Interview mit Norbert Lammert: „. Das Engagement von „Fridays for Future“ als demokratische Opposition ist dagegen der legitime Anspruch auf konsequente Lösungen für die Herausforderungen des Klimawandels“

Prof. Dr. Norbert Lammert, Vorsitzender der Konrad-Adenauer-Stiftung und ehemaliger Präsident des Deutschen Bundestages | © Deutscher Bundestag

Herr Prof. Dr. Lammert, Sie saßen 37 Jahre für die CDU im Bundestag. Als „Vollblut-Politiker“ möchten wir auch Sie fragen: Welchen Stellenwert haben Demokratie und demokratische Werte für Sie ganz persönlich?

Ich will das mit einem Zitat verdeutlichen. Barack Obama hat in seiner Abschiedsrede als Präsident 2017 den schlichten, aber prägnanten Satz gesagt: „Die Demokratie ist immer dann am meisten gefährdet, wenn die Menschen beginnen, sie für selbstverständlich zu halten.“ Er hat damals vermutlich noch nicht geahnt, wie schnell das auch für sein eigenes Land zutreffen könnte. Für uns trifft es sicher zu. Wir halten die Demokratie längst für selbstverständlich. Wir haben sie zwar erst seit siebzig Jahren, aber das ist lang genug um zu glauben, anders als demokratisch könne es ja gar nicht sein.

Politische Systeme sind aber nicht unsterblich. Es gibt keine Überlebensgarantie, weder für autoritäre noch für demokratische Systeme. Wer oder was entscheidet über die Stabilität einer liberalen Grundordnung? Jedenfalls nicht der Verfassungstext, sondern die Entschlossenheit der Staatsbürgerinnen und Staatsbürger, die Stabilität einer demokratischen Verfassung noch wichtiger zu finden als die jeweiligen eigenen politischen Präferenzen. Das kann man für eine Zumutung halten und in bestimmten konkreten Situationen ist es auch eine. Aber sie ist die Voraussetzung dafür, einem ganzen Land, einer ganzen Gesellschaft und allen Menschen, die in ihr leben, größere und irreparable Zumutungen zu ersparen.

Die Jugendbewegung „Fridays for Future“ hat die Mächtigen der Welt an ihre Verantwortung erinnert. Wie politisch ist Deutschlands Jugend und wie viel Widerstand braucht Demokratie Ihrer Meinung nach?

Widerstand braucht und erlaubt unsere Demokratie nur, wenn versucht wird, die im Grundgesetz Art. 20 Abs. 1 bis 3 verankerte verfassungsrechtliche Ordnung zu beseitigen. Das Engagement von „Fridays for Future“ als demokratische Opposition ist dagegen der legitime Anspruch auf konsequente Lösungen für die Herausforderungen des Klimawandels sowohl durch veränderte rechtliche Rahmenbedingungen wie durch verändertes individuelles Verhalten.

Politische Aktivisten müssen sich zur Durchsetzung ihres Anliegens wie die Parteien auch demokratischer Mittel bedienen. Sie müssen sich mit der unangenehmen, manchmal lästigen Voraussetzung vertraut machen, dass in einem funktionierenden demokratischen Staat das umgesetzt wird, wofür man Mehrheiten organisieren kann – und nicht das, von dem man erklärt, dass es ganz sicher nötig sei, unabhängig davon, ob andere das einsehen oder nicht.

Ob Hassparolen im Internet oder Drohungen gegen Politiker und Andersdenkende. Die Verrohung unserer gesellschaftlichen Normen und Werte erscheint offensichtlich. Brauchen wir eine neue „Respekt-Kultur“?

Auf jeden Fall. Art und Umfang von Beschimpfungen, Beleidigungen, Verleumdungen und Bedrohungen haben insbesondere in den sozialen Medien längst ein dermaßen erschreckendes Ausmaß angenommen, dass ich bezweifle, dass das genügt. Mir erscheint etwas Anderes zunächst wichtiger: Unser Rechtsstaat in Gestalt einer politisch unabhängigen Justiz ist Hass und Hetze bislang nur sehr zögerlich und mit erstaunlicher Großzügigkeit begegnet. Inzwischen sind aber in einer Reihe von Ländern Projekte bei Staatsanwaltschaften im Entstehen begriffen, die mit besonderer Priorität gegen Hasskommentare vorgehen und Nutzer vor Gericht bringen sollten, deren Äußerungen die Grenzen der Meinungsfreiheit überschreiten. Auch der Bund will künftig beim Bundeskriminalamt eine „Zentralstelle zur Bekämpfung von Hasskriminalität“ einrichten.

