Wie die gefährlichen Verkehrsblockaden durch Aktivisten der „Letzten Generation“ und deren moralische Unterstützung durch das Habeck-Ministerium der von den Grünen dominierte Berliner Ampel-Regierung, die christlichen Kirchen und politisierte Großkonzerne demonstrieren, ist die politische Auseinandersetzung um die finanzielle Förderung von Wind- und Solarstrom und die Verlängerung der Laufzeit der letzten in Deutschland noch betriebenen Kernkraftwerke längst zu einem Glaubenskampf geworden, in dem Sach-Argumente kaum mehr zählen. Es geht in der Auseinandersetzung mit den „grünen Khmer“ um Leben oder Tod. Wie könnte man da eine dauerhafte und letztlich zerstörerische Spaltung der Gesellschaft noch verhindern?
Nils Goldschmidt und Arnd Küppers sehen hier in einem kürzlich in der Frankfurter Allgemeinen hinter einer Bezahl-Schranke veröffentlichten Aufsatz Parallelen zu den Konflikten, die die Weimarer Republik zerrissen und Hitler an die Macht gebracht haben. Diese Konflikte wurden im Westen erst nach der bedingungslosen Kapitulation Hitler-Deutschlands zeitweilig überwunden – und zwar durch die Idee der „Sozialen Marktwirtschaft“, die der protestantische Ökonom Alfred Müller-Armack erstmals in seinem 1947 erschienenen Buch „Wirtschaftslenkung und Marktwirtschaft“ entwickelte. Müller-Armack war einer der engsten Berater Ludwig Erhards, der 1948 im Zuge der Währungsreform mit seinem mutigen Schritt der Abschaffung von Preiskontrollen und Rationierung den Weg zum westdeutschen „Wirtschaftswunder“ freimachte.
Ökonomie der Versöhnung
Müller-Armack schrieb sein wegweisendes Buch im katholischen Kloster Vreden in der Nähe der niederländischen Grenze. Dorthin war seine Forschungsstelle an der Universität Münster während des Krieges ausgelagert worden. Wie dem ebenfalls protestantischen Ludwig Erhard ging es Müller-Armack nicht vordergründig um eine ökonomische Wachstumsstrategie, sondern um ein gesellschaftliches Reformprojekt, das Aufbrechen der Kartellierung bzw. „Vermachtung“ der Wirtschaft durch die Stärkung des Wettbewerbs auf dem freien Markt. Das „Wirtschaftswunder“ war nicht primäres Ziel, sondern willkommene Nebenwirkung der von ihm angeregten ethischen Neuausrichtung der Wirtschaftspolitik. Durch das Anfügen des Attributs „Sozial“ zur Marktwirtschaft, so Goldschmidt und Küppers, wollte Müller-Armack signalisieren, dass er die Renaissance der Marktwirtschaft als „Ökonomie der Versöhnung“ verstand, das die Grabenkämpfe, die zur Zerstörung der Weimarer Republik geführt hatten, überwinden sollte. Er bezeichnete das Schlagwort „Soziale Marktwirtschaft“ selbst als „irenische Formel“, als Friedensformel zur Überwindung des Ressentiments zwischen „arm“ und „reich“. Ludwig Erhard hingegen wies wiederholt darauf hin, dass die Marktwirtschaft gar nicht des Attributs „sozial“ bedurfte, da sie an und für sich sozial sei. „Der Markt ist der einzig gerechte demokratische Richter, den es überhaupt in der modernen Wirtschaft gibt“, betonte er im Jahre 1950 im deutschen Bundestag.
Allerdings stieß Erhard von Anfang an auf Widerstand – nicht nur bei den sozialdemokratisch orientierten Gewerkschaften, sondern auch im eigenen politischen Lager. Im Jahre 1957 setzte Bundeskanzler Konrad Adenauer gegen den Widerstand seines Wirtschaftsministers Erhard, um der Altersarmut kurzfristig abzuhelfen, die Rentenreform in Form des längerfristig nicht durchhaltbaren Umlageverfahrens durch. Immerhin ging die hinter der „irenischen Formel“ stehende Wette bis weit in die 1960er Jahre auf: Der erwünschte soziale Friede stellte sich ein und ermöglichte ein im Vergleich zu unseren westeuropäischen Nachbarländern beeindruckendes Wirtschaftswachstum. Schon 1950 überschritt das Realeinkommen der Durchschnittsdeutschen das Vorkriegsniveau und ab 1960 herrschte in Deutschland offiziell Vollbeschäftigung. Doch wenn es den Menschen zu gut geht, werden sie leichtsinnig und übermütig. Die Studentenrevolte von 1968 und ihr „Marsch durch die Institutionen“ in den folgenden Jahrzehnten setzte alle ökonomischen und sozialen Errungenschaften der ersten Nachkriegs-Jahrzehnte wieder aufs Spiel. Immer öfter wurden Rufe nach staatlicher Lenkungswirtschaft (oft verbrämt durch anarchistische Parolen) laut. Heute sind vom Friedenswerk Müller-Armacks nur noch ferne Erinnerungen übrig. Längst geht es im Konflikt um den „Klimaschutz“ um Leben und Tod der Demokratie und des sozialen Friedens.
