Interview mit dem Literaturkritiker und Autor Denis Scheck: Der Nobelpreis ist überbewertet

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Sehr geehrter Herr Scheck, Sie veröffentlichen gerade Ihr Buch Schecks Kanon – die 100 wichtigsten Werke der Weltliteratur (Piper). Selbst stellen Sie die Frage, ob ein Kinderbuch zur Weltliteratur zählen kann. Offensichtlich beantworten Sie diese Frage mit „Ja“, da Sie mit Astrid Lindgrens Karlsson vom Dach beginnen, der in Ihren Augen etwas von 1968 umweht. Vielleicht ist die Verwischung der Kinder-Erwachsenen-Apartheid nicht zuletzt durch die Greta-Bewegung aufgehoben. Warum gelten Kinderromane in den Augen einiger Kritiker als nicht satisfaktionsfähig?

Auch wenn es im Moment nicht so aussieht, werden solche Grenzen in unserem Leben immer unwichtiger. Nicht nur die zwischen Kinder- und Erwachsenenliteratur verschwimmt, denken Sie nur an die „Peanuts“ von Charles M. Schulz und die Entenhausen-Comics von Carl Barks, die ich ja beide in meinen Kanon aufgenommen habe. Es ist kein Zufall, daß die Grenzen zwischen den Geschlechtern genau so verschwimmen wie die zwischen Sachbuch und Belletristik. Ganz sicher ist die Zeit strikter E- und U-Unterteilungen abgelaufen. Ich will ja einen «wilden» Kanon vorschlagen, der weder Sprach- noch Genregrenzen respektiert und Essais neben Comics, Theaterstücke neben Krimis, Lyrik neben Romanen und Sachbüchern präsentiert. Ein Kanon so bunt wie das Leben von uns Leserinnen und Lesern.

Sinngemäß hieß es von Otto von Bismarck, dass niemand wissen wolle, wie man Krieg, Wurst und Gesetze produziere. Nun scheint mir im Öffnen dieser Blackbox das Besondere an Ellis Roman zu liegen, weniger in einem Antikapitalismus-Motiv. Pflichten Sie mir bei?  Was gefällt Ihnen an diesem Buch so sehr?

Ich habe ja einen Jagdschein und mache Wurst gern selbst. Insofern muß ich das Bismarck-Zitat, so schön es klingt, leider zurückweisen: mich interessiert als passionierter Hobbykoch durchaus, wie man eine Blutwurst vom Hirsch so würzig hinbekommt, daß sie die ideale Ergänzung zu einer gebratenen Jakobsmuschel darstellt. Und Bret Easton Ellis‘ brillante und bitterböse Satire halte ich in der Tat deshalb für relevant, weil sie die Schattenseite unseres Wirtschaftssystems recht präzise in den Blick nimmt. Allerdings braucht man für manche Wahrheiten starke Nerven.

Sie würdigen Übersetzer. Was ist die Kunst, Texte aus einer US-amerikanischen Normalität ans andere Ufer überzusetzen, also ins Deutsche zu übersetzen? Donald Duck wird bei Ihnen paradigmatisch als gelungenes Beispiel angeführt, für die Dr. Erika Fuchs verantwortlich zeichnete. In welche Fettnäpfchen kann der Übersetzer treten beziehungsweise welche Klippen muss er umschiffen?

Darüber kann man Habilitationen schreiben und wochenlange Symposien veranstalten. Im Europäischen Übersetzer-Kollegium in Straelen am Niederrhein geschieht dies auch. Dort habe ich über zehn Jahre lang gewohnt und mir Tag für Tag den Respekt vor diesen unbesungenen Helden des Literaturbetriebs erworben. Jeder literarische Übersetzer, jede literarische Übersetzerin hat ihre eigenen Strategien. Mir war immer die Wirkungsäquivalenz am wichtigsten und schlug im Zweifelsfall auch den Anspruch auf Werktreue: wenn Shakespeare an dieser Stelle im Stück einen Witz im Original macht, möchte ich auch im Deutschen an dieser Stelle lachen können. Und wenn Dr. Erika Fuchs statt eines schlichten englischen „No!“ ihrem Onkel Dagobert ein „Mitnichten!“ in den Schnabel legt, dann kann man daran die ganze große Kunst des Literaturübersetzens ermessen.

