„Hallo da draußen, geht es noch? Ich glaube, wer mir regelmäßig zuhört, kann selber nicht ganz richtig im Kopf sein. Wenn es jemanden gibt, der hier am Ball bleibt, würde ich ihn ziemlich gern kennenlernen, selbst wenn es keine schöne Frau ist. Aber im Augenblick bleibe ich lieber so isoliert, wie ich jetzt bin. Keine Lust, dass mich Lisa statt der schönen Frau besuchen kommt. Na ja, vielleicht ist die auch schön. Andererseits, bei dem Alter.“
Direkt, offen, mit einem Hang zu wunderbar bizarrem Humor und immer ein bisschen kryptisch… Genau so liest sich ein echter Glavinic. Sein Protagonist ist, wie schon in „Die Arbeit der Nacht“, seinem großartigen Roman aus dem Jahr 2006, wieder einmal allein. Fast allein. Nur seinen achtjährigen Sohn hat er bei sich, in dieser abgeschiedenen Berghütte, in die er sich zurückgezogen hat, in die er geflüchtet ist. Irgendetwas lauert da draußen auf ihn, eine unbestimmte Gefahr, eine brutale Serienmörderin, der man den Namen Lisa gibt und die ihr Unwesen auf der ganzen Welt treibt. DNA-Spuren dieser Frau sind im Lauf vieler Jahre nahezu bei allen Verbrechen gefunden worden. Nun scheint sie es auf ihn abgesehen zu haben. Die Anzeichen mehren sich. Die Paranoia wächst. Zumal der mit dem Fall betraute Kriminalist und mittlerweile zum Freund fungierte Hilgert seit einigen Wochen wie vom Erdboden verschluckt zu sein scheint. Hat Lisa etwa wieder zugeschlagen?
Der Leser schlüpft in die Rolle eines Internetradio-Hörers, der sich als stummer Teilhaber des spinnerten Monologes von Glavinics Ich-Erzähler, einem Computerspiele-Tester, versteht („Ich rede ja nur noch Blödsinn. Ihr versteht es hoffentlich trotzdem.“). Jener stöpselt jeden Abend seinen Computer an, betäubt sich mit Whisky, Wein und schlimmeren Drogen und bedient derart zugedröhnt seine Zuhörerschaft mit der Analyse der mysteriösen Mordfälle. „Ich drehe sicher nicht durch, ich habe überhaupt keine Lust dazu. Deswegen rede ich hier hinein, damit das nicht passiert, damit ich wenigstens das Gefühl habe, noch im Kontakt mit Menschen zu stehen. (…) Es ist, als ob mir nichts passieren könnte, solange ich hier sitze und rede, rede, rede. Alles ist gut, solange ich durch dieses Gerät mit einem kleinen Ausschnitt der Welt kommuniziere. Zu dem du, mein Zuhörer, gehörst.“
Lisas Ermittlungsgeschichte und das langsame, systematische Herantasten an die Aufdeckung ihrer mysteriösen Identität ziehen sich wie ein roter Faden durch den Roman und bilden das Grundgerüst desselben. Um dieses orakelhafte Szenario herum lässt der österreichische Autor seine literarische Figur, die wohl einige Gemeinsamkeiten mit seinem eigenen Ich aufweist, über diverse Gedankengänge und Alltagsgegebenheiten philosophieren („Bei mir sind es ausnahmslos Seltsamkeiten“). Immer wieder unterbrochen von diversen Kokaineinwürfen, wechselt der Ich-Erzähler von A nach S, um über R und einem Abstecher nach F letztendlich zu B zurückzufinden. Auf den ersten Blick muten diese Assoziationen alle etwas konfus an, aber in Wirklichkeit liegen unter ihrer Oberfläche vielfältige und tiefgängige Betrachtungen der Gesellschaft und ihrer „Vertreter“, der Menschen. Ein Kontrapunkt zu Lisas ominöser Präsenz.
Thomas Glavinic versteht es erneut mit seiner knappen, klaren, zuweilen ziemlich derben und direkten Sprache, auf faszinierende Art und Weise ein Gefühl der unterschwelligen Beklemmung zu erzeugen. Seine auf den ersten Blick konfus erscheinenden Gedankengänge, die vielfach einen wunderbaren Humor offerieren, erweisen sich in Wirklichkeit als spitznadelige Reflexion. Unterschiedlichste Themengebiete spricht er an, sei es nun die Schönheit von Frauenfüßen, abgehobenes Esskulturgefasel, Kindererziehung und Krebs. Er witzelt über Perfomancekünstler, Sex, Bobos, Männerfantasien und allerlei andere Alltagsereignisse. Über allem kann man jedoch drei zentrale Themen ausmachen, mit denen sich der Autor bis dato in all seinen Romanen auseinandersetzte: Angst, Einsamkeit und Liebe.
Letztendlich kumuliert auf der letzten Seite alles zu einer rätselhaften Entdeckung. Oder war doch alles nur ein Spiel, ein Traum? Vielleicht gaukelt uns die Realität nur gefälschte Bilder und Filme vor? Wie definiert sich überhaupt Realität? Glavinics Ich-Erzähler fasst es treffend zusammen: „Vielleicht bin ich ein Spinner, der sich hier oben seine Phantasien zimmert. Vielleicht aber auch nicht. (…) Die Wirklichkeit ist nun mal das, was man aus ihr macht.“ Sein Protagonist ist offensichtlich der Wächter dieser Faktizität: „Ich bin der, der oben auf den Zinnen lauert und mit einer Flinte runterschießt auf alle diejenigen, die nicht verstehen… denn ich ertrage alles, aber Unverständnis… Unverständnis aus Denkfaulheit heraus, das nicht… ich mag die, die offen sind und zu verstehen versuchen, und ich verabscheue die, die meinen, schon alles zu wissen…“
Der Österreicher treibt einmal mehr ein psychologisch fintenreiches Spiel mit dem Leser. „Ich bilde mir nicht ein, wahnsinnig viel über die Menschen zu wissen.“, so beginnt Thomas Glavinic seinen Roman. Ich stelle diesen Satz hintenan und dementiere ihn: Oh doch, das tut er!
Thomas Glavinic
Lisa
Carl Hanser Verlag, München (Februar 2011)
204 Seiten, Gebunden
ISBN-10: 3446236368
ISBN-13: 978-3446236363
Preis: 17,90 EURO
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