In dieser Situation schlagen Goldschmidt und Küppers eine „irenische Zusammenführung“ verschiedener Gruppen und Parteien zu einer „praktischen Weltaufgabe“ vor. Statt um den Wiederaufbau Deutschlands und Europas nach den Flächenbombardements der Alliierten im Zweiten Weltkrieg gehe es nun um die „Transformation von Wirtschaft und Gesellschaft hin zur Klimaneutralität“. Denn es stehe außer Frage, dass das die „größte Aufgabe unserer Epoche“ ist. Als studierter Ökologe frage ich mich da unwillkürlich, wie die beiden Autoren zu dieser Einschätzung gelangt sind. Vermutlich akzeptieren sie unhinterfragt das Dogma eines linearen Zusammenhangs zwischen der atmosphärischen CO2-Konzentration und der Entwicklung der globalen Durchschnittstemperatur. Bis jetzt ist dieser Zusammenhang aber rein hypothetisch und wird wahrscheinlich nie schlüssig bewiesen werden können. Dafür sind das Wettergeschehen und die mittelfristige Entwicklung des Klimas im regionalen und globalen Maßstab viel zu komplex, weil da eine unüberschaubare Zahl natürlicher und gesellschaftlicher Ursachen zusammenwirkt. Darf man aus einer unzureichend begründeten Vermutung quantifizierte politische Vorgaben wie das Kioto-Protokoll von 1997 und das Pariser Klimaschutzabkommen von 2015 ableiten? Und verdient das Ergebnis der hoheitlichen Zuteilung handelbarer „Treibhausgasemissionslizenzen“ (Zertifikate) und deren politische Rationierung noch die Bezeichnung „Soziale oder Ökologische Marktwirtschaft“? Goldschmidt und Küppers bejahen diese Fragen implizit.
Ich selbst habe schon vor 20 Jahren in meinem Beitrag im einschlägigen „Handbuch Nachhaltige Entwicklung“ (2003) ebenfalls ausgehend vom oben zitierten Buch Alfred Müller-Armacks zu begründen versucht, warum ich diese Fragen verneinen muss. Außer auf Müller-Armack habe ich mich dort aber auch auf den Abschlussbericht der Enquete-Kommission des 13. Deutschen Bundestages „Schutz des Menschen und der Umwelt“ (1998) sowie auf Arbeiten des französischen Wissenschaftsforschers Bruno Latour berufen. Ich habe damals hergeleitet, dass Müller-Armacks „irenische Formel“ nur dann mit individueller Freiheit und Demokratie vereinbar ist, wenn sie nicht als operatives wirtschaftliches Management-Modell, sondern als „produktives Missverständnis“ behandelt wird.
Die Nachhaltigkeits-Enquête des 13. Deutschen Bundestages hatte darauf hingewiesen, dass bei der Umsetzung politischer Gestaltungsansprüche meist andere als die gewollten Ergebnisse erzielt werden, wenn nicht sogar ihr Gegenteil: „Am Ende kommt man bei der Gestaltung gesellschaftlicher Prozesse selten dort an, wohin man wollte – und wenn doch, hat das ursprüngliche Ziel seine Bedeutung geändert, hat der Weg selbst mit seinen Stationen und Umwegen längst die Perspektiven verschoben, neue Horizonte geschaffen. Notwendig ist deshalb die Offenheit der Suchprozesse, damit Versuch und Irrtum einander ablösen und einmal gesetzte Ziele revidiert werden können, wenn sie sich als Irrtum erweisen.“ Überdies, so die Kommission weiter, gebe es „keine eindeutigen Bezugspunkte, die es erlauben würden, wissenschaftlich zu entscheiden, was optimale Umweltzustände sind.“
Diese Einsichten sind vermutlich beim Umzug von Parlament und Regierung nach Berlin in Vergessenheit geraten. Zwar versicherte der damals dafür zuständige Staatsminister, mit Planwirtschaft habe die vom Bundeskabinett im April 2002 verabschiedete „Nachhaltigkeitsstrategie“ nichts zu tun. Doch zeigen die Reihenfolge der dort gewählten Nachhaltigkeitsindikatoren wie das (vergebliche) Insistieren der deutschen und EU-Delegationen auf den „Klima-Gipfeln“ auf entsprechenden quantitativen Vorgaben im dort verhandelten globalen Aktionsplan, dass dem Papier die Überzeugung zugrunde liegt, (natur-)wissenschaftlich sei längst ausgemacht, wohin die Reise gehen muss.
