„Irgendwo muss man Anker werfen.“

Pausenfüller aus RTL-Anfangstagen: Der Sonnenbrille tragende, zwielichtige Hütchenspieler Salvatore versteckte eine Erbse unter einer von drei Muscheln, die dann gemischt wurden. Gelang es dem Kandidaten den Weg der Kugel mitzuverfolgen, gewann er Geld, das er wiederum bei einem erneuten Spiel einsetzen und so verdoppeln konnte… Pronto Salvatore! Ein analoges „Spiel“ verkörpern auch die Protagonisten in Dragon Velikićs neuem Roman, nur dass bei ihnen keine Muscheln und Erbsen zum Einsatz kommen. Sie alle sind nämlich mehr oder weniger auf der Suche nach einem Ort, den man in vielerlei Hinsicht unter einem großen Begriff zusammenfassen kann: Heimat.

Sein, wer man sein will, Gleichgesinnte finden, sich am richtigen Platz fühlen: Das kann man überall auf der Welt. In Berlin, in der österreichischen Provinz oder auch in Yogiakarta auf Java in Indonesien. Denn Heimat ist nicht unbedingt ein Ort, sondern eher ein Gefühl. Wo mich die Menschen verstehen, wo ich mich nicht verstellen muss, wo Leute sind, die ich mag und die mich mögen, da bin ich daheim. Natürlich ist auch Familie Heimat. Was aber, wenn sich gerade dieses wichtige Heimat-Gefühl unter Hütchen versteckt, die ständig verschoben werden – blitzschnell und nicht greifbar? Wenn sich der vermeintliche Halt als nebulöse Grauzone erweist und die Erbse doch in der anderen Walnussschale liegt?

Marko, Marija und Kristina, die drei Akteure in „Bonavia“, geraten metaphorisch gesprochen gleichfalls in die dubiosen Fänge der Hütchenspieler. Mitte Vierzig und aus dem zerbrochenen Jugoslawien stammend, haben sie immer noch nicht ihre Mitte gefunden. Ein Heimatgefühl ist aus unterschiedlichsten Gründen noch nicht bei ihnen eingekehrt. So tingelt Marko als erfolgloser Schriftsteller durchs Leben. „Aus lauter Banalitäten knüpfte er ein Netz, das mit den Jahren immer dichter und undurchdringlicher wurde, und verstrickte sich selbst darin. Ein Gärtner verpasster Möglichkeiten.“ Aufgewachsen bei Tante und Onkel, die Mutter starb bei seiner Geburt, der Vater verschwand daraufhin nach Wien, befindet er sich seit Jahren auf zielloser Wanderschaft zu sich selbst. Ein Ausbruch aus seinem Lebensprovisorium gelang ihm bis dato nicht. Aber auch seine Freundin Marija verzettelt sich eher in einem „hoffnungslosen Versuch, Zusammenhänge zu begreifen, allem einen Sinn zu geben, sich unaufhörlich mit Dingen auseinanderzusetzen, auf die sie keinen Einfluss hatte.“ Deren Freundin Kristina wiederum versucht die Flucht vor unliebsamen Erinnerungen gleich im ganz großen Stil. Sie siedelt in die USA über und zugleich „in die dritte Person Singular, sagte nicht mehr ich, redete von ihr, dieser Kristina. Ohne Pathos und Nostalgie. Grammatikalisch präzise definiert durch die Vergangenheitsform“. Warum? Diese Frage stellen sich alle drei immer wieder. Wer ist dafür verantwortlich, was daran schuld? Etwa der Bürgerkrieg in Jugoslawien? Die zerbrochene Liebe? Der Vater, der nur aus der Ferne anhand großzügiger Geldsendungen den Kontakt zu seinem Sohn aufrecht hält? Oder vielleicht doch der riesengroße Ballast der Erinnerungen? „Gesichter. Vergessene Räume. Leuchtfeuer. Augenblicke.“

Dragan Velikić unternimmt in seinem Roman den Versuch, die Biografien seiner drei Protagonisten zu diagnostizieren. In Budapest nimmt die Geschichte ihren Anfang, in Wien kumuliert sie in einem dramatischen Finale Grande. Dazwischen pendelt der Leser in den Zeiten vor und wieder zurück: von Belgrad über San Francisco nach Zemun. Der in der serbischen Haupstadt geborene Autor schlüpft in die Rolle des Archivars fremder Lebenssplitter, die letztendlich und förmlich auf der letzten Seite sein ganz persönliches Schicksal im titelgebenden Grand Hotel „Bonavia“ in Rijeka (Kroatien) offenlegen. Velikić hat ein äußerst tiefsinniges und nachdenkliches Werk geschrieben. Ein Buch, das sich als Dschungel offenbart, durch den sich der Leser seinen Weg bahnen muss. „Gestalten, Gespenster, Ereignisse, Erinnerungen wirbelten durcheinander, sprachen jeder Chronologie Hohn.“ Doch die Mühe lohnt sich unbedingt. Der Text wartet mit Sätzen zum Inhalieren auf. Sätze, denen man genügend Zeit zum langsamen Ausbreiten geben muss, zum Entfalten und Entwickeln und die von Brigitte Döbert kongenial ins Deutsche übertragen wurden. Sätze, die man genussvoll und zögerlich lesen sollte, da man sonst allzu leicht über deren nachhaltigen Tiefgang hinwegschlingert.

Fazit: „Bonavia“ entpuppt sich als ein Roman für Wortliebhaber mit zahlreichen Wortspielvarianten. Ein anstrengender, aber ungemein anregender, intellektuell erhellender und lohnenswerter Parcours durch ein mäanderndes Gedankenlabyrinth. Ein Buch voller Lebensweisheiten und reichlich nachdenkenswerter Passagen. Ein Lesegenuss auf hohem Niveau. Ein „Vibrato der Maschinerie des Lebens.“ Intensität!

Dragan Velikić
Bonavia
Aus dem Serbischen von Brigitte Döbert
Titel der Originalausgabe: Bonavia
Hanser Berlin (Februar 2014)
333 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3446245022
ISBN-13: 978-3446245020
Preis: 19,90 EUR

Über Heike Geilen 597 Artikel
Heike Geilen, geboren 1963, studierte Bauingenieurswesen an der Technischen Universität Cottbus. Sie arbeitet als freie Autorin und Rezensentin für verschiedene Literaturportale. Von ihr ist eine Vielzahl von Rezensionen zu unterschiedlichsten Themen im Internet zu finden.

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