Interview mit Prof. Dr. Rudolf Mellinghoff: „Meines Erachtens ist es verfehlt, von einer Krise der Demokratie zu sprechen“

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Die Corona-Pandemie hat das gesellschaftliche Leben hierzulande weitestgehend zum Erliegen gebracht. Zahlreiche Unternehmen stehen bereits jetzt mit dem Rücken zur Wand – und die Angst vor einem Shutdown der Wirtschaft wächst täglich. Mit einem milliardenschweren Maßnahmenpaket will die Bundesregierung die Auswirkungen des Corona-Virus abfedern und eine „wirtschaftliche Bradykardie“ verhindern – auch das deutsche Steuerrecht ist betroffen. Sven Lilienström, Gründer der Initiative Gesichter der Demokratie, sprach mit dem Präsidenten des Bundesfinanzhofs Prof. Dr. Rudolf Mellinghoff (65) über demokratische Grundwerte in Zeiten der Corona-Krise, die Rolle der Europäischen Union und die Frage, ob die steuerlichen Hilfsmaßnahmen für betroffene Unternehmen ausreichen.

Herr Prof. Dr. Mellinghoff, als unser 81. Gesicht der Demokratie möchten wir Sie zu allererst fragen: Welchen Stellenwert haben Demokratie und demokratische Werte für Sie ganz persönlich?

Die freiheitliche, parlamentarische Demokratie ist das Fundament unseres Staates. Sie ist für mich unverzichtbar und ermöglicht es erst, dass die Menschen in Würde und Freiheit leben, sich in unserem Staat für das Gemeinwesen einbringen und Verantwortung übernehmen können. Dabei sind regelmäßige Wahlen unabdingbar, denn die demokratische Legitimation wird nur auf Zeit gewährt. Es lohnt sich für diese demokratischen Werte zu kämpfen und gegen undemokratische, absolutistische und autoritäre Tendenzen vorzugehen.

In Zeiten wie diesen stehen insbesondere Demokratien weltweit vor der Herausforderung, Freiheit und Sicherheit trotz „Krisenmodus“ sensibel auszutarieren. Stellt die Corona-Krise unsere Demokratie auf die Probe?

Meines Erachtens ist es verfehlt, von einer Krise der Demokratie zu sprechen. Wir erleben gerade, dass die politischen Institutionen in dieser Ausnahmesituation ihre Verantwortung wahrnehmen und im Rahmen ihrer Kompetenzen handeln. Es wäre falsch, wegen der Corona-Krise Grundrechte auch vorübergehend außer Kraft zu setzen oder das Institutionengefüge der Bundesrepublik in Frage zu stellen. Es bedarf gegenwärtig keiner Grundgesetzänderung, keines Notparlaments oder einer Einschränkung rechtsstaatlicher Kontrolle. Sonderregelungen für die Funktionsfähigkeit des Bundestages können in der Geschäftsordnung geregelt werden. Ich habe auch Zweifel, ob es richtig ist, weitreichende Kompetenzen von den Ländern auf den Bund zu übertragen. Wir erleben doch gerade, dass die Länder ihrer Verantwortung sehr gut gerecht werden; dass sie teilweise unterschiedliche Maßnahmen ergreifen, hat bisher jedenfalls nicht geschadet.

Auch in dieser Krisensituation darf man unsere Werte nicht zur Disposition stellen. Wir haben gelernt, Freiheit und Sicherheit im Rahmen einer Verhältnismäßigkeitsprüfung zu einem angemessenen Ausgleich zu bringen. Dass im Hinblick auf die Gefährdung von Leben und Gesundheit gegenwärtig nie dagewesene Freiheitsbeschränkungen für eine Übergangszeit gerechtfertigt erscheinen, zeigt, dass wir auch in dieser Situation in der Lage sind, rasch und zielführend zu handeln. Dabei ist es richtig und wichtig, dass diese Maßnahmen sowohl von der Expertise medizinischer Sachverständiger begleitet und von Verfassungsrechtlern kritisch diskutiert werden. Die Diskussion um die Überwachung der Handydaten zeigt die Notwendigkeit kritischer verfassungsrechtlicher Kontrolle. Angesichts des enormen zeitlichen Drucks mag man im Nachhinein die ein oder andere Maßnahme als nicht gerechtfertigt beurteilen; für eine Übergangszeit gibt es aber die Einschätzungsprärogative der Exekutive.

Die EU hat einen Einreisestopp für Bürger aus Drittstaaten verhängt. Dennoch haben viele Länder auch ihre Binnengrenzen geschlossen – jedes Land sucht nach eigenen Lösungen. Bedroht die Krise die europäische Idee?

Es wäre sehr bedauerlich, wenn die europäische Idee dauerhaft Schaden nimmt. Hier sind aber mehrere Fragen zu unterscheiden. Zum einen stellt sich die Frage der Kompetenz der Europäischen Union. Auf der anderen Seite müssen wir über die Solidarität von Mitgliedstaaten der EU in Krisensituationen reden.

Sowohl der Einreisestopp als auch die Schließung der Binnengrenzen sind aus meiner Sicht nur eine Bekräftigung von Ausgangssperren und Kontaktverboten, wie sie auf kommunaler Ebene oder auf Länderebene getroffen werden. Hier handelt es sich doch eher um eine Fortsetzung von strikten bewegungseinschränkenden Maßnahmen, die fast jeder Staat der europäischen Union schon in seinem Land getroffen hat. Man kann fast von einem gemeineuropäischen, wenn nicht weltweitem Vorgehen sprechen.