Bruno Latours „Parlament der Dinge“
Der (grüne) französische Wissenschaftsforscher Bruno Latour teilt diese Illusion nicht. In seinem Versuch einer „symmetrischen Anthropologie“ von 1991 und in seiner Essay-Sammlung „Pandora’s Hope“ von 2000 räumte er mit der Vorstellung auf, die exakten (Labor-)Wissenschaften („Sciences“, auf Deutsch ganz irreführend „Naturwissenschaften“ genannt) beschäftigten sich mit der Natur und lieferten den Schlüssel für die saubere Trennung zwischen Objekt und Subjekt, zwischen Tatsachen und Werten. Da es unmöglich sei, Menschen und Dinge voneinander zu trennen, existierten die Gegenstände wissenschaftlicher Forschung nicht ohne die Forscher und umgekehrt. Latour schloss daraus: Vor Louis Pasteur habe es (für die Menschen) keine Mikroben gegeben.
Um Glaubenskriege zu verhindern, könne sich die Politik nicht auf die „modernistische Übereinkunft“ einer unabhängig von menschlichen Interessen existierenden Natur berufen. „Natur“ gebe es nur im Plural. Die Erde sei nicht a priori die „eine Welt“, das „gemeinsame Haus“ der Menschen. Die unterschiedlichen konkreten Lebenswelten müssten vielmehr erst (auf möglichst demokratische Weise) „von unten“ zu einem solchen gemacht werden – und zwar mithilfe des von Latour angeregten „Parlaments der Dinge“ mit einem „Oberhaus“, das entscheidet, welche Anliegen einbezogen werden, und einem „Unterhaus“ für das Ordnen der einbezogenen Mischwesen.
Wie der liberale Ökonom Friedrich-August von Hayek (aber unter einem ganz anderen politischem Vorzeichen!) geht also auch Latour davon aus, dass die Menschen, trotz aller erreichten wissenschaftlich-technischen Fortschritte, weiterhin grundsätzlich im Dunkeln tappen müssen. Sie können sich (in Form des „Parlaments der Dinge“) lediglich politisch auf eine „experimentelle Metaphysik“ einigen. Das heißt sie können nur so tun, als hätten sie das für das Management der Erde nötige Wissen.
In diesem Sinne interpretiert Latour Verlauf und Ausgang der Klimakonferenzen von Kyoto (1997) und später Paris (2015). In den Mammut-Palavern sieht er Vorstufen seines „Parlaments der Dinge“. Denn dort habe es erstmals eine politische Repräsentation nichtmenschlicher Wesen neben allen Formen legitimer menschlicher Interessen gegeben. Man dürfe in den Ergebnissen solcher und anderer Großveranstaltungen aber keinen durch rationale Diskurse erzielten Konsens sehen. Vielmehr handele es sich dabei um diplomatische Zweideutigkeiten: „Diplomatie bedeutet, dass es (…) keinen Schiedsrichter gibt, der darüber wacht, ob rationale Verhandlungsbedingungen eingehalten werden und der die eine oder andere Partei des Irrationalismus zeiht, wenn die Verhandlungen scheitern. In der Diplomatie ist vielmehr die Aufrechterhaltung der Zweideutigkeit Bedingung für die Einstellung von Feindseligkeiten. In einer Welt, in der Verstehen unwahrscheinlich ist, haben wir nur den Weg der Diplomatie um Blutvergießen zu verhindern“, erklärt Latour. „Der rationale Diskurs ist demgegenüber ein unerreichbares Ideal. Wir sind zu viele auf der Welt, um uns darauf einigen zu können, wie diese aussehen soll.“ (so Bruno Latour in einem Interview mit dem Verfasser, veröffentlicht in der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ am 12.Mai 2002).
