Ingo Friedrich: Europawahl 2014: Der Pyrrhussieg der Europagegner

Der Ausgang der Europawahl 2014 wird von Beobachtern in allen europäischen Hauptstädten immer noch intensiv analysiert und diskutiert, allerdings mit sehr unterschiedlichen Ergebnissen. Nur zu einem Punkt gibt es eine einhellige Meinung über alle politischen Lager hinweg: Die Europawahl 2014 hat national und europäisch dramatische und langfristig wirkende Konsequenzen, vielleicht sogar bis zum erstmaligen Austritt eines Mitgliedslandes wie England.
Hundert Jahre nach Ausbruch des „großen Krieges“ 1914 stellen sich in Europa ein weiteres Mal epochale Fragen:
– an welchem Gemeinwohl sollte sich seriöse Politik heute ausrichten: am europäischen oder nationalen? Und zwar dann, wenn es zwischen beiden einen Dissens gibt!
– gibt es neben dem völkerrechtlich definierten Staatsbürger heute schon den civis europae, also den Bürger der Europäischen Union und wenn ja in welcher der beiden Bürgerrollen hat er an der Europawahl teilgenommen?
Für die Europagegner liegen die Antworten auf der Hand: Natürlich ist das nationale Gemeinwohl entscheidend und natürlich gibt es nur den Staatsbürger eines Nationalstaates. Die Realität der nächsten Jahre und Jahrzehnte wird genau das Gegenteil beweisen, auch wenn damit – vielleicht zum ersten Mal in der Geschichte – die Realität dem Denken breiter Bevölkerungsschichten um Jahre vorauseilt. Die mittel- und langfristigen Konsequenzen der Europawahl und insbesondere die nicht zu stoppende dynamische Entwicklung der globalen Wirklichkeit in den Bereichen Wirtschaft, Wissenschaft und Internet mit intensiver Vernetzung privater und geschäftlicher Kontakte, sowie die Globalität der Finanzwelt und die Probleme der gemeinsamen Sicherheit und der gemeinsamen Energieversorgung für die westliche Welt erfordern zwingend eine Vielzahl neuer gemeinsamer Regeln, eine neue – demokratische – Legitimation gemeinsamer Gremien und Repräsentanten auf „internationalen“ Ebenen. Ganze nationale Rechtsgebiete werden dadurch praktisch ausgehebelt, weil die nationale Ebene mit der Bewältigung dieser Themen völlig überfordert wäre.
Der hohe Anteil europakritischer Abgeordneter bzw. von Europagegnern im neuen Europäischen Parlament wird die Vertreter der anderen Parteien zur europapolitischen Zusammenarbeit geradezu zwingen und zwar in inhaltlichen und personellen Fragen. Faktisch wird die Bedeutung der europäischen Ebene, der europäischen Themen und das Interesse der Öffentlichkeit an Europa deutlich zunehmen. Als Effekt der ach so europakritischen Wahl wird letztlich in der Praxis ein „mehr Europa“ auf allen Ebenen und Gebieten herauskommen. In diesem Sinne war die Wahl ein Pyrrhussieg der Europagegner, denn sie wollten ja genau das Gegenteil erreichen: Sie wollten mehr Nationalstaat und bekommen stattdessen mehr Europa, wohlgemerkt: nicht aus böser Absichtoder antidemokratischer Reaktion, sondern aus purer Wirkung der unvermeidbaren Realität.

Konkret wird die Zukunft wie folgt aussehen: Zum ersten Mal wird ein von europäischen Bürgern gewählter Kommissionspräsident in Brüssel amtieren, das neue EU-Parlament wird eine wesentlich höhere Autorität besitzen, die nationalen Regierungen werden weiterhin Einfluss und Macht zugunsten von „Brüssel“ verlieren. Die Medien werden europäische Themen viel intensiver diskutieren bis hin zu einer sich herausbildenden europäischen Öffentlichkeit.

Das zu erwartende neue Arbeitsprogramm von Kommission und Parlament wird sich notwendigerweise an einem durch Diskussion definierten europäischen Gemeinwohl und nicht an einem nationalen Gemeinwohl ausrichten. Diese Entwicklung kommt nicht deshalb zustande weil in den EU-Verträgen von der immer engeren Union die Rede ist, sie kommt auch nicht, weil dies den heißen Wünschen der Bürger entspricht, sondern sie kommt, weil nur so elementare Herausforderungen und Probleme für die Menschen in Europa bewältigt werden können. Eine Probe aufs Exempel für diese These möge uns hoffentlich erspart bleiben. Umgekehrt wird das EU-Parlament nicht mehr quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit schwierige Entscheidungen kurz entschlossen und zügig über die Bühne wuppen können. Das wird schon bei der Auseinandersetzung um das US-Freihandelsabkommen TTIP deutlich zum Ausdruck kommen.
Klar zu unterscheiden von diesem allgemeinen Brüssel-Trend sind die notwendige Kritik an der Detailversessenheit vieler europäischer Entscheidungen und der einzufordernde Mut dann europäisch zu handeln, wenn die Nationalstaaten mangels Masse ihre Bürger nicht mehr schützen können.
Und es bleibt ein großer Erklärungsbedarf: Auch ein hoch motiviertes und verantwortungsvolles EU-Parlament und eine von den Bürgern gewählte EU-Kommission werden immer und immer wieder erklären müssen, dass europäische Entscheidungen stets Kompromisse sind, die sehr unterschiedliche Interessen bündeln müssen, und deshalb oft von niemandem gemocht werden. Mit Kompromissen sind häufig alle Beteiligten „mäßig unzufrieden“.
Europa bleibt insofern schwierig aber unverzichtbar zur Sicherung unserer Zukunft.

Über Ingo Friedrich 62 Artikel
Dr. Ingo Friedrich war von 1979-2009 Abgeordneter des Europäischen Parlaments, von 1992 bis 1999 Vorsitzender der CSU-Europagruppe im Europäischen Parlament. Er war Schatzmeister der Europäischen Volkspartei (EVP) und Präsident der Europäischen Bewegung Bayern. Seit 2009 ist er Präsident des Europäischen Wirtschaftssenats. Von 1999-2007 war Friedrich einer der 14 gewählten Vizepräsidenten des Europäischen Parlaments. 2004 erhielt er das Große Bundesverdienstkreuz. Friedrich ist Ehrenmitglied des Europäischen Parlaments und war Präsident der Wilhelm Löhe Hochschule.

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