Das Subsidiaritätsprinzip und die Verwaltungskompetenz in den Mitgliedstaaten führen dazu, dass die Europäische Union nicht in gleichem Maße wahrgenommen wird, wie die Verwaltungen der Mitgliedstaaten. Ich glaube aber, dass wir sehr bald erleben, dass die EU insbesondere im wirtschaftlichen, aber auch im sozialen Bereich die europaweit erforderlichen Rahmenbedingungen setzt.

Die europäische Idee wird aber dadurch beschädigt, dass keine Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten herrscht. Ausfuhrbeschränkungen von wichtigen medizinischen Gütern oder ähnliche Maßnahmen stoßen zu Recht auf Unverständnis. Aber auch hier besteht Hoffnung, wenn man sieht, dass in Deutschland schwer kranke Menschen aus anderen Mitgliedstaaten der Europäischen Union behandelt werden.

Unternehmer und Selbstständige können ab sofort zinslose Steuerstundungen sowie das Herabsetzen von Vorauszahlungen beantragen. Wie bewerten Sie diese Maßnahmen aus steuerrechtlicher Sicht?

Meines Erachtens reichen diese Maßnahmen nicht aus. Es werden inzwischen unter Steuerrechtlern sehr viel weitreichendere Maßnahmen erörtert, z.B. ein sofortiger Verlustrücktrag, um Unternehmen kurzfristig zusätzliche Liquidität zur Verfügung zu stellen. Für diejenigen, die in der Krise besonders gefordert sind, werden auch Steuerfreibeträge diskutiert. Außerdem müssen jetzt dringend frühere Überlegungen zu einem Sanierungssteuerrecht aufgegriffen werden, denn wir müssen damit rechnen, dass viele Unternehmen vor der Insolvenz stehen werden.

Einige Ökonomen schlagen vor, die Corona-Krise als Treiber für dauerhafte Änderungen im Steuerrecht zu nutzen – beispielsweise zur Senkung der Unternehmenssteuern über die Krise hinaus. Was halten Sie von diesem Vorschlag?

Die Diskussion über die Senkung der Unternehmenssteuern ist schon vor der Corona-Krise geführt worden. Dabei wäre es zu einfach, immer nur die steuerliche Gesamtbelastung durch Unternehmenssteuern zu diskutieren. Viel wichtiger ist es, eine strukturelle Unternehmenssteuerreform in Angriff zu nehmen. Vielleicht gelingt es aufgrund der Corona-Krise auch, die Gewerbesteuer durch eine andere Form der wirtschaftsbezogenen Kommunalsteuer zu ersetzen, die weniger konjunkturanfällig ist. Konzepte gibt es genug.

Im Kampf gegen das Coronavirus treffen Regierungen weitreichende Entscheidungen ohne Zustimmung der Parlamente. Befürchten Sie, dass die Demokratie in manchen Ländern nachhaltig Schaden nimmt?

Das Bundesverfassungsgericht hat in zahlreichen Urteilen immer wieder auf die Bedeutung der parlamentarischen Kontrolle hingewiesen. Ich glaube, dass wir in Deutschland kein Defizit haben. In anderen Ländern wird die gegenwärtige Situation in der Tat ausgenutzt, die eigene Macht zu festigen und die demokratischen Institutionen zu beeinträchtigen. Insbesondere die Vertreter illiberaler Demokratien versuchen, ihre bereits jetzt fragwürdige autoritäre Führungsmacht zu festigen und zu verstetigen. Es besteht in der Tat die Gefahr, dass die Demokratie in manchen Ländern nachhaltig Schaden nimmt. Hier muss die EU weiter wachsam sein.

Herr Prof. Dr. Mellinghoff, inwieweit hat sich Ihr Alltag und die Arbeit des Bundesfinanzhofs seit Beginn der Corona-Krise verändert und was haben Sie sich für die kommenden drei Jahre vorgenommen – beruflich und privat?

Oberste Priorität hat auch im Bundesfinanzhof der Schutz von Menschenleben, wobei wir gleichzeitig darauf achten, dass die Funktionsfähigkeit der Rechtsprechung nicht Schaden nimmt. Wir haben schon in den ersten Märzwochen zahlreiche Maßnahmen getroffen, um die sozialen Kontakte im Gerichtsgebäude zu reduzieren. Bis Ende April sind alle mündlichen Verhandlungen, Beratungen und Sitzungen aufgehoben worden. Besuchergruppen werden nicht mehr empfangen und auswärtige Besucher dürfen das Gerichtsgebäude gegenwärtig nur in besonderen Ausnahmefällen betreten. Trotzdem achten wir darauf, dass weiter Rechtsschutz gewährt wird und in Eilfällen auch zeitnah entschieden werden kann. Eine Kernmannschaft sorgt im Gerichtsgebäude dafür, dass alle dringenden und wichtigen Maßnahmen ergriffen werden, wobei auch hier darauf geachtet wird, dass kein naher Kontakt stattfindet. Ein Großteil der Richterinnen und Richter sowie der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter arbeitet im Homeoffice oder in Telearbeit. Wir arbeiten regelmäßig daran, diese Maßnahmen nachzujustieren, um die Rechtsprechung aufrecht zu erhalten. Bisher haben wir glücklicherweise unter den Beschäftigten noch keinen Corona-Fall.

Wenn Sie mich danach fragen, wie es bei mir beruflich und privat weiter geht, verweise ich zunächst darauf, dass meine Amtszeit am 31. Juli abläuft. Bis dahin werde ich meine ganze Kraft für den Bundesfinanzhof einsetzen. Danach habe ich mir vorgenommen, mich weiter mit Einzelfragen des Steuerrechts, insbesondere mit der Digitalisierung der Besteuerung zu beschäftigen. Es soll aber auch genügend Zeit für meine privaten Interessen bleiben.

Vielen Dank für das Interview Herr Prof. Dr. Mellinghoff!

Quelle: Initiative Gesichter der Demokratie

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