Das setzt allerdings voraus, dass die Telemediendienste künftig gesetzlich dazu verpflichtet werden müssen, im Falle des Verdachts einer Straftat, Nutzerdaten des Verdächtigen – Name, E-Mail-Adresse und so weiter – an die Behörden zur Ermittlung und gegebenenfalls Strafverfolgung weiterzugeben. Das ist bislang nicht der Fall – anders als für Unternehmen der Telekommunikation, für die bereits seit Langem diese Pflicht besteht. Mit Blick auf die konkreten Erfahrungen leuchtet immer weniger ein, warum für die sozialen Medien hier nach wie vor andere rechtliche Maßstäbe gelten sollen.

Sie waren 12 Jahre Präsident des Deutschen Bundestages. Inwiefern hat sich die Diskussions- und Debattenkultur seit dem Einzug der AfD verändert und was, wenn Tabubrüche und „rechtes“ Vokabular zur Routine werden?

Tabubrüche, Provokationen und extremistisches Vokabular dürfen niemals und in keiner Form „Routine werden“ in dem Sinne, dass sie als normal oder allgemein akzeptiert gelten. Das gilt für den Deutschen Bundestag genauso wie für die Gesellschaft insgesamt, es gilt für die analoge wie für die digitale Welt.

Im Bundestag verändert sich unsere Debattenkultur nicht erst seit dem Einzug der AfD. Genau genommen verändern sich die Bedingungen, wie Menschen kommunizieren und debattieren, spätestens seit der Erfindung des Buchdruckes im 15. Jahrhundert immer wieder sowohl quantitativ als auch qualitativ signifikant. Auch unsere heutige Sprachkultur ist keine fest und für alle Zeiten unveränderliche Größe.

Zahlreiche Untersuchungen zeigen aber, dass der Wandel in der Debattenkultur in den zurückliegenden Jahren nicht nur an Intensität zugenommen hat. Nicht zu übersehen ist, dass unter den veränderten Bedingungen der Wahrnehmung und der medialen Vermittlung von Sachverhalten die Versuchung, vielleicht sogar die Notwendigkeit noch größer geworden ist, komplexe Vorgänge zu vereinfachen, zuzuspitzen, zu dramatisieren, mitunter gar zu skandalisieren. Offenkundig ist die Verlockung übermächtig geworden, sich durch Polemik und Übertreibungen die Aufmerksamkeit zu erkaufen, die es für differenzierte Stellungnahmen in der Regel nicht mehr gibt. Denn etwas schlicht Vernünftiges zu sagen, ist beinahe eine Garantie dafür, nicht wahrgenommen zu werden. Diese Entwicklung ist nicht nur bedenklich für unsere Sprach- und Kommunikationskultur, sondern sie beschädigt und gefährdet letztlich unsere Demokratie, die auf eine angemessene Sprach- und Debattenkultur angewiesen ist.

75 Jahre nach der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau wachsen Antisemitismus und Rechtspopulismus in unserer Gesellschaft wieder. Worauf kommt es im Rahmen unserer Erinnerungskultur besonders an, um das Gedenken an den Holocaust auch in Zukunft wach und lebendig zu halten?

Geschichte vergeht nicht, sondern ist die Voraussetzung der Gegenwart; der Umgang mit ihr prägt die Zukunft jeder Gesellschaft. Das gilt insbesondere auch für unsere Geschichte. Je weiter aber der Holocaust in die Vergangenheit rückt, je weniger Zeitzeugen leben und je mehr Menschen in unserer Gesellschaft leben, die andere kulturelle Wurzeln und eine andere Sozialisation haben, desto wichtiger wird es, das Bewusstsein für die besondere geschichtliche Verantwortung Deutschlands wachzuhalten. Das ist nicht nur eine Aufgabe des Staates, sondern letztlich von jedem Einzelnen.