Die auf diplomatischen Arrangements fußenden Maßnahmen sind deshalb für Latour nichts weiter als (friedensstiftende) offene kollektive Realexperimente, deren Verlauf durch ein wissenschaftliches Monitoring begleitet werden sollte. Insofern hat Bruno Latour recht, wenn er Versuche, das Kyoto-Protokoll naturwissenschaftlich zu begründen, von vornherein für müßig erklärt. Dennoch hat er sich ohne Vorbehalt hinter die für den Westen suizidären Beschlüsse der Mammut-Palaver des Kioto-Prozesses gestellt. Er unterstützt bis heute den Aberglauben, eine Drosselung, wenn nicht die totale Zerstörung der Wirtschaft durch „Net Zero“ leiste einen Beitrag zur Milderung von Hitze und Trockenheit. Folgerichtig wurde er im Jahre 2021 mit dem „Kyoto-Preis“, einem der neben dem Nobelpreis höchst dotierten Wissenschaftspreise, ausgezeichnet.
Bruno Latour hat mit dem von ihm vorgeschlagenen „Parlament der Dinge“ zwar das Problem der Quellen des Management-Wissens konstruktivistisch aufgelöst und dadurch die Ökologie (zumindest in der Theorie) einigermaßen mit demokratischen Ansprüchen versöhnt. Doch hinter dem damit ausgesprochenen „Primat der Politik“ sind die Belange der Ökonomie beinahe vollständig dem Gesichtskreis entschwunden. Er verdächtigt die Ökonomen sogar, statt auf eine Politische Ökonomie auf eine „Ökonomie des Politischen“ im Sinne eines sparsamen Umgangs mit Politik hin zu arbeiten und regte sich darüber auf, dass auch „Klimaskeptiker“ sich seiner konstruktivistischen Argumentation bedienten.
Bruno Latour geriet m.E. vor allem deshalb in ein wirtschaftlich und ethisch bedenkliches Fahrwasser, weil er seinem „Parlament der Dinge“ Aufgaben zuschrieb, die nach Ansicht Friedrich August von Hayeks und der Begründer des Liberalismus eigentlich der Markt lösen sollte. Nur dort ist ein ethisch einwandfreier Umgang mit dem auch Latour durchaus bewussten Problem der Entscheidungen unter der Bedingung mangelnden, wenn nicht völlig fehlenden Wissens denkbar. Von Marktwirtschaft kann man m.E. eigentlich nur sprechen, wenn die freien Marktteilnehmer die Informationen, die ihren Investitions-, Kauf- und Verkaufsentscheidungen zugrunde liegen, ausschließlich vom Markt selbst und nicht aus konstruierten Narrativen und entsprechenden staatlichen Vorgaben beziehen. Neben den Marktsignalen brauchen die Menschen in diesem Prozess spontaner Ordnungsbildung nur die 10 Gebote der Bibel oder ähnliche seit Jahrtausenden bewährte Lebensregeln ohne Bezug zur außermenschlichen Umwelt als Vorgaben. Jedwede weitere externe Vorgabe muss als Einstieg in den Sozialismus gewertet werden. Kurz: Was nachhaltig ist, “weiß“ in einem liberal-demokratisch und marktwirtschaftlich verfassten Gemeinwesen nur der Markt. Wobei der Markt nicht als Abstraktum verstanden werden darf, sondern als Summe der Entscheidungen Tausender, wenn nicht Millionen vernunftbegabter Individuen. Diese gründen sich auf die Hoffnung, dass sich im Wettbewerb hinter ihrem Rücken materielle Fortschritte einstellen, von denen zuvor niemand geträumt hat. Friedrich-August von Hajek hat das wie folgt auf den Punkt gebracht: „Weil jeder einzelne so wenig weiß, vertrauen wir darauf, dass die unabhängigen und wettbewerblichen Bemühungen Vieler die Dinge voranbringen, die wir wünschen werden, wenn wir sie sehen.“
Latours Vorschlag einer „experimentellen Metaphysik“ kann dagegen alles Mögliche rechtfertigen – insbesondere auch angeblich von „der“ Wissenschaft gebotene repressive, aber kaum wirksame Maßnahmen wie den Lockdown zur Eindämmung einer politisch dekretierten Corona-Pandemie. Das hat Latour in seinem gegen Ende des vergangenen Jahres erschienen Buch mit dem Titel „Wo bin ich?“ explizit getan. Es zeigt, dass der postmoderne Konstruktivismus letztlich immer dazu dient, das jeweils herrschende Narrativ zu bestätigen. Insofern stimme ich dem zu, was die Physiker Alan Sokal und Jean Bricmont 1999 über Latour und andere postmoderne Wissenschaftsforscher schrieben: Es handele sich dabei um „eleganten Unsinn“, der obendrein gefährlich werden kann, wenn er wie im Fall der Covid-„Pandemie“ zur Begründung despotischer Maßnahmen dient. Im Klartext: Ich halte das Einsperren der Bevölkerung und die ihr mithilfe massiver Erpressung angeblich als Schutz vor Covid-19 aufgedrückte ebenso nutzlose wie gefährliche Gen-Spritze für „experimentelle Metaphysik“ reinsten Wassers.
