwärtigen Debatte zum Wechselspiel von Methodologie und Heuristik sehr interessant. Die Methodologie bezieht sich auf die wissenschaftliche Methode und die Heuristik ist auf die Entdeckung des Neuen gerichtet. Besonders in der empiristisch geprägten Philosophie des 20. Jahrhunderts sah man das Problem der Heuristik in der Auffindung einer Theorie des plausiblen Schließens. Popper verlagerte dagegen die Heuristik in die Psychologie als eine Heuristik der Intuition.
Gegenwärtig rückt die Frage nach der Erzeugung von Theorien vermöge theorieerzeugender Prinzipien stärker in den Blickpunkt des Interesses. Fries erarbeitete eine recht modern anmutende Heuristik. Der Aufbau von Naturlehren soll ausgehend von leitenden Maximen erfolgen, die nach Fries von der reinen Theorie geliefert werden sollen. Diese „leitenden Maximen” bezeichnet Fries als „heuristisch” , weil sie „leitende Regeln bey den wissenschaftlichen Erfindungen sind.”[18] Mit Hilfe der leitenden Maximen werden mathematisierte Theorien erstellt, die es ermöglichen, die Beobachtungsbefunde in einen dynamisch-mathemtischen Zusammenhang zu bringen. Jede Wissenschaft ist durch ihre eigenen heuristischen Maximen gekennzeichnet.
Fries‘ Lehre von den heuristischen Maximen wurde von Schleiden bei der Erforschung der lebenden Organismen erfolgreich angewandt. An die Stelle von Fries‘ apriorischen Maximen treten bei Schleiden aposteriorisch abgeleitete Maximen, die aufgrund sicherer Tatsachen gewonnen wurden.
Auch die Art und Weise wie Weber eine Theorie konstruiert, erinnert stark an das Fries’sche Theoriebildungsmodell, wenngleich sich bei Weber kein expliziter Hinweis auf die Fries’sche Methodologie findet. Es muß festgehalten werden, daß Weber und Fries miteinander korrespondierten. Nachweisbar hat es persönliche Kontakte zwischen Weber und Fries gegeben. Es gab beispielsweise mindestens einen Besuch von Fries in Göttingen. Eine interessante Analogie zwischen den Fries’schen und den Weberschen Ansichten läßt anhand des Weber’schen Wechselwirkungsgesetzes nachweisen. Weber beginnt bei der Aufstellung seines Wechselwirkungsgesetzes -ähnlich wie das bei Schleiden geschah- mit leitenden Maximen, die auf empirischem Wege gefunden wurden: „Um einen auf Erfahrung beruhenden, möglichst sicheren Leitfaden für diese Untersuchung zu gewinnen, sollen drei specielle Thatsachen, die theils mittelbar auf Beobachtungen beruhen, theils unmittlbar in dem durch alle Messungen konstatirten AMPÈRE’schen Fundamentalgesetze enthalten sind, zu Grunde gelegt werden.”[19] Die drei Tatsachen beschreiben Kräfte, die elektrisch geladene Körper aufeinander ausüben. Unter Zugrundelegung dieser drei Tatsachen gewinnt er mit Hilfe mathematischer Methoden sein Wechselwirkungsgesetz.
5. Literatur
Abhandlungen (1904): Abhandlungen der Fries’schen Schule, Neue Folge. I. Bd., 1. Heft.
Abhandlungen (1906): Abhandlungen der Fries’schen Schule, Neue Folge I. Bd., 3. Heft.
Blencke (1978): Blencke, E.: Zur Geschichte der Neuen Fries’schen Schule und der Jakob Friedrich Fries-Gesellschaft. Archiv für Geschichte der Philosophie. Hrsg. H. Wagner [u.a.]. Bd. 60 (1978). Berlin-New York: Walter de Gruyter (1978).
Cube (1957): v. Cube, F.: Die Auffassungen Jakob Friedrich Fries‘ und seiner Schule über die philosophischen Grundlagen der Mathematik und ihr Verhältnis zur Grundlagentheorie. Diss. Stuttgart 1957.
Fries (1837): Fries, J. F.: Die Geschichte der Philosophie, Halle 1837, 1840.
Fries (1970): Fries, J. F.: Sämtliche Schriften. Bd. 8. Aalen: Scienta Verlag 1970.
Fries (1967): Fries, J. F.: Sämtliche Schriften. Bd. 4. Aalen: Scienta Verlag 1967.
Fries (1979): Fries, J. F.: Sämtliche Schriften. Bd. 13. Aalen: Scienta Verlag 1979.
Hallier (1889): Hallier, E.: Kulturgeschichte des Neunzehnten Jahrhunderts in ihren Beziehungen zu der Entwicklung der Naturwissenschaften. Stuttgart: Verlag von Ferdinand Enke 1889.
Hegel (1959): Hegel, G. W. F.: Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie (ed. Michelet-Glockner) :Stuttgart 1959.
Hegel (1955): Hegel, G. W. F.: Grundlinien der Philosophie des Rechts (ed. Hoffmeister), Hamburg 1955.
Henke (1868): Henke, P. J.: Jakob Friedrich Fries. Monatsblätter für innere Zeitgeschichte. Studien der deutschen Gegenwart. Bd. 31 (Jan.-Juni 1868). Gotha: Justus Perthes 1868.
Weber Werke (1893): Wilhelm Weber’s Werke, Bd. 3. Berlin 1893.
Hinweis: Der Text erschien zuerst 1994 in einer der ersten Nummern des Tabula Rasa.
Die Tabula Rasa gab es zuerst als Philosophiemagazin des akademischen Mittelbaus der Friedrich-Schiller-Universität, 2009 wurde sie dann zum Tabula Rasa Magazin und hat ihren Fokus auf Kunst und Polik verlagert. 2021 feiert die Tabula Rasa ihr 30-jähriges Bestehen.