Die Shoa war keine Naturkatastrophe und für sie war auch keine höhere Macht verantwortlich. Daran müssen wir uns stets erinnern und immer wieder neue Wege finden, diese Verbrechen den kommenden Generationen zu vermitteln. Dabei müssen wir auch deutlich machen: Für die schreckliche Vergangenheit unseres Landes sind die Nachgeborenen nicht verantwortlich. Aber sie sind verantwortlich für den Umgang mit dieser Vergangenheit. Deshalb ist es eine bleibende Aufgabe, die Erinnerung an das, was in der Zeit des Nationalsozialismus geschehen ist, auch unter den nachwachsenden Generationen wachzuhalten.

Unsere Geschichte lehrt uns, nie zu vergessen, dass Freiheit, Toleranz und Menschlichkeit keine Selbstverständlichkeiten sind, sondern das Engagement jedes Einzelnen von uns voraussetzen. Deshalb bekämpfen wir entschieden Hass, Intoleranz, Diskriminierung, Ausgrenzung und Antisemitismus.

Deutschland übernimmt im zweiten Halbjahr 2020 den EU-Vorsitz. Welche Erwartungen haben Sie an Deutschland, damit die deutsche EU-Ratspräsidentschaft auch ein Erfolg für Europa wird?

Die deutsche Ratspräsidentschaft wird sich daran messen lassen müssen, ob es ihr gelingt, die richtigen Weichenstellungen für den weiteren europäischen Einigungsprozess zu stellen. Das ist eine Aufgabe für jede Ratspräsidentschaft, aber vor dem Hintergrund des Ausscheidens Großbritanniens erhält sie nun besonderes Gewicht. Die Fortsetzung des europäischen Einigungsprojektes ist heute noch dringender als vor dreißig Jahren.

Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft wird nicht zuletzt von den Verhandlungen über die künftigen Handelsbeziehungen zwischen der EU und Großbritannien geprägt sein. Wenn es gelingt, einen ungeregelten Binnenmarktaustritt des Vereinigten Königreiches zum 31. Dezember 2020 zu verhindern, dann wäre das durchaus ein Erfolg.

Die Zunahme protektionistischer Maßnahmen schwächt unsere multilaterale Weltordnung. Welchen Beitrag leistet die Konrad-Adenauer-Stiftung, um den Multilateralismus zu stärken – jetzt und in Zukunft?

Wir sind der Überzeugung, dass die Welt die großen Fragen unserer Zeit – Frieden und Stabilität, Migration, Klima, Handel, digitale Zukunft – nur gemeinsam lösen kann. Die Konrad-Adenauer-Stiftung betreibt daher zunächst Ursachenanalyse. Wir fragen, warum der Multilateralismus gegenwärtig so fragil ist und welche Folgen seine Verdrängung durch „bilaterale deals“ (US-Präsident Trump) für Deutschland und Europa haben kann. Dabei nutzen wir unsere über 100 Auslandsbüros und unsere internationalen Netzwerke.

Wir wissen, dass eine funktionierende multilaterale Weltordnung für Deutschland unerlässlich ist. Wir wollen den transatlantischen Dialog stärken und internationale Organisationen einbeziehen. Wir werden – besonders über unsere Büros an UN-Standorten in New York, Wien und Genf – einen verstärkten Fokus auf globale Herausforderungen, strategische Partnerschaften und multilaterale Dialogformate legen.

Außerdem begleiten wir Deutschlands Mitgliedschaft im UN-Sicherheitsrat 2019/20 mit unseren Aktivitäten. Denn hier liegt eine Chance, den „Münchener Konsens“ – mehr Verantwortung in der Welt zu übernehmen – mit Leben zu füllen.

In Zeiten von vielen nationalen und populistischen Alleingängen braucht der Multilateralismus eine starke Legitimität, vor allem auch in Deutschland.

Vielen Dank für das Interview Herr Prof. Dr. Lammert!

Quelle: Gesichter der Demokratie

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