Produktive Missverständnisse
Konsens, da hat Bruno Latour zweifelsohne recht, beruht in einer ungeplanten Welt fast immer auf Missverständnissen. Fortschritte der Neurobiologie auf der einen Seite und die von der Wissenschaftsforschung vermittelten Einsichten in die Entstehungsbedingungen und den politischen Stellenwert wissenschaftlichen Wissens auf der andern Seite legen es nahe, die Hoffnung, über rationale Diskurse zu einvernehmlichen und dauerhaften Lösungen gesellschaftlicher Probleme gelangen zu können, als unbegründet fahren zu lassen.
Wir wissen heute: Missverständnisse sind unvermeidlich. Es fragt sich nur, ob diese destruktiv oder produktiv sind. Die große Kunst der Politik besteht darin, Konsensformeln zu finden, die auf produktiven Missverständnissen beruhen. Dabei handelt es sich im Prinzip um Leerformeln, die einen so großen politischen und wirtschaftlichen Interpretations- und Gestaltungsspielraum bieten, dass alle Akteure damit lange Zeit in Frieden leben und auf einigermaßen anständige Weise ihren wirtschaftlichen Interessen nachgehen können.
Die Väter der „Sozialen Marktwirtschaft“ wussten wohl, warum es besser war, ihr Leitbild nicht in die Form quantitativer Zielvorgaben zu bringen. Jedenfalls gibt es darüber bis heute, je nach politischer Partei oder zivilgesellschaftlicher Organisation, die unterschiedlichsten Vorstellungen. Doch wurde dieses Manko bislang keineswegs zum Anlass, Meinungsverschiedenheiten mit juristischen Mitteln oder gar durch die Anwendung physischer Gewalt auszutragen. Im Gegenteil: Gerade als Leerformel brachte die „soziale Marktwirtschaft“ den Deutschen ein halbes Jahrhundert lang inneren Frieden und Wohlstand. Hätten sich Wissenschaftler und Politiker jedoch schon in den fünfziger Jahren daran gemacht, die Formel zum operativen Managementkonzept mit 20 oder 50 Indikatoren für die Messung seiner Umsetzung auszubauen, hätte der schillernde Begriff höchstwahrscheinlich bald seine Faszination eingebüßt und wäre möglicherweise schon längst wieder in Vergessenheit geraten.
Der Verzicht auf inhaltliche Ausgestaltung und quantitative Operationalisierung wertet die Idee der Sozialen oder Ökologischen Marktwirtschaft keineswegs ab. Denn eine regulative Idee im Sinne Emmanuel Kants (wie Wahrheit, Freiheit oder Gerechtigkeit) ist viel mehr als „nur so ´ne Idee.“ Sie kann durchaus zur materiellen Gewalt werden, indem sie Leidenschaften erzeugt. Neuerdings scheint die Idee der „Sozialen Marktwirtschaft“ bei den Deutschen wieder im Aufwind zu sein. Nach einer im vergangenen Jahr vom Allensbach Institut durchgeführten demoskopischen Umfrage finden 56 Prozent der Deutschen die irenische Formel sympathisch. Im Jahre 2005 waren es nur 34 Prozent. Die Idee einer nachhaltigen Entwicklung mit und in der „Sozialen und Ökologischen Marktwirtschaft“ (aber ohne Rationierung der CO2-Emissionen bzw. des „Ökologischen Fußabdrucks“!) hätte m.E. durchaus das Zeug, weiterhin als friedensstiftendes Missverständnis zu dienen. Das kann sie aber nur, wenn sie den Zauber der Vieldeutigkeit bewahrt.
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