Sie nennen Huckleberry Finn die Gründungsurkunde US-amerikanischer Literatur. Überhaupt habe ich bei meinen US-Aufenthalten den Eindruck, man verehrt Mark Twain vielleicht noch mehr als den ebenfalls in Ihrem Kanon vorkommenden Hemingway. Was ist an der eigentlich doch so simplen Geschichte von Huckleberry Finn bahnbrechend?

Hemingway sagte ja schon, daß die ganze US-amerikanische Literatur von einem einzigen Werk abstamme, eben Huckleberry Finn. Ich glaube, die literarische Bedeutung liegt neben dem anarchischen Witz in dem utopischen Vorschein, den Mark Twains Roman auf das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Hautfarben in den Sznenen auf dem Floß entwickelt.

Was sind Ihre Kriterien gewesen bei der Erstellung des Kanons? Jules Verne und Agatha Christie attestieren Sie ja ganz offen stilistische Mängel. Dennoch schafften sie es auf die Liste.

Ich war ja mal Rettungssanitäter, und da lernt man die Kunst der Triage. Also die schnelle Unterscheidung zwischen den Fällen, denen man sofort helfen muß, den Fällen, denen später geholfen werden kann, und den Fällen, denen man gar nicht hilft, weil sie als unrettbar abgeschrieben werden. Das ist hart, geht aber in Situationen mit knappen Ressourcen nicht anders. Im Grunde habe ich die Weltliteratur einer ähnlichen Sichtung unterzogen: was ist lebendig, was literarisches Totholz? In erster Linie mußte mir jedes Werk eine einzige Frage beantworten: Sehe ich nach der Lektüre dieses Textes die Welt anders als zuvor.

Effi Briest hat doch etwas sehr Subversives. Eigenartige Namen wie Sidonie und von Innstetten klingen doch etwas wie Sodomie und Inzest. Ich erinnere mich jedenfalls, dass mein alter Deutschlehrer das hineininterpretiert hatte. Ist diese Mischung bei Fontane, nämlich scheinbar bürgerlich, andererseits vieldeutig subversiv ein Grund, warum Sie ihn mögen?

Fontane lesen ist auf jeden Fall ein Training der literarischen Achtsamkeit. Haben Sie den Sex bemerkt, den Effi mit Crampas in den Dünen hat? Ich bei der ersten Lektüre nicht. Fontane ist ein Großmeister der Dezenz. Mir gefällt er besonders gut als Chronist der ungeheuren Akzeleration, die seine Gesellschaft erfaßt hat, der enormen dadurch erzeugten sozialen Drift. Aber man sollte sich Fontanes niemals zu sicher sein. Der Alter überrascht mich noch jedesmal, wenn ich in seinen Kosmos eintauche. Wir kennen ja nur einen Bruchteil dessen, was er geschrieben hat – die militärhistorischen Schriften sind ja noch nicht ediert. Mich hat in letzter Zeit am meisten der Ehebriefwechsel mit Emilie fasziniert.

Nun nennen Sie David Foster Wallace den Autor, der das neue Jahrhundert eingeleitet hat. In diversen Buchclubs – so auch bei uns im Ort – wird „Unendlicher Spaß“ als bahnbrechend bezeichnet. Nun drei Fragen: warum ist Foster Wallace in den letzten zwei bis drei Jahren sogar eher ein Thema als vorher, nachdem es eine Zeitlang nach seinem Tod recht ruhig war? War er seiner Zeit voraus? Was macht ihn zum Autor der Jahrtausendwende?

Zusammen mit dem Chilenen Roberto Bolano markiert für mich das Werk von David Foster Wallace ein riesiges Hinweisschild ins nächste Jahrtausend mit der Aufschrift „Hier geht’s lang!“ Das liegt zum einen an dem technischen Feuerwerk, das er in seinen Großromanen abbrennt. Ich schätze aber auch besonders die kürzeren, essayhaften Texte und Reportagen wie „Schrecklich amüsant aber in Zukunft ohne mich“ und „Am Beispiel des Hummers“. Es ist kein Zufall, daß ich mit diesen Texten jeweils Buchreihen, die ich herausgab, einleitete. Was nun das Auf und Ab der Kurse eines verstorbenen Autors an den Literaturbörsen angeht: meistens wird es nach dem Tod um einen Autor 20, 30 Jahre eher still, dann erweist sich, ob er oder sie Anschluß an die Gegenwart findet. Durch den spektakulären Suizid lief das bei Foster Wallace aber etwas anders.

Sie nehmen von Kleists Michael Kohlhaas natürlich in den Kanon auf. Matthias Hartmann, ehemaliger Burg-Theater-Direktor hatte am Schauspielhaus Düsseldorf Kohlhaas vor zwei Jahren als einen inszeniert, der sich zurecht wehrt, sich eigentlich schon fast zu viel hat bieten lassen. Könnte man Kohlhaas nicht auch andererseits als Verherrlichung des Typus Wutbürger, als Hater sehen, als zeitgemäßen Spaltbürger? Wie würden Sie ein Theaterstück über Kohlhaas heute akzentuieren?

Mir war Kohlhaas immer unheimlich. Sein ach so sensibles Rechtsgefühl führt ihn in ein Schrumpfdenken, das ich immer mit der RAF assoziiert habe. Ich habe ja meinen Magister über diese Novelle von Kleist geschrieben, ihre lateinischen Quellen und ihr Fortleben in E. L. Doctorows Roman „Ragtime“.  Als Intendant würde ich wohl Daniel Kehlmann ans Theater einladen und ihn fragen, ob er nicht Lust hätte, einen Kohlhaas der Gegenwart zu schreiben.

 Bei Philip Roth sind Sie nicht der einzige Kritiker des Nobelpreiskomitees, der es als Skandal empfindet, dass jahrzehntelang nie den Preis erhalten hatte. So unterhielt ich mich mit Norbert Bolz hierüber, der das Komitee seither nicht ernst nehmen kann. Warum bekam Roth den Preis nicht? Der menschliche Makel allein wäre ja schon preiswürdig gewesen.

Och, den Literaturnobelpreis konnte man noch nie ernst nehmen. Arno Schmidt nannte ihn mal „das Stigma der Mittelmäßigkeit“, das trifft es ja recht gut. Die großen Prosa-Innovatoren des 20. Jahrunderts, Proust, Joyce, Kafka, Nabokov, Schmidt, sind alle ohne Literaturnobelpreis in die Grube gefahren. Und Roth nun eben auch. Ich war ja ganz gut mit ihm bekannt und kann erzählen, daß ihn das schon gefuchst hat. Ich möchte nicht wissen, mit welchen Gedanken er an dem Tag zu Bett ging, an dem er die Nachricht von der Auszeichnung von Bob Dylan mit dem Preis erfahren hat. Aber wie schreibt mein anderer amerikanischer Lieblings William Gaddis so schön in seiner Justizsatire „In letzter Instanz“: „Gerechtigkeit? Gerechtigkeit gibt es im Himmel, hier auf Erden gibt es das Recht.“ Es gibt keinen Rechtsanspruch auf Anerkennung.

Bei Shakespeare, Wilde, Brecht und den Brüdern Grimm haben Sie Werke in den Kanon aufgenommen, die nicht das Bekannteste ist, was der jeweilige Autor zu bieten hatte. Dient der Kanon auch zur Ermunterung, eben nicht nur das eine Buch des jeweiligen Schriftstellers zu lesen?

Auch deshalb unterstreiche ich das Wilde, Ungezähmte dieses Kanonversuchs. Der Lyriker Brecht schlägt den in meinen Augen oft unerträglich didaktischen Dramatiker um Längen. Und das Zaubermärchen „Der Sturm“ ist mir auch sehr viel näher als Shakespeares Königsdramen. Wenn wir uns wirklich für das Werk eines Autors zu interessieren beginnen, möchten wir am Ende meist ja auch noch den letzten Einkaufszettel lesen. So geht es mir mit Arno Schmidt und Fontane, zum Beispiel.

Mit Simone de Beauvoir, Voltaire und Nietzsche kommen im Mittelteil Ihres Buches auch Philosophen zu Wort. Man sagt ja Deutschland einen Hang nach, unnötig zwischen E- und U-Musik zu unterscheiden. Gilt Nämliches auch für die Trennung von Philosophie und Literatur, nach dem Motto Dichter und Denker – das sind ja gleich zwei Wünsche auf einmal?

Da werden Ihnen die analytischen Philosophen in den USA etwas Husten, für die ist Dichtung bestenfalls Geschwätz. Aber es gibt nun mal enge Beziehungsgeflechte zwischen Hölderlin und Heidegger, Nietzsche und Martin Walser, Adorno und Silvia Bovenschen, und denen darf man sich denkend lustvoll hingeben.

Was gefällt Ihnen an Harry Potter?

Daß J. K. Rowling in einer Zeit, als man das Medium Buch fast schon totgesagt, ihm jedenfalls die Fähigkeit, echte Blockbuster zu produzieren, abgesprochen hat, das Gegenteil bewiesen hat. Mal abgesehen davon, daß einige Ihrer Ideen wie etwa die blutsaugende Feder, die durch Eulen überbrachten „Heuler“ oder die bissigen Bücher Hagrifs, wirklich lustig sind.

Welche Bewandtnis hat es mit der Zeichnung von Goethe als Mephistopheles in Mr. Burns Körperhaltung (à la Simpsons) und dem daneben hängenden Portrait des Dichters in Normal-Haltung?

Das müssen Sie ja meinen wunderbaren Illustrator Torben Kuhlmann fragen. Aber die Idee, Goethe auch als Mephistopheles darzustellen, kam zugegebenermaßen von mir, ursprünglich war das anders. So fand ich es beziehungsreicher.

Warum schafft es Herta Müller im Gegensatz zu Böll, Grass, Jelinek und Schiller auf Ihre Liste. Anders gefragt: warum schaffen es Böll, Grass, Jelinek und Schiller eben nicht?

Sie haben recht: ein Kanon ohne Max Frisch, Dürrenmatt, Grass und Heinrich Heine, das geht eigentlich nicht. Aber wenn ich im Kanon Platz schaffen möchte, um Genres wie das Sachbuch, Comics, Krimis und Science Fiction aufzunehmen, zudem unseren eurozentrischen Blick etwas zu weiten versuche, und ich denn auch noch sehr viel mehr Frauen in den Kanon aufnehmen möchte, als das bislang geschah, dann müssen da einige Haushaltsnamen aus dem 20. Jahrhundert weichen. Bei Heinrich Böll fiel mir das leicht, denn von ihm schätze ich eigentlich nur die frühen Satiren. Bei Walser und Grass macht mir das schon weit mehr zu schaffen – ich habe gerade „Die Blechtrommel“ wieder gelesen und denke, darauf zu verzichten war ein Fehler.  Aber so grausam ist das Kanonspiel nun mal.

Sie empfehlen jeden Autor höchstens mit einem Buch. Bei wem hätten Sie auch zwei oder drei Werke aufnehmen wollen?

Bei Flaubert und Fontane fiel mir die Wahl sehr schwer, auch bei Sayers und Shakespeare, Arno Schmidt und Oscar Wilde. Am allerschwersten war aber die Entscheidung für nur eine Entenhausen-Geschichte von Carl Barks.

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