Interview mit dem Präsidenten des Europäischen Parlamentes Martin Schulz: Wir brauchen eine europäische Veränderung

Martin Schulz im Interview mit Stefan Groß

Herr Präsident, Sie sind ein Bücherwurm und waren Buchhändler. Was bedeutet Freiheit im 21. Jahrhundert? Ist Freiheit, wie es Hegel formulierte, Einsicht in die Notwendigkeit?

Das ist es sicher auch! Aber Freiheit im 21. Jahrhundert heißt insbesondere im digitalen Zeitalter, indem wir uns befinden, die Würde des Menschen zu achten, und das Freiheitsrecht, das Selbstbestimmungsrecht, das Recht auf Schutz vor Verletzung der Würde des einzelnen Menschen zu sichern.

Stefan Zweig sprach in seiner Autobiographie „Die Welt von Gestern“, von einem Europa, das es nur noch in der Vergangenheit gibt, weil epochale Kriege diese Idee destabilisiert haben. Ist dieses Szenario von vor 100 Jahren heute wieder Realität?

Ich habe dieses Buch mit großer Aufmerksamkeit gelesen. Viele Passagen dieses Buches können wir durchaus auf die heutige Zeit anwenden. Dieser Umbruch, den gerade auch die Menschen der Donaumonarchie um den Jahrhundertwechsel vom 19. ins 20. Jahrhundert erlebt haben, diese untergehende Welt, dieses Gefühl des Zerbröselns der ewigen Ordnungen, die für unverrückbar galten, hatte aber einen entscheidenden Unterschied zu unserer Zeit. Die Ordnung, die beim Wechsel vom 19. ins 20. Jahrhundert zu Ende ging war eine, die über Jahrhunderte hinweg bestanden hat. Schon am Wechsel vom 20. ins 21. Jahrhundert zeigt sich aber eine extreme Beschleunigung. Deshalb kann man das nicht unmittelbar vergleichen. Wir leben in einer Phase, wo dieses Europa, das sich langsam entwickelt hat, jetzt einem radikalen Beschleunigungsprozess unterworfen wird. Vielleicht müssten wir mehr Mut zur Entschleunigung aufzubringen. Vielleicht müssten Politikerinnen und Politiker auch den Mut zu sagen, ich habe nicht auf jedes auftretende Problem sofort eine Antwort.

Michel Houellebecq hat in seinem Roman „Die Unterwerfung“ das Ende des laizistischen Europas vorgezeichnet und spricht von einer Islamisierung der französischen Nation. Handelt es sich Ihrer Meinung um eine realistische, oder unrealistische Fiktion?

Ich habe selten erlebt, dass ein Romanwerk wie das von Houellebecq, das ein Untergangszenario par excellence entwirft, so erfolgreich und gleichzeitig so unrealistisch war. Warum das so ist, kann man so erklären: Was er beschreibt, wird so nie Wirklichkeit werden. Aber er greift eine tief Angst und Verunsicherung auf, ohne dem eine positive Botschaft entgegen zu setzen. Die Reaktion auf sein Buch und die Angstbesetztheit, die in seinem Roman auch zum Ausdruck kommt, muss man ernst nehmen.

Der verstorbene Bundeskanzler Helmut Schmidt hatte mehrfach die bundesdeutsche Asylpolitik kritisiert und einen radikalen Kurswechsel bei der Ausländerpolitik gefordert. Wie aktuell ist Schmidt?

Wir brauchen nicht eine bundesdeutsche Veränderung, wir brauchen eine europäische Veränderung! Was wir brauchen ist ein europäisches Einwanderungs- und Asylrecht. Die Flüchtlingskrise zeigt uns doch ganz deutlich dass wir auf ein globales Phänomen wie die Flüchtlingsbewegungen keine nationalen Antworten geben können. Das geht nur im europäischen Verbund. Und doch erleben wir, wie in vielen Ländern der Vorrang des Nationalen und des nationalen Alleingangs vor der gemeinschaftlichen Lösung obsiegt. Diese Entsolidarisierung schadet uns allen, gerade aber auch den Menschen, die bei uns Schutz suchen.

26 Jahre Deutsche Einheit. Auch nach dieser langen Zeit gibt es immer noch Differenzen zwischen Ost und West. Wie soll ein Europa der verschiedenen Kulturen und Religionen zusammenwachsen, wenn dies schon bei den Deutschen so schwierig war?

Die Wiederherstellung der Deutschen Einheit und die Wiederherstellung der europäischen Einheit sind epochale Schritte. Die Welt ist heute in einer tiefen Veränderung. Sie ist nicht mehr eurozentristisch. Europa ist ein Teil, nicht der Teil dieser Welt. Und deshalb werden wir uns sowohl als Europäische Union, im Verhältnis zu anderen Regionen aber auch nach Innen einen permanenten Veränderungsprozess unterwerfen müssen.

 

Fragen: Stefan Groß

 

Der SPD-Europapolitiker Martin Schulz wurde 1955 geboren. Schulz ist seit 2012 Präsident des Europäischen Parlamentes und war seit der Europawahl 2004 Vorsitzender der Fraktion der Sozialdemokratischen Partei Europas (SPE). Schulz trat 1974 der SPD bei und wurde 1987 mit 31 Jahren jüngster Bürgermeister Nordrhein-Westfalens (Würselen). 1994 zog Schulz in das Europaparlament ein und ist seit 1999 Mitglied des SPD-Parteivorstandes und des Parteipräsidiums. Martin Schulz ist verheiratet und hat zwei Kinder.

Der Text erschien zuerst auf „The European“

Über Stefan Groß-Lobkowicz 2157 Artikel
Dr. Dr. Stefan Groß-Lobkowicz, Magister und DEA-Master (* 5. Februar 1972 in Jena) ist ein deutscher Philosoph, Journalist, Publizist und Herausgeber. Er war von 2017 bis 2022 Chefredakteur des Debattenmagazins The European. Davor war er stellvertretender Chefredakteur und bis 2022 Chefredakteur des Kulturmagazins „Die Gazette“. Davor arbeitete er als Chef vom Dienst für die WEIMER MEDIA GROUP. Groß studierte Philosophie, Theologie und Kunstgeschichte in Jena und München. Seit 1992 ist er Chefredakteur, Herausgeber und Publizist der von ihm mitbegründeten TABVLA RASA, Jenenser Zeitschrift für kritisches Denken. An der Friedrich-Schiller-Universität Jena arbeitete und dozierte er ab 1993 zunächst in Praktischer und ab 2002 in Antiker Philosophie. Dort promovierte er 2002 mit einer Arbeit zu Karl Christian Friedrich Krause (erschienen 2002 und 2007), in der Groß das Verhältnis von Metaphysik und Transzendentalphilosophie kritisch konstruiert. Eine zweite Promotion folgte an der "Universidad Pontificia Comillas" in Madrid. Groß ist Stiftungsrat und Pressesprecher der Joseph Ratzinger Papst Benedikt XVI.-Stiftung. Er ist Mitglied der Europäischen Bewegung Deutschland Bayerns, Geschäftsführer und Pressesprecher. Er war Pressesprecher des Zentrums für Arbeitnehmerfragen in Bayern (EZAB Bayern). Seit November 2021 ist er Mitglied der Päpstlichen Stiftung Centesimus Annus Pro Pontifice. Ein Teil seiner Aufsätze beschäftigt sich mit kunstästhetischen Reflexionen und einer epistemologischen Bezugnahme auf Wolfgang Cramers rationalistische Metaphysik. Von August 2005 bis September 2006 war er Ressortleiter für Cicero. Groß-Lobkowicz ist Autor mehrerer Bücher und schreibt u.a. für den "Focus", die "Tagespost".

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