Zufall oder Fügung? Nach der Rückkehr aus Salzburgs Großem Festspielhaus am 3. August 13 Uhr ist in der Tageszeitung von einem Appell eines alten Patienten an seinen Hausarzt zu lesen: „Wen sie könen bitte helfen Sie mir ich bin in Todesnoth.“ In diese war man wenig vorher von Pultstar Franz Welser-Möst und den ihn verehrenden Wiener Philharmonikern gebracht worden – nicht real, sondern musikalisch – in einem Festspielkonzert mit drei Kompositionen, die „Todesnoth“ schildern: Richard Wagners „Parsifal“-Vorspiel (UA 1882), Richard Strauss` „Tod und Verklärung“ (UA 1890) und Dmitri Schostakowitschs „Symphonie Nr. 14 op. 135“ (UA 1969).
Dass der gescheite, feinfühlige Chef des ihm bereits 18 Jahre gehorchenden Cleveland Orchestra keine Lücke ließ zwischen dem letzten Ton des „Parsifal“-Vorspiels und dem ersten Ton von Strauss` „Tondichtung für großes Orchester op. 24“, leuchtete unmittelbar beim Hören ein: Der Übergang ist weich. Ist gleitend. Von der Erlösung in den Todeskampf. So – und umgekehrt – sollte das verstanden werden. Es gibt keine Erlösung ohne „Todesnoth“, keine „Todesnoth“ ohne Erwartung einer Erlösung. Im 3. Aufzug erlebt Wagners Held die Verklärung, die der dem Tod Ringende bei Strauss – oder von Strauss? – am Ende des stark an die Nerven greifenden Tongemäldes in Aussicht gestellt bekommt. Erschüttert und schweißgebadet verließ man den Konzertsaal, Gewitterleuchten aus tiefdunklem Gewölk über Stadt. „Wen sie könen bitte helfen Sie mir ich bin in Todesnoth.“ Ich war in einer Art Todes-„Not“.
Und stürzte mich – wurde gestürzt, von einem auf 19 Mann geschrumpften Wiener Philharmoniker-Körper, in erneute Todesnöte. Todesqualen. Todes-Drohungen. Schostakowitsch bediente sich bei vier Dichtern, die ihm, dem schwer leidenden Komponisten, elf „Gesänge“ für seinen symphonischen Zyklus schenken sollten. Die Anregung kam von Mussorgskys „Lieder und Tänze des Todes“, dessen Kürze Schostakowitsch bedauerte. Unter der achtsamen Führung des noblen Franz Welser-Möst musizierten die vom pfiffigen Xylophon über die dumpfe Kontrabass-Auslese bis zum schwarzen Holz famosen Kammerinstrumentalisten den Beweis für Schostakowitschs anti-christlichen Glaubenssatz „Der Tod ist kein Anfang“. Er sei „das absolute Ende. Es wird nichts weiter geben. Nichts.“ So der Komponist in seinen Memoiren.
Von dem „Dies irae“-ähnlichen liturgischen Gesang „De profundis“ von Federico Garcia Lorca“ waren, bis das zerrüttende, oft ins Groteske abdriftende Stück, 50 Jahre alt, seinen durch R. M. Rilkes Zeilen „Der Tod ist groß./ Wir sind die Seinen / lachenden Munds …“ unvermuteten Schlussstrich erhielt, waren zwei der bedeutendsten Gesangsinterpreten zu bewundern: Asmik Grigorian und Matthias Goerne. Sie pflügten sich, souverän, brennend, jedoch ohne Effekthascherei die traumhaft klar gestaltende Sopranistin, der stark auf Dirigent, Noten und Inhalt konzentrierte, abgründig schwarzfärbende Bassbariton, mit Bravour durch den russischen Text. Den zu selber zu übersetzen oblag dem gebeutelten Zuhörer. Ohne Programmheft-Vorlage wäre er verlassen gewesen, vielleicht gar „in Todesnoth“. – „Wen Sie könen bitte helfen Sie mir …“
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Dmitri Schostakowitschs Grabmal auf dem Friedhof von Moskau, wo der 69-Jährige nach überstandener schwerer Krankheit die letzte Ruhe fand.
Foto: Hans Gärtner