Was kaum einer wusste, hat der ehemalige Ministerpräsident Edmund Stoiber im Interview verraten. Seit Jahren war er eng mit Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI. verbunden. Bei der feierlichen Matinee zum 95. Geburtstag von Papa emerito in Schloss Nymphenburg haben wir mit dem CSU-Politiker über den Jubilar gesprochen.
Welche Rolle spielt für Sie Papst Benedikt im 21. Jahrhundert?
Eine außerordentliche. Ich habe in meinen Leben keinen Menschen mehr getroffen habe, und ich habe viele hochstehende Persönlichkeiten kennengelernt, der die Komplexität des Glaubens und die einfache Botschaft miteinander vermitteln konnte, wenn er über Glauben und Vernunft auf höchstem intellektuellem Niveau gesprochen hat. Die Art seiner Botschaft, seiner Körpersprache, war so, dass er alle Menschen erreicht hat. Er hat ein Leben so vorbildlich für Jesus Christus, für das Christentum und für die christlichen Werte gelebt wie man sich das eigentlich kaum vorstellen kann. Für mich ist er eine der allergrößten Persönlichkeiten, die ich erleben durfte. Ich habe eine lange Vergangenheit mit ihm. Das muss ich sagen, weil das nicht bekannt ist.
Das müssen Sie uns erklären
Ich hatte mein erstes juristisches Staatsexamen in München gemacht. Mein Doktorvater war der Privatdozent Friedrich Christian Schröder, der Assistent bei Professor Reinhart Maurach war – und der hatte seinen ersten Ruf an die neue Universität Regensburg als Juraprofessor. Nach meinem Examen und als Doktorand hat er mich gebeten, ob ich nicht einmal in der Woche nach Regensburg fahren könne, um seine Studenten in den Übungen zu begleiten. Und viele der Studenten haben damals gesagt: Sie müssen mal zu Ratzinger gehen. Dann bin ich als Assistent in die Vorlesungen gegangen, die ungeheuer interessant waren. Es war eine Zeit nach den Studentenunruhen. Aber Ratzinger hatte eine Autorität und eine Begeisterung ausgestrahlt – und der Hörsaal war regelrecht überfüllt. Es sind alle gekommen. Ich war mindestens fünf bis sechs Mal bei ihm.
Als er dann Erzbischof in München und Freising war, habe ich ihn oft mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten Franz Joseph Strauß getroffen. Als ich dann Ministerpräsident 1993 wurde, hat mich der erste Besuch in den Vatikan geführt. Damals habe ich auch den Vorsitzenden der Glaubenskongregation, Joseph Ratzinger besucht. Und noch ein anderes kam hinzu, aber es passt.
Als neuer Ministerpräsident kam ich zur Ministerpräsidentenrunde, wo es um die Pflegeversicherung ging. Die Politik hatte damals zugesagt, einen Feiertag, den Pfingstmontag, für die Kosten der Pflegeversicherung zu opfern. Mein Vorgänger Max Streibl hatte mit dem Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg, Erwin Teufel, schon alles dafür in die Wege geleitet. Zum Thema hatte ich aber auf der ersten Sitzung gesagt: „das wird mit mir nicht zu machen sein“. Dies war dann ein großer Aufreger. In meiner Not habe ich dann den Vorsitzenden der Glaubenskongregation in Rom, eben Ratzinger, angerufen und habe ihn gefragt: „Ich höre dauernd, dass der Pfingstmontag nicht so liturgisch wertvoll wie der Pfingstsonntag oder der Ostermontag.“ Aber er hat mir dann gesagt. „Er lebe in Italien und dort gibt es schon lange mehr keinen Pfingstmontag. Was in der Gesellschaft passiert, dies müssen Sie einfach bewerten“, so sein Rat. Pfingsten, so die damalige Befürchtung von Ratzinger, wird ein normales Wochenende – es wird bald nicht mehr etwas Besonderes sein. Dies war für mich die wesentliche Argumentation. Dagegen musste ich was tun. Gegen Erwin Teufel habe ich mich dann durchgesetzt und er musste den Pfingstmontag wieder einführen.
Heide Simonis und Johannes Rau beispielsweise plädierten von evangelischer Seite dann für den Buß- und Bettag. Und ich habe gesagt: da könne man drüber reden.
Sie haben einmal in einem Beitrag in einem Buch, das Georg Gänswein herausgegeben hatte, gesagt: Politik könne Nachhilfe von der Kirche vertragen. Stimmt das auch heute noch?
Das ist natürlich immer so, aber im Moment eine große Schwierigkeit. Zu meinem schmerzlichen Erleben ist die Missbrauchssituation die größte Krise der Institution Kirche in den letzten zweitausend Jahren. Das muss jetzt angegangen werden. Aber das Entscheidende eigentlich ist, und da bin ich wieder bei Benedikt: Diejenigen, die heute Verantwortung tragen und die sich bewusst sind, dass dort schwere Fehler passiert sind, müssen das gegenüber den Betroffenen mit mehr Empathie begleiten. Es ist nicht nur eine Krise der Institution Kirche, sondern auch eine zutiefst menschliche, die man nur überwinden kann, wenn man mit mehr Einfühlungsvermögen an dieses Thema herangeht. Aber ich glaube, dies spüren jetzt alle. Ich persönlich gehe davon aus, dass die Kirche diese Krise übersteht. Sich mit Gott intensiv zu beschäftigen, sowohl wissenschaftlich als auch menschlich, bis hin zu einer Frömmigkeit des Vertrauens war immer auch ein Maßstab der Politik. Denn die Leidenschaft und die Inbrunst gehören in die Politik. Aber ebenso die Demut gegen die eigene Unvollkommenheit. Gerade diese vermisse ich oft im politischen Alltag.
Das Interview führte Stefan Groß
Das Interview wurde am Rande des Festaktes zum 95. Geburtstag von Joseph Ratzinger / Papst Benedikt XVI. am 18. Juni 2022 im Hubertussaal auf Schloss Nymphenburg in München geführt.