Man hat das Bild noch vor Augen: Wie am 9. November 1989 gegen Mitternacht Hunderte Ostberliner Demonstranten, die seit Stunden am Grenzübergang Bornholmer Straße gewartet hatten, mit verklärten Gesichtern ausbrachen aus ihrem eingemauerten Staat, nur um einmal über den hellerleuchteten Kurfürstendamm zu schlendern. Im Morgengrauen kehrten sie, müde und glücklich, in ihre Ostberliner Wohnungen zurück!
Dass hier, nachdem SED-Politiker Günter Schabowski fünf Stunden zuvor grenzenlose Reisefreiheit verkündet hatte, deutsche Geschichte geschrieben wurde, wurde am 18. März 1990 bestätigt: Die nach 40 Jahren SED-Herrschaft ersten freien Wahlen zur Volkskammer“ bescherten den Kommunisten Gregor Gysis eine vernichtende Niederlage!
Der Freiheitsrausch unserer Landsleute zwischen Rennsteig und Rostock hielt bis 1991 an. Die Verheißung Bundeskanzler Helmut Kohls im Sommer 1990, „blühende Landschaften“ zu schaffen, obwohl er wusste, wie tief die DDR-Wirtschaft zugrunde gerichtet war, versetzte die vom Kommunismus Befreiten in eine Euphorie, die durch die Währungsunion vom 30. Juni 1990 noch verstärkt wurde. Plötzlich wollten DDR-Bürger, über Nacht mit Westmark ausgestattet, keine DDR-Waren mehr kaufen, weshalb „volkseigene Betriebe“ reihenweise zugrunde gingen. Ein schönes Beispiel dafür ist die Schokoladenfabrik Stollwerck in Saalfeld/Thüringen, die zu DDR-Zeiten verstaatlicht war und die Marke „Thürina“ produzierte. Keiner kaufte mehr diese Marke, weil Westschokolade einfach bedeutend schmackhafter war, und die Produktion wurde eingestellt. Ähnlich war es mit der Produktion von DDR-Literatur, die keiner mehr lesen wollte. Als ich im März 1990 zur Buchmesse nach Leipzig fuhr, unterbrach ich meine Reise bei Eisenach, um in der Innenstadt eine Tasse Kaffee zu trinken. Die Buchhandlung nebenan war vollgestopft mit DDR-Literatur, ein Jahr später waren die Regale dort nur noch mit Westliteratur vollgestopft.
Und dann kam 1990 die „Treuhand“, um 8000 „volkseigene“ Betriebe zu privatisieren oder zu schließen. Die vier Millionen DDR-Arbeiter aber, die von der Arbeitslosigkeit, die sie vorher nicht gekannt hatten, betroffen waren, argumentierten, der westdeutsche „Kapitalismus“ wäre wie ein Heuschreckenschwarm in ihr Land eingefallen und hätte die Wirtschaft „plattgemacht“. Das fand Beifall in der Bevölkerung! Selbst, wenn das nicht stimmte, es wurde geglaubt, und Gregor Gysis „Linkspartei“, hinter der sich die alte SED verbarg, stieg in der Wählergunst. Der Ostberliner Theologe Richard Schröder nannte diesen Vorgang den „späten Triumph der DDR-Propaganda“. Von Helmut Kohl, dem sie einst zugejubelt hatten, sahen sich die DDR-Leute nun verraten und führten auf Demonstrationen Transparente mit wie „Wir lassen uns nicht verKOHLen“.
Enttäuscht waren auch die Bürgerrechtler, die schon in den Wochen vor dem Mauerfall mutig ihre Meinung gesagt, im Mai 1989 Betrug bei den Kommunalwahlen aufgedeckt und neue Parteien wie „Neues Forum“, „Demokratischer Aufbruch“ und „Demokratie jetzt“ gegründet hatten. Bärbel Bohley fasste ihre Enttäuschung in einen Satz: „Wir wollten Gerechtigkeit und bekamen den Rechtstaat!“ Für diese Oppositionellen, die lieber eine eigenständige DDR statt der Wiedervereinigung gehabt hätten, sprach auch die Schriftstellerin Christa Wolf in ihrem Aufruf „Für unser Land“ vom 26. November 1989. Sie befürwortete eine „sozialistische Alternative“ zum „kapitalistischen“ Weststaat, wobei die Frage offenblieb, ob das auch der Wille der DDR-Bevölkerung war und wer dieses Experiment bezahlen sollte. Die Leipziger Demonstranten hatten immerhin auf ihrer Montagsdemonstration vom 13. November 1989 in Sprechchören „Wir sind ein Volk!“ gerufen.
Mit den Massenentlassungen schwanden auch die Einwohnerzahlen in den Städten und sanken auf einen Tiefststand: So hatte die ostthüringische Stadt Gera 1989 noch 135000 Einwohner, heute sind es nur noch 95000. In Mecklenburg-Vorpommern an der Ostseeküste gibt es Landstriche, wo fast nur noch alte Leute leben; Ärzte, Apotheken, Kindergärten, Bäcker, Fleischer, Supermärkte sind in weitem Umkreis nicht mehr zu finden. In diesem Land, wo die Bewohner ihr 40 Jahre lang geführtes DDR-Leben als entwertet empfanden, sah die 2013 gegründete „Alternative für Deutschland“, die in der Flüchtlingskrise 2015 gewaltigen Zulauf bekommen hatte, ein schier unerschöpfliches Potential für ihre demokratiefeindliche, nationalistische und antieuropäische Politik. Dabei ist Alexander Gaulands Truppe, zumindest, was das Führungspersonal betrifft, ein Westimport. Allein drei von fünf Landesvorsitzenden stammen aus Westdeutschland: Martin Reichardt in Sachsen-Anhalt kommt aus Goslar in Niedersachsen, Andreas Kalbitz in Brandenburg aus München, Björn Höcke in Thüringen aus Lünen/Westfalen. Heute greifen sie in ihren Reden die Freiheitsrufe der Leipziger Demonstranten von 1989 auf, deren Revolution sie angeblich vollenden wollen. Ein widerliches